Der Tefillokaddisch
Es dürfte wohl allgemein interessieren, woher das Kaddisch-Gebet kommt. Wer ist sein Verfasser, was ist seine Bedeutung und weshalb sollen es die Trauernden vortragen?
Das Kaddisch-Gebet wird zuerst, wenn auch nicht direkt, im Talmud erwähnt. So lautet eine Stelle im Traktat Brachot 3:
”Wenn sich die Söhne Jisraels in den Bethäusern versammeln und das „Jehe Schme Rabba“ sprechen, erwidert der Allmächtige: „Heil dem König, dem solches Lob gesprochen wird. Wehe dem Vater, dessen Söhne von seinem Tische verbannt sind.“
Weiterhin wird das Gebet im selben Traktat[1] vermerkt. Im Traktat Sota 49 stellt Rawa fest:
„Die Welt verdankt ihre Existenz nur der Heiligkeit der Tefilla und des Kaddisch-Gebetes nach dem Lernen.“
Im Traktat Schabbat 119 sagt Rabbi Joschua ben Levi, wer das Lob „Jehe Schme Rabbo“ in Antwort auf das Kaddisch-Gebet mit ganzer Kraft ausspricht, “קוֹרְעִין לוֹ גְּזַר דִּינוֹ”, der wird von einer eventuell gegen ihn bereits verhängten Strafe befreit.
Auch im Traktat Sukka 39 wird das Kaddisch-Gebet erwähnt.
Im Traktat Megilla 23 sagt die Mischna אֵין פּוֹרְסִין אֶת שְׁמַע פָּחוֹת מֵעֲשָׂרָה Raschi und Ran verstehen darunter das Kaddischgebet, das immer dann nochmals gesprochen wird, wenn jemand zu spät in die Synagoge kommt.
Trotz diesen erstmaligen Erwähnungen im Talmud reicht der Ursprung des Kaddisch-Gebetes noch viel früher zurück.
So erzählt der Talmud[2]: „Jakow versammelte seine Söhne vor seinem Tode um sich und wollte ihnen das Ende der Galutnacht vertrauen, als ihn der prophetische Geist plötzlich verließ und er es nicht mehr aussprechen konnte.”[3]
Jakow war nun sehr bestürzt über dieses Ereignis und befürchtete, daß eine Erschütterung im Glauben seiner Kinder eingetreten sei[4] worauf die Kinder einmütig und mit größter Innigkeit das „Schma Jisrael‘“ ausriefen und damit ihre unverbrüchliche Treue und Ergebenheit zu G-tt bekundeten.
Jakow war glücklich, eine solche feierliche Huldigung G-ttes und einen derartigen Kiddusch Haschem von seinen Söhnen zu hören, er geriet dann selbst in Begeisterung und stimmte mit an in das Lob von Haschem:
בָּרוּךְ שֵׁם כְּבוֹד מַלְכוּתוֹ לְעוֹלָם וָעֶד
“Gesegnet ist der Name der Ehre Seines Königreiches für immer und ewig”
Dazu bemerkt der Talmud, daß wir diesen Lobspruch, den bereits Jakow sprach, ebenfalls im Anschluß an das „Schema Jisrael“ sprechen sollen, aber nur leise, da Mosche in der Tora diesen Lobspruch anläßlich seiner Verkündung des „Schema Jisrael“[5] nicht erwähnte.
Der Targum Jeruschalmi zitiert in seinem Kommentar zum „Schema Jisrael“ obigen Ausspruch Jakows, der in aramäischer Sprache lautet:
יְהֵא שְׁמֵיהּ רַבָּה מְבָרַךְ לְעָלַם.
Dieser Text entspricht also genau dem unseres Kaddisch-Textes, wie ihn der Talmud Brachot erwähnte.
Demnach geht der Ursprung des Kaddisch-Gebetes bereits auf Jakow zurück.
Die Annahme des Talmuds[6], daß Mosche diesen Spruch nicht kannte, wird aber von zwei anderen Talmudstellen widerlegt.[7] Der Maharscha erklärt, daß, ähnlich wie beim Hohen Priester, als dieser das „Schema Jisrael‘“ sagte, die Zuhörer erwiderten: בָּרוּךְ שֵׁם כְּבוֹד מַלְכוּתוֹ (“Gesegnet ist der Name der Ehre Seines Königreiches für immer und ewig”). Auch müsse Jisrael jeweils beim Aussprechen des „Schema Jisrael“ gleichzeitig das ברוך שם כבוד מלכותו nachsprechen, und dies wurde von Mosche gefordert.
Der Sifri behauptet ebenfalls in seinem Torakommentar zum obigen Vers der Tora כִּי שֵׁם ד‘ אֶקְרָא[8], daß Mosche Jisrael geboten hat, das “בָּרוּךְ שֵׁם כְּבוֹד מַלְכוּתוֹ„ im Anschluß an das „Schema Jisrael“ zu sprechen. Da sich dieser Text nach dem Targum Jeruschalmi mit dem Spruch des „Jehe Schme Rabbo“ des Kaddischgebetes deckt, ist ja der Beweis erbracht, daß der Hauptspruch des Kaddischgebetes, der durch Jakow verfaßt, von Mosche bestätigt wurde.
Hier handelt es sich allerdings nur um den Hauptspruch des Kaddisch, des ‚„Jehe Schme Rabbo“.
Den vollen Text des Kaddischgebetes finden wir aber im Talmud nicht, auch wird obiger Spruch von „Jehe Scheme Rabba“ im Talmud nicht direkt als „Kaddisch“ benannt.
Dagegen finden wir im Traktat Sofrim, Kap. 10, einige Stellen, in denen vom Kaddisch die Rede ist. So lautet z. B. eine Stelle אֵין אוֹמְרִים קַדִּישׁ פָּחוֹת מֵעֲשָׂרָה (Man sagt kein Kaddisch, wenn nicht mindestens 10 Männer anwesend sind).
Demnach mußte das Kaddischgebet in der Talmudzeit bereits bestanden haben.
Der Awejlimkaddisch am Grab
Daß das Kaddisch von den Awejlim (Trauernden nach einem verstorbenen nahen Verwandten) gesprochen wurde, sowie den genauen Text desselben finden wir erst in der Gaomimzeit nach dem Abschluß des Talmuds. Wir finden ihn bei Raw Amrom Gaon, der den langen Kaddisch im Anschluß an eine Beerdigung formulierte. Ferner zitiert der Tur Schulchan Aruch den Raw Chai Gaon[9], תִּנוֹק שֶׁעָבְרוּ עָלָיו שְׁלוֹשִׁים יוֹם אוֹמְרִים עָלָיו צִדּוּק הַדִּין וְקַדִּישׁ (Auf ein Neugeborenes, welches nach 30 Lebenstagen, gestorben ist, sagt man Kaddisch und Ziduk Hadin). Ebenso finden wir ihn im Tur Schulchan Aruch[10], wo er den Ramban zitiert.
Rambam bringt den ganzen Kaddisch-Text in Hilchoth Tefilla und setzt dort die Formel וַיַּצְמַח פֻּורְקָנֵיהּ וִקָרֵב מְשִׁיחֵיהּ hinzu. Zur Zeit des Rambam wurde er selbst in den Text des Kaddisch eingefügt, so daß dieser lautete:
בְּחַיֵּיכוֹן וּבְיוֹמֵכוֹן וּבְחַיֵּי רַבֵּנוּ מֹשֶׁה בֶּן מְיַימָּן
Der Rosch zitiert am Schluß des Traktates Moed Katan den Awejlim Kaddisch anläßlich einer Bestattung im Namen von Raschi, der sagt, diesen auch am Chol Hamoed sagen zu dürfen.
שֶׁאֵין זֶה הֶסְפֵּד אֶלָּא קַבָּלַת עוֹל מַלְכוּת שָׁמַיִם (weil es keine Eulogie, sondern Aufsichnehmen des Jochs des himmlischen Königreichs ist).
Wieso das Gebet „Kaddisch‘“ genannt wird, soll damit erklärt werden, daß die Tora uns zu der Mitzwa von „Kidusch Haschem“ verpflichtet, so wie der Talmud Jeruschalmi bemerkt .שביעית פ“ד
Zum Verse der Tora [11]וְנִקְדַּשְׁתִּי בְּתוֹךְ בְּנֵי יִשְׂרָאֵל (und Ich werde Mich heiligen in der Mitte der Bnej Jisrael), מִכָּאן שֶׁבְּנֵי יִשְׂרָאֵל מְצֻוִּוין עַל קִדּוּשׁ הַשֵּׁם (Man sieht von hier, dass Bnej Jisrael die Verpflichtung zur Heiligung des G-ttlichen Namen haben).
Kaddisch ist eine Abkürzung von „Kiddusch Haschem“, d. h, Verherrlichung G-ttes.
Der Rambam betont in Gesetzten von Toragrundlagen[12] im 5. Kapitel ebenfalls, daß auf Grund des Passuks in der Tora[13] jeder Jehudi dazu verpflichtet ist, einen „Kiddusch Haschem“ zu machen, wie es der Safro erklärt:
שֶׁעַל מְנָת כֵּן הוֹצֵאתִי אֶתְכֶם מֵאֶרֶץ מִצְרַיִם שֶׁתְּקַדְּשׁוּ אֶת שְׁמִי וְתִמְסְרוּ אֶת נַפְשְׁכֶם (Denn dafür habe Ich euch herausgeführt aus dem Land Mizrajim, damit ihr Meinen Namen heiligt und eure Seele dafür hergebt).
