So wie im Himmel, so auf der Erde – Teil 4 – Die Schöpfung der Welt

Datum: | Autor: Rabbi Ezriel Tauber SZl | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Welt
Rabbi Ezriel Tauber SZl – L’ilui nischmat Hamechaber

Der Schöpfer

Inhalt:

  • Die Natur der Realität
  • Die Analogie des Lichts und des Schattens
  • Das Konzept der zehn Aussprüche, mit denen die Welt erschaffen wurde
  • Die Beziehung zwischen den zehn Geboten und den zehn Aussprüchen
  • Der Gedanke des Schabbat

Realität und Illusion

Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal assimilierte Studenten über das Judentum unterrichtete, flüchteten sich diese oft in das gleiche Argument : “Nichts ist absolut.“ Da ich nie eine Universität besucht hatte, war dies eine Neuigkeit für mich.

“Existieren Sie nicht?“, fragte ich.

“Vielleicht.“

“Sind Sie aber damit einverstanden, dass Sie jetzt vor mir stehen?“

“Vielleicht. Vielleicht nicht. Nichts ist absolut.”

Es war wie wenn ich zu einer Wand gesprochen hätte. Ich wusste nicht, wie ich antworten sollte, bis mir eines Tages die folgende Antwort einfiel: “Sie müssen aber zugeben, dass Sie an eine absolute Sache glauben das Absolute, dass es nichts Absolutes gibt.“

Als ich zum ersten Mal dieser Haltung begegnete, fragte ich mich: Woher kommt dieser Unsinn? Es muss einen Grund dafür geben, dass Leute dazu neigen, so etwas zu glauben. Sogar Unsinn muss eine Ursache haben. Dann erinnerte ich mich an einen Grundsatz, der durch einen großen jüdischen Denker aufgestellt wurde, der besagt, dass es keine Behauptung in der Welt gibt, die nicht eine gewisse Wahrheit beinhaltet. Als ich die Studenten sagen hörte, dass die Welt und unsere Existenz nicht absolut sind, konnte ich schließlich eine Wurzel für diesen Gedanken in unseren mystischen Büchern finden.

Das Wahre an dieser Sache ist, dass die Welt nicht existiert, mindestens nicht so wie wir normalerweise denken.

Was ist die Welt? Sie ist nicht mehr als ein Schatten. Ein Schatten existiert nicht durch sich selbst. Er ist nichts anderes als das Ergebnis einer Behinderung des Lichts. Nimmt man das Licht weg, so gibt es keinen Schatten. Wir und unsere Welt sind nur Schatten von G-tt.

Der Filmprojektor und der Schatten

Und G-tt sagte “Es sei Licht “ und es war Licht[1]

Wie macht man einen Film? Man nimmt einen Lichtprojektor und verdeckt das Licht mit einem Filmstreifen. Wenn das Licht durch den Film dringt, erscheint ein Bild auf der Leinwand. Um einen Mann mit einem schönen dunklen Anzug oder eine Frau mit einem schönen roten Kleid darzustellen, braucht man einen verdunkelten Film.

So hat G-tt die Welt erschaffen.

In den mystischen Büchern wird G-tt Or En Sof genannt, ein unendliches Licht. Wir wissen natürlich nicht, was G-tt ist. Trotzdem können wir ihn “Licht“ nennen, denn eine der Eigenschaften von Licht ist, das es sich selbst projiziert. Filmprojektoren haben starke Birnen, die das Licht Hunderte von Metern projizieren können. G-tt ist ein unendliches Licht, sein Licht beleuchtet die niedrigsten Tiefen und die längsten Entfernungen. Es gibt keinen Ort, zu dem das Licht von G-tt nicht kommt. Nehmen Sie irgend etwas, das existiert, eine Tasse Kaffee zum Beispiel. Sie ist eine Manifestation des unendlichen Lichts. Es ist nicht das reine Licht, sondern die Verborgenheit des Lichts, das sich als Schatten in der Form einer Kaffeetasse ausdrückt.

