Chasal haben die Parschijot der Torah so eingeteilt, dass „Parschat Nizawim“ stets vor Rosch haSchana geleint[1] wird. Entweder wird sie – wie in diesem Jahr – separat geleint, falls Rosch haSchana auf den zweiten oder dritten Tag der Woche fällt, oder zusammen mit „Parschat Wajelech“. Stattdessen leinte man in diesem Jahr die Parschijot “Matot und Mass’ej” zusammen.
Raw Nissim Gaon sZl. wundert sich darüber und fragt:
„Wieso teilen wir nicht die Parschijot Matot und Mass’ej – die sehr gross sind – und leinen nicht stattdessen Nizawim und Wajelech zusammen?“ Er antwortet: „Damit die in der Parschat Nizawim erwähnten ‘Klallot’ (Flüche) noch vor Rosch haSchana geleint werden[2].
Genauso hat es nämlich Esra haSofer bezüglich des Leinens der „Tochacha“ (Strafreden) in “Parschat Ki Tawo” verordnet, die unbedingt vor dem neuen Jahresanfang geleint wird, damit: „Tichle Schana weKilelateha“ – „Das Jahr mit seinen Flüchen und Nöten ende!“[3]
Es ist jedoch unverständlich, was genau mit dem Leinen aller ‘Klallot’ vor Rosch haSchana bezweckt wird? Können diese Strafen etwa einfach durch das Vorlesen in der Torah aufgehalten werden?
Am 7. Adar, am Tag seines Ablebens, beginnt Mosche Rabejnu seine letzte Rede zum Klall Jisrael mit „Atem Nizawim haJom kulchem lifne Haschem Elokechem“ – „Ihr steht heute alle vor Haschem“[4] (29,9).
Der treueste Hirte, den die Bne Jisrael jemals besaßen – Mosche Rabejnu – vernachlässigte niemals seine Pflichten. Selbst in den letzten Stunden seines Lebens dachte er nicht an sich, sondern übte sein Amt mit liebevoller Hingabe bis zur letzten Minute aus. Diese letzte Rede verdient daher besondere Aufmerksamkeit: Hier geht es eindeutig nicht nur um eine letzte “Mussar-Drascha” (Moralpredigt), vielmehr wollte Mosche Jisrael noch eine äußerst wichtige Sache ans Herz legen; Dies geht bereits aus der ungewöhnlichen Einleitung seiner Rede hervor, worin er eigens jede Person anspricht: „Eure Stammeshäupter, Ältesten, Beamten, jedermann, eure Kinder, Frauen… von deinem Holzhacker bis zu deinem Wasserschöpfer”.
In den Sefarim haKedoschim wird diese Einleitung bekanntlich als Andeutung auf Rosch haSchana gedeutet, den Tag des Gerichts, an dem alle Menschen vor G’tt stehen. Der Zusammenhang zu Rosch haSchana ist zwar zeitlich passend, dennoch ist unklar, was genau die am 7. Adar gesprochene Drascha mit Rosch haSchana verbindet? Auch muss erklärt werden, weshalb speziell die Berufe der Holzhacker und Wasserschöpfer erwähnt werden?
Der Ba’al haTurim bringt das Wort „Nizawim“ in Verbindung zu “Matan Torah”, bei der ebenfalls der Begriff von „Nizawim/stehen“ verwendet wird (Schmot 19,17): „waJisjazwu beSachtit haHar“ – „Sie stellten sich unten am Berg auf“.
Mosche Rabejnu lehrt uns hier, dass wir uns dem Gericht am Rosch haSchana nur im Sechut (Verdienst) des Torah-Lernens und der Erfüllung ihrer Mizwot nähern können.
In diesem Sinne gibt der erste Gerer Rebbe sZl. und Verfasser des Chidusche haRim auch die Fortsetzung des Passuks zu verstehen: „Roschechem, Schiwtechem… kol Isch Jisrael… – eure Oberhäupter, eure Stämme… jedermann aus Jisrael“. Wie wird es euch allen möglich sein, vor dem G’ttlichen Gericht stehen zu können? „meChotew Ezecha ad Schoew Mejmecha“ – „von deinem Holzhacker bis zu deinem Wasserschöpfer“. Im Sechut derjenigen, die ihre Ezot (Ratschläge) aus der mit einem Baum (Ez) verglichenen Torah entnehmen und die das Wasser der Torah schöpfen.
Durch das Hüten der Torah kann der ganze Klall Jisrael zu Haschem zurückkehren, so wie Hkb“H sich bei der Zerstörung des Bet haMikdasch beklagte: „Hätten sie doch nur Mich verlassen und die Torah weiterhin gehütet“[5]. Diese Aussage wird von manchen so erklärt: „Hätten sie sich nur gegen Haschem versündigt, jedoch weiterhin Torah gelernt, so wären sie wieder durch die Kraft der Torah zu Hkb“H zurückgekehrt, weil man durch die Torah direkt mit Haschem verbunden ist. Denn wie es uns im Sohar haHadosch gelehrt wird, enthält jedes Wort der Torah enthält einen der zahlreichen Namen von Hkb“H[6].
Dies dürfte auch den Zusammenhang der von Mosche Rabenu am 7. Adar gehaltene Rede mit Rosch haSchana erklären:
Am 7. Adar warf nämlich “Haman haRascha” (Frevler) das Los gegen das jüdische Volk, denen er jedoch nichts anhaben konnte, weil sie Teschuwa machten, indem sie – „Kimu weKiblu“ (Esther 9,27) – nochmals die Torah auf sich nahmen[7].
Der treue Hirte Mosche, der uns die Torah vom Berg Sinai herunter brachte, wollte es nicht versäumen, uns noch einmal die Wichtigkeit der Beachtung der Torah einzuschärfen. Durch sie kann Jisrael zu jeder Zeit jeglicher Not entgehen, und sich auch am „Jom haDin“ (Tag des [himmlischen] Gerichts) ein gutes und süßes Jahr erbitten.
Dies dürfte auch der Sinn der Anordnung von Chasal gewesen sein, alle ‘Klallot’ der Parschot Ki Tawo und Nizawim unbedingt vor Rosch haSchana zu leinen, um uns auf diese wichtige Lehre von „Tichle Schana weKilelateha“ aufmerksam zu machen: Durch das ständige Lernen und Beachten der Torah, haben wir eine Chance, für uns am Rosch haSchana ein gnädiges Urteil zu erbitten. Denn selbst wenn man sich während des Jahres durch verschiedene Verfehlungen vor Haschem schuldig machte, solange man aber mit der Torah eng verbunden bleibt, hilft einem diese zu „Tachel Schana uBirchateha“ – zum Beginn eines gesegneten Jahres. Denn durch die Torah bleibt indirekt weiterhin mit G’tt verbunden, sogar wenn man sich durch gewisse Verfehlungen, chalila, von Ihm entfernt hat. – תכלה שנה וקללותיה, תחל שנה וברכותיה
- Leinen = öffentliches Vortragen aus der Torarolle ↑
- Tosfot zu Baba Batra 88b ↑
- Megila 31b ↑
- Raschi zur Stelle ↑
- Jeruschalmi Chagiga 1,7 ↑
- Sohar Bd3/S.298b u.a. ↑
-
Schabbat 88a ↑