Machsor Vitri (von einem Schüler von Raschi verfaßt) meint, daß das Kaddischgebet sich auf den Vers von Nawi Jecheskel bezieht [14]וְהִתְגַּדַּלְתִּי וְהִתְקַדַּשְׁתִּי (und Ich werde erhoben und geheiligt). In diesem Kapitel verkündet der Prophet die Vernichtung der Feinde Gog und Magog, wodurch G-ttes Namen groß, verherrlicht und geheiligt wird. Wir wollen also mit dem Kaddisch unseren Wunsch bekunden, daß die große Zeit der Herrschaft G-ttes über die ganze Welt herankommen möge und wir sie erleben dürfen, die Zeit von וְהָיָה ד‘ לְמֶלֶךְ עַל כָּל הָאָרֶץ בַּיּוֹם הַהוּא יִהְיֶה ד‘ אֶחָד וּשְׁמוֹ אֶחָד (und Haschem wird zum König über der ganzen Erde; an jenem Tag wird Haschem eins und Sein Name eins).
Der Awejlimkaddisch im Trauerjahr.
Über das Kaddischgebet, das von den Awejlim während des ganzen Trauerjahres gesprochen wird, wie auch über das Vorbeten der Awejlim und über deren Pflicht des Haftorovortragens am Schabbat spricht zum ersten Male der Schulchan Aruch, Jore Dea[15]. Als Quellen führen Rema und Bet Josef den „Tana dewei Elijahu“ an, den Midrasch zu Noach, den Sohar zu Acharej Mot, den „Kolbo“ und schließlich den Talmud selbst im Traktat Kala, wo eine längere Geschichte von Rabbi Akiwa erzählt wird, der jemand begegnete, der einen sehr schweren Balken auf seinen Schultern trug.
Auf Befragen von Rabbi Akiwa erzählte er, daß er längst tot sei und zu Lebzeiten sehr schwer sündigte und daher bestraft wurde, jeden Tag Holz zu sammeln und zu einem Scheiterhaufen zusammen zu tragen, auf dem er dann täglich verbrannt wird. Auf Befragen, ob er Kinder zurückließ, gab er zögernd Auskunft, daß vor seinem Tode seine Frau ein Kind erwartet hätte. Rabbi Akiwa suchte die Frau auf, nahm das Kind zu sich, lernte es vorbeten und das Kaddisch sagen. Später traf er wieder den Vater dieses Kindes, der glückstrahlend und voller Dankbarkeit erzählte, daß seitdem sein Sohn vorbetet und das Kaddischgebet spreche, er von seinen sämtlichen Strafen befreit worden wäre und sogar nach dem Gan Eden gebracht wurde.
Daß wir in unsern täglichen Gebeten siebenmal Kaddisch sagen (dreimal im Morgengebet und je zweimal im Mincho- und Maariwgebet), stützt sich auf den Psalmsatz (Kap. 119): שֶׁבַע בַּיּוֹם הִלַּלְתִּיךָ (siebenmal täglich lobe ich Dir)
Es wird uns durch diese so ergreifende Erzählung klar, was für eine große Wohltat die Kinder gegenüber ihren Eltern begehen, wenn sie vorbeten, die Haftara vorsagen und das Kaddischgebet sprechen. Bereits der Prophet Jeschaja spricht davon, welch große Dienste die Söhne den Eltern nach dem Tode erweisen können. So heißt es dort: יַעֲקֹב פָּדָה אֶת אַבְרָהָם [16]. „Jakow erlöste Awraham. Nicht mehr soll er sich schämen und nicht mehr soll erblassen sein Angesicht, da doch seine Kinder mich verherrlichen.“
So groß ist die Kraft der Kinder, daß sie fürsprechend und erlösend für ihre Väter einspringen können.
Fortsetzung folgt ijH
- Brachot 21 ↑
- Pesochim 56 ↑
- בִּקֵּשׁ לְגַלּוֹת לָהֶם הַקֵּץ וְנִסְתַּלְּקָה מִמֶּנּוּ הַשְּׁכִינָה ↑
- שֶׁמָּא יֵשׁ פְּסוּל בְּבָנָיו ↑
- Dewarim 6 ↑
- Pesochim 56 ↑
- So heißt es im Traktat Joma 37: תַּנְיָא, „כִּי שֵׁם ד‘ אֶקְרָא הָבוּ גוֹדֶל לאלקנו“ אָמַר מֹשֶׁה לְיִשְׂרָאֵל, בְּשָׁעָה שֶׁאֲנִי מַזְכִּיר שְׁמַע יִשְׂרָאֵל אַתֶּם הַבּוֹ גּוֹדֶל לאלקנו. ↑
- Dewarim 32 ↑
- Jore Dea 344 ↑
- Hilchot Awejlus 376 ↑
- Wajikra 22 ↑
- הל‘ יסודי התורה ↑
- Wajikra Kap. 22 ↑
- Kap. 38 ↑
- Hilchot Awejlut 376 ↑
-
Kap. 29 ↑