G-tt ist natürlich ein so professioneller “Filmproduzent“, dass seine Schöpfungen konkrete, dreidimensionale Bilder sind. Nicht nur das, Er erfüllt seine Bilder mit der freien Wahl. Dies ist die Bedeutung von “im Ebenbild von G-tt erschaffen worden sein“ (Zelem Elokim). Wir sind mit einer freien Wahl ausgestattet genauso wie G-tt eine freie Wahl hat. Er gibt uns sogar so viel freie Wahl, dass wir meinen, dass wir gar keine Schatten sind, sondern unabhängig von G-tt existieren.

Der Mensch wurde im Ebenbild G-ttes erschaffen; wir werden dies später im Detail besprechen (Kapitel 5). Gleichzeitig sind wir aber der Schatten, der im Filmstreifen Universum am meisten verdeckt ist. Wir könnten sagen: “Es gibt keinen G-tt. Ich bin kein Schatten, ich existiere unabhängig von G-tt.“ Dies wäre gleich, wie wenn ein Bild auf der Leinwand sagen würde: “Ich bin kein Bild auf dieser Leinwand. Ich halte mich nicht an das Drehbuch. Die Szenen meines Lebens wurden nicht vorher produziert und niemand bestimmt über außer mir selber. Kein Filmproduzent hat mich erschaffen.“

Dies ist der menschliche Zustand. Wir sind dreidimensionale konkrete Schatten und denken, dass wir eine unabhängige Existenz besitzen.

Stellen Sie sich eine Person vor, die in einem Kino geboren wurde und ihr ganzes Leben dort aufgewachsen ist. Von Anfang an wächst sie nur mit der Leinwand auf, ihre Augen sind 24 Stunden am Tag auf die Bilder geheftet. Sie verlässt nie ihren Stuhl oder wagt sich nie hinaus. Was wird sie denken? Dass alle Bilder an der Wand, Menschen, Autos, Pferde, Gebäude, Pflanzen, Berge, Flüsse etc. echt sind. Wenn Sie zu ihr gehen und sagen: “Die ganze Welt, die Sie für echt halten, ist nicht die wirkliche Welt, sie existiert nicht, sie ist nur ein Schatten“, dann wird diese Person Sie mit ihren gläsernen Augen anstarren oder Sie für einen Irren halten.

Wir realisieren nicht, dass wir in einem Kino geboren sind. G-tt ist das “unendliche Licht“, das Er bis zum hintersten Flecken projiziert, die physische Welt. Die Erde existiert, weil G-tt gerade jetzt sein Licht projiziert.

Es gibt nichts Absolutes, jedenfalls nicht in Bezug auf die “Realität“, wie wir normalerweise denken. Die Existenz der Welt ist wirklich nicht mehr als ein Schatten.

Der Transformator

Die Weisen sagen uns, dass die Welt mit zehn Aussprüchen (Ma‘amarot) erschaffen wurde. (“Und G-tt sagte, es sei Licht“, ist zum Beispiel einer dieser Aussprüche.) Dies bedeutet, dass jeder Gegenstand in der Welt das Resultat eines dieser Aussprüche ist.

Um diese Idee besser zu erklären, müssen Sie sich ihre lokale Elektrizitätsgesellschaft mit ihren gigantischen Generatoren vorstellen. Ein Elektrogenerator erzeugt Billionen von Kilowatt von Elektrizität. Damit man diese enorme Energie für den Haushaltsgebrauch einsetzen kann, muss sie auf geeignete Weise verkleinert werden. Ein Transformator verringert die Spannung, so dass man ein Gerät an die Steckdose anschließen kann. Ein Transformator genügt aber nicht, um dem Staubsauger die richtige Menge Elektrizität zu geben. Weitere Transformatoren werden benötigt, damit der Strom genügend sicher durch die Haushaltsleitungen fließt.

Es gab zehn Aussprüche mit denen die Welt erschaffen wurde. Jede Äußerung war wie ein Transformator. Die ursprüngliche Äußerung, Bereschit (der Talmud betrachtet dieses erste Wort der Tora als eigene Äußerung), war mit so viel “G-ttlichkeit“ erfüllt, dass sie für den Gebrauch seiner Schöpfungen weiter hinunter transformiert werden musste. Es gab zehn solche “Transformatoren“, die durch die Worte “und G-tt sagte“ dargestellt werden. Jeder Ausspruch reduzierte die ursprüngliche Äußerung weiter und formte sie um.

Zehn Aussprüche, Zehn Gebote

Die Welt wurde mