Wochenabschnitt Korach – Frühe Erkenntnis der Wahrheit

Datum: | Autor: Rav Chaim Grünfeld | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Wahrheit

Einst kam der Löwe zum Fuchs und wollte ihn fressen.

Da sprach der listige Fuchs: „Von mir wirst du nicht satt. Ich sehe jedoch nicht weit von hier einen fetten Menschen sitzen. Wenn du diesen frisst, wirst du sicher satt werden“. Tatsächlich saß unweit der beiden ein Jäger hinter einer mit Zweigen und Gebüsch getarnten Falle.

Der Löwe aber entgegnete: „Ich fürchte mich vor der Tefila (Gebet) dieses Mannes, der sich vor mir fürchtet. Sie wird bewirken, dass ich keinen Erfolg haben werde!“ – „Nein, nein“, beruhigte ihn der Fuchs, „sein Gebet kann dir nichts anhaben. Nicht dir und nicht deinem Sohn, höchstens deinem Enkel. Aber inzwischen kannst du dich satt essen und bis zu deinem Enkel bleibt dir noch viel Zeit“. Der Löwe ließ sich überreden und sprang auf den Jäger zu, fiel aber in dessen Falle. Der Fuchs atmete auf, kam vorsichtig zum Loch und blickte hinunter.

„Du Lügner“, rief der gefangene Löwe, „hattest du mir nicht gesagt, dass die Strafe nicht mich, sondern meinen Enkel erreichen werde?“ – Der Fuchs lachte verschmitzt und erklärte: „Dies stimmt auch. Auch dich erreichte die Strafe deiner Vorfahren!“ – „Wo ist da die Gerechtigkeit“, rief der Löwe erregt, „die Väter sündigen und die Kinder sollen leiden?“

Da tadelte ihn der Fuchs und meinte: „Weshalb hast du nicht vorher so gedacht…?“

Dieses Gleichnis zitiert Raw Hai Gaon sZl. in seinen halachischen Teschuwot[1] (Responsen) und meint dazu: „Wieviel ‘Mussar‘ (Moral) liegt doch in diesem Gleichnis!“

„Wie kommt es“, wundert sich der berühmte Maschgiach Raw Elijahu Elieser Dessler sZl., „dass der grosse Gaon in seinem halachischen Werk eine Tierfabel erwähnt?“ Die Geschichte muss demnach eine äußerst wichtige Botschaft enthalten, aber welche?

In der dieswöchigen Parscha gibt uns Korach und seine Anhänger ein großes Rätsel auf:

Wie konnte sich der kluge Korach[2], der zu den größten Männern seiner Generation gehörte, in einer so einfachen, offensichtlichen und klaren Sache irren? Wie konnten Dassan und Awiram über ihre Rettung aus Mizrajim behaupten, dass Mosche Rabenu sie aus einem Land, in dem „Milch und Honig geflossen waren“, geführt und stattdessen in eine todbringende Wüste gebracht hätte?[3]

Und noch seltsamer ist, wie die dort anwesenden 250 ‘Rosche Sanhedrin‘ (Vorsitzenden der Gerichte) aus dem Stamm Re‘uwen[4] diesen Vorwürfe zustimmten. Hatten sie in so kurzer Zeit die Wahrheit vergessen, wie sie selbst in Mizrajim versklavt waren, körperliche Schwerstarbeit verrichteten und mit ansehen mussten, wie ihre Kinder getötet oder eingemauert wurden? Die grössten Männer, die „Gedole haDor“, behaupteten einen solchen Unsinn und folgten diesen Behauptungen mit solcher Sicherheit und Bestimmtheit, als ob sie wirklich an deren Wahrheit glaubten?

Solche Fragen kann man aber in jeder Generation stellen.

Immer wieder sehen wir, wie gebildete Menschen verblendet gewisse Ziele und Interessen mit gewaltiger Intensität verfolgen, obwohl deren Sinnlosigkeit auf der Hand liegt. Wissenschaftler und Professoren bestreiten die Worte der Torah und die Werte unserer ‚Emuna‘ (Glaubens) mit aus der Luft gegriffenen, phantasievollen Ansichten, und verteidigen ihre unsinnigen Ansichten mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit. „Warst du damals anwesend, als Ich die Welt erschuf?“ fragte Hkb“H den Ijow[5]. Meint der irdische, begrenzte Mensch tatsächlich, dass er Regeln und Methoden feststellen kann, sie als physische und mechanische Gesetze bezeichnen und so G‘ttes Walten und Schaffen hundertprozentig erklären und ableiten kann?

Wenn der Mensch von „Gelüsten“ (Ta’awot) besessen ist und sie Macht über ihn ergreifen, so sieht er nichts anderes mehr als Wege zur Erreichung und Befriedigung seiner Gelüste, Wünsche und Triebe. Er benützt seinen gesamten Einfluss, Macht, Wissen und Können, um dieses Ziel zu erreichen. Er verschließt sich vor jeglicher Kritik und rechtfertigt sich so lange, bis die anderen der Sache müde werden und aufgeben, so dass ihm schließlich nichts mehr im Weg steht[6].

So wurde auch Korach Opfer seines Stolzes.

Er sah die einfache, vor den Augen aller liegende Wahrheit nicht mehr und verdrehte die Tatsachen so lange, bis sie mit seinen Ansichten und Interessen übereinstimmten. Damit riss er aber auch andere ins Verderben, die sich von seinem Charisma und Überredungskünsten mitreissen liessen. Es erging ihnen später wie dem Löwen, der nur seinen Hunger sah und die Wahrheit erst im Augenblick seines Sturzes erkannte. Auch sie riefen erst während ihres Sturzes in den tiefen Abgrund: „Mosche Emet weTorato Emet!“[7](„Mosche und seine Lehre sind wahr!“) Doch diese Erkenntnis kam zu spät!

Nicht umsonst bat Dawid haMelech (Tehilim 119, 18-21): „Öffne meine Augen, sodass ich Wunder in Deiner Torah sehe… Zurückgewiesen hast Du fluchwürdige, bewusste Sünder, die geistig abirrten von Deinen Geboten“. Der Passuk erscheint als offener Widerspruch.

Die Rede ist von זֵדִים, also absichtlichen Sündern, und zugleich von שׁוֹגִים die ohne Absicht von den Geboten abirren?

Raw S.R. Hirsch sZl. kommentierte diese Bitte so, dass hier die Rede von solchen Menschen ist, die durch eine Voreingenommenheit des Geistes, also von einem durch eine gewisse Gedankenrichtung entstandenen theoretischen Irrtum zum Abfall vom Gesetz kamen. Sie ließen sich durch die Propaganda ihrer Zeitgenossen überreden und übertraten dann mit voller Absicht das g’ttliche Gesetz. Nicht ihr praktischer Abfall vom Gesetz ist das Verderblichste, sondern ihre falschen Auffassungen über das Wort G’ttes und ihre Irrlehren, zu denen sie sich verführen ließen und mit denen sie nun ihre Missetaten zu rechtfertigen versuchten![8] Deshalb bat Dawid haMelech, dass Haschem ihm die Augen öffne und er stets nur die Wahrheit der Torah sehen würde.

  1. Tschuwot Raw Hai Gaon 13
  2. Raschi 16,7 gemäss Midrasch Tanchuma (-Buber) 12 und 5, ebenso Midrasch Bamidbar Rabba 18,3
  3. Bamidbar 16,13
  4. 16,2 gemäss Raschi 16,1
  5. Ijow 38,4
  6. Gemäss Michtav me’Elijahu Bd4/S. 305 (Brief 2)
  7. Gemäss Targum JbU zu 16,33 und Midrasch Tanchuma (-Buber, Hosafa 4 ). [Siehe ferner Midrasch Tanchuma 11 (-Buber, 27) und Baba Batra 74a und Sanhedrin 110a]
  8. Gemäss Kommentar von Raw Hirsch zu Tehilim

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