Du sollst bleiben a Jid – Meine Eltern

Datum: | Autor: Rav Itzchak Silber | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Mein Großvater

Erinnerungen von Raw Jitzchak Silber SZ”L

Mit Genehmigung seines Sohnes Raw Benzion Silber schlito

Wir setzten die Publikation der Auszüge aus dem Buch der Erinnerungen von Raw Jitzchak Silber SZ”L fort. Raw Jitzchak Silber ist eine herausragende Gestalt der letzten Generation, dem es nicht nur gelungen ist, während der Sowjetzeit nichts von seiner Einhaltung von Tora und Mitzwot aufzugeben, sondern auch wörtlich Tausende Talmidim aufzustellen.

Fortsetzung

Reb Itzele war in zweiter Ehe mit Chava, der Tochter von Raw Josele Kreslaver, der ein sehr weiser Mensch und Kabbalist war, verheiratet. In erster Ehe hatte er mehrere Töchter und einen Sohn, Raw David und in zweiter Ehe – drei Töchter und einen Sohn, der 1885 geboren wurde, als der Großvater bereits sechzig Jahre alt war. Und mein Vater ist eben der jüngste Sohn von Reb Jitzele.

Der Großvater Reb Jitzele war der erste Lehrer meines Vaters. Danach lernte der Vater in der Jeschiwa „Slobodka“ und bei seinem Großvater mütterlicherseits, Raw Josele Kreslaver. Reb Jitzele starb 1900 mit fünfundsiebzig Jahren.

Über den letzten Tag von Reb Jitzele erzählte ein Jid aus Režice meinem Vater. Der Rebbe war krank geworden, er wurde in Warschau behandelt, aber ohne Erfolg. Er war mit einem Kurierzug auf dem Weg nach Hause aus Warschau. Und obwohl solch ein Kurierzug schnell fuhr, wiederholte Reb Jitzele unterwegs immer wieder „Gicher! Gicher! Gicher!“ („Schneller!“ auf Jiddisch). Der Zug fuhr tatsächlich früher als sonst in den Bahnhof ein. Man schaffte es noch den Rebben nach Hause zu bringen und er verstarb in seinem Bett.

Die Eltern

Meine Mutter Lea-Gitl wurde in Litauen in der Stadt Rogov (heute Raguva) in der Region Panevėžys geboren. Ihr Vater Raw Mojsche-Mischl-Schmuel Schapiro war ein Mensch von großer Gelehrsamkeit und Verfasser vieler Bücher. Meine Eltern heirateten am 2. Tammuz 1914. Das Hochzeitspaar bekam Gratulationskarten von vielen großen Rabbonim der damaligen Zeit, darunter von Raw Meir-Simcha und wenn ich mich nicht irre, auch vom Chofetz Chaim. Nach der Heirat unterrichtete mein Vater in der Zweigstelle der Jeschiwa „Slobodka“ in Režice.

Es begann der erste Weltkrieg. Um dem Dienst in der zaristischen Armee zu entgehen, wechselte der Vater den Familiennamen Zijuni zu Silber.

(Nach meiner Übersiedlung nach Israel wollte ich wieder den Namen Zijuni annehmen, dachte dann aber, dass die Menschen in Russland mich als Silber kennen und mich unter dem anderen Namen nicht mehr werden finden können. Also behielt ich den Familiennamen Silber).

Während seines Lebens in Režice pflegte der Vater engen Kontakt zum großen Raw Meir-Simcha a Kohen, dem Rabbiner der Stadt Dvinsk (Daugavpils), dem Verfasser der Bücher „Meschech Chochma“ und „Or Sameach“. Er nannte meinen Vater auf Jiddisch „mein Kind“.

Gleich am Anfang des Krieges kamen die beiden für kurze Zeit zusammen, ich denke in Režice, aber genau weiß ich es nicht. Da kam auch mein Großvater Raw Shapiro hinzu. Das Morgengebet war zu Ende, die Synagoge wurde leer und sie saßen zu dritt – der Verfasser von „Or Sameach“ (so nannte man ihn auch, „Or Sameach“, nach dem Titel seines Buches), mein Großvater Raw Mojsche-Mischl-Schmuel und mein Vater und lernten Tora von morgens bis zum Mittag, sie vergaßen dabei ganz zu essen.

Genauso tat mein Vater es später in Kasan, wenn er sich sofort nach dem Morgengebet hinsetzte, um zu lernen.

Raw Meir-Simcha aus Dvinsk

Den Namen von Raw Meir-Simcha hörte ich im Hause meines Vaters bereits von Kindesbeinen an. Aber die Geschichte, die ich jetzt erzählen möchte, erzählte mir ein Augenzeuge, mein Nachbar David Kil, bereits hier, in Eretz Israel. Später las ich diese Geschichte im Buch „Sicherheit und Demokratie“, das Isser Harel, der ehemalige Chef des Mossad (israelische Spionageabwehr) geschrieben hat. Also gab es mindestens noch zwei lebende Augenzeugen dieses Ereignisses.

In den Tagen, über die die Rede ist, war Harel noch ein Jugendlicher.

Er schreibt:

„In jenem Jahr hat es sich so zugetragen, dass die Schnee-und Eisschmelze im Oberlauf der Dvina unerwartet und früher als sonst eingesetzt hatte, während es von Dvinsk stromaufwärts und weiter bis zur Rigaer Bucht noch sehr kalt war. Das Wasser, das sich infolge der Schneeschmelze angesammelt hatte, strömte in die Rigaer Bucht und traf auf seinem Weg unerwartet auf eine mächtige Eisbarriere… Das Wasser stieg rasant.

Der tobende Fluss und riesige Eisklumpen richteten furchtbaren Schaden an. Viele Dörfer am Flussufer wurden durch diese Flut weggeschwemmt und die Brücken über die Dvina bis auf den Grund zerstört. Das tobende Wasser machte sich daran, den Flutdamm zu stürmen, der Dvinsk umgab und schützte. Über der Stadt schwebte der Schatten der Zerstörung…

Am Schabbatmorgen war die Lage bedrohlich geworden. Jede Minute konnte das Wasser entweder über die Ufer treten oder den Damm durchbrechen. Mein Vater wusste nicht, was er tun sollte: bei seiner Familie bleiben in solch einem gefährlichen Moment oder in die Synagoge zum Morgengebet gehen, um sich mit seiner Stimme der Stimme der ganzen Gemeinde anzuschliessen. Schließlich ging er mit voller Entschlossenheit in die Synagoge. Ich schloss mich ihm an. Beim Höhepunkt des Gebets, das so bewegt war, wie sonst nie und immer wieder von verzweifelten Schreien unterbrochen wurde, platzten schreiend Juden mit einer schrecklichen Nachricht in die Synagoge herein – es fehlt nicht mehr viel und die Stadt wird vernichtet!

Raw Meir-Simcha, in seinen Tallit gehüllt, erhob sich von seinem Platz und ging in Richtung Flutdamm. Die ganze Gemeinde folgte ihm nach, in ihrer Schabbatbekleidung. Der Raw stieg den Damm hinauf und begann für die Errettung der Stadt zu beten. Und plötzlich, im selben Moment, als der Raw ins Gebet vertieft da stand, platzte das Eis, die Eisschollen regten sich, krachten… und bewegten sich in Richtung des Flussunterlaufs! Das Wasser fing vor den Augen der Menschen an zu fallen!..

Alle Stadtbewohner, auch die Christen und die eingefleischten Antisemiten unter ihnen, zweifelten keine Sekunde daran, dass das Wunder ihrer Rettung dem gerechten Raw zu verdanken war. Der Raw selbst sah sich natürlich nicht als heiligen Wundertäter.

Er …bat einfach G-tt um Barmherzigkeit!“

Das von David Kil Erzählte entspricht haargenau dieser Beschreibung. Kil fügte noch hinzu, dass die städtischen Behörden alle nur möglichen Menschen um Hilfe gerufen hatten. In der Stadt waren ununterbrochen christliche Bittgottesdienste abgehalten worden. Das Wasser war immer wieder angestiegen und keiner konnte es aufhalten. Dann wandten sich die lettischen Behörden offiziell an den berühmten Rabbiner Or Sameach. Er ging mit einem Tehillimbuch (Psalmen) zum Fluss, betete und das Hochwasser legte sich. Das war ein unglaublicher Kiddusch Ha Schem (Heiligung des G-ttlichen Namens)!

Als die Sowjetmacht nach Lettland kam, verhaftete man den Raw und wollte ihn allein aus dem Grunde hinrichten lassen, weil er eine große Tora-Persönlichkeit war. Die Zeitungen teilten eilig mit, dass der Rabbi erschossen worden war. Aber die Nachricht erwies sich als Lüge: es war gelungen zu beweisen, dass der Raw letztendlich den Armen und ins Elend Gestürzten viel näher stand, als den „Bourgeoisen“.

1926 starb Or Sameach. Die sowjetische Zeitung „Izwestija“ veröffentlichte die Meldung „Berühmter Rabbiner verstorben..“. Das ist der einzige Fall, der mir bekannt ist, in dem die sowjetische Presse den Tod einer religiösen Autorität erwähnt hat.

Raw Meir-Simcha verstarb lange bevor das Unglück die Juden Deutschlands heimsuchte. Und die Arbeit an seinem Buch „Meschech Chochma“ (er gab es erst am Ende seines Lebens in Druck) hatte er in früher Jugend begonnen, als die deutschen Juden in ungewöhnlichem Erfolg und Wohlstand lebten.

Im 19. Jahrhundert, das das Zeitalter der Emanzipation einläutete, waren die Juden in den europäischen Ländern sicher gewesen, dass die Zeit der Freiheit und der Gleichberechtigung gekommen war. In Deutschland fing die Zeit des Reformismus an.

Die Juden, die an gar nichts glaubten und dennoch ihren nationalen Titel beibehalten wollten, brachten die Reform der Jiddischkeit ins Gespräch. „Wir wollen Juden sein,- erklärten sie,- aber wir halten es für nötig unsere Gesetze zu modernisieren und etwas daran zu ändern. Man kann durchaus Jude bleiben, auch wenn man trejf isst und am Schabbat fährt.“ Heute, wo wir über die bekannten historischen Erfahrungen verfügen, wissen wir, dass die Nachfolge des Reformismus höchstens zwei oder drei Generationen währt. In der Regel werden Reformisten ihrem Glauben untreu. Ich sprach im Buch „Das Feuer wird dich nicht verbrennen“ (Jerusalem, 1984) hierüber:

In….der Epoche der Blüte der deutschen humanistischen Philosophie begannen sich die Juden vor dem „kultivierten“ Deutschland zu verneigen…Die Reformisten bauten für sich Synagogen nach dem Muster deutscher Kirchen, fingen an unter Orgelbegleitung zu beten und schlossen in den Gottesdienst den Gesang des Frauenchors ein… Die „fortschrittlichsten“ unter den Reformisten übertrugen den von der Tora gebotenen Ruhetag vom Samstag auf den Sonntag und strichen aus dem Gebet die Worte „…und bringe uns nach Zion, deiner Stadt, mit Gesang nach Jerusalem, zum Ort Deines Tempels mit ewiger Freude“, denn sie rüsteten sich mit einer neuen Ethik aus, die die Ideologen dieser Bewegung verkündet hatten: „Man darf nicht heucheln, wenn man sich an den Allmächtigen wendet. Wir sind Ihm dafür dankbar, dass wir das Glück haben, in einem kultivierten, aufgeklärten Deutschland zu leben und nicht im düsteren, zurück gebliebenen Asien. Werden wir etwa um eine Rückkehr bitten?!“ Ausgerechnet in Deutschland begann der Prozess der Massenassimilation der Juden, ausgerechnet dort wurde die freiwillige Taufe zu einer gewöhnlichen Erscheinung und ausgerechnet von dort aus verbreitete sich in ganz Europa, Polen und Russland die nationale Katastrophe des

19. und 20. Jahrhunderts – nämlich die Abkehr der Juden von der Tora. Wie zu erwarten war, wurde ausgerechnet Deutschland zum Werkzeug der Vergeltung, das der Allmächtige auserwählte, um sein lasterhaftes Volk zum wiederholten Male zu bestrafen“.

Lange bevor sich diese Ereignisse in der Geschichte verwirklichten, sagte Raw Meir-Simcha, indem er im Buch „Meschech Chochma“ den Wochenabschnitt der Tora „Bechukotaj“ kommentierte, in dem die Rede von Vertreibung und Zerstreuung ist, erstaunliche, prophetische Worte:

„Bereits seit mehr als Tausend Jahren verbleiben die Juden im Exil. Das ist eine lange Zeit, aber der Mensch trachtet immer nach etwas Neuem. Es werden irrtümliche Gedanken aufkommen, die das werden zu kritisieren anfangen, was unsere Väter uns als Erbe mitgegeben haben… Noch ein bisschen und man wird sagen: „Lüge ist das, was unsere Väter uns mitgegeben haben“. Die Juden werden ihre Abstammung vergessen… die Lehre ihres Glaubens verlassen, sie fangen an fremde Sprachen zu lernen und werden Berlin für Jerusalem halten. Der Jude wird vergessen, dass er ein Ankömmling in einem fremden Land ist und fängt an, es seine Heimat zu nennen. Und er wird bei den Völkern Schlechtes lernen. Freue dich aber nicht, Jude, an der Freude anderer Völker. Es wird unerwartet ein schrecklicher Sturm hereintoben und wird mit einer donnernden Stimme in Erinnerung rufen: „Du bist jüdisch! Wer hat aus dir einen Menschen gemacht? Geh weg von hier!“ Er wird ihn mit seiner Wurzel herausreissen, weit wegschleudern und man gibt ihm zu verstehen, dass er fremd ist und seine richtige Sprache Laschon A Kodesch („die heilige Sprache“ auf Hebräisch – I.Z.) ist, die fremden Sprachen jedoch – wie Kleidung sind. Dass er nicht vergesse, dass er von Juden abstammt. Und es werden ihm nur die Worte der Propheten G-ttes zum Trost sein, dass der Allmächtige den Maschiach schicke, und dass er wird kommen und retten….“

Das wurde vermutlich Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben, vielleicht Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Verfasser dieser Worte verstarb sieben Jahre vor Hitlers Machtergreifung! Er lebte in Lettland aber er schreibt über Berlin! Ich verstehe nicht, wie er in Zeiten des Wohlstands über den schrecklichen Sturm schreiben konnte! Er war ein heiliger Mensch, da kann man nichts mehr hinzufügen.

Fortsetzung folgt ijH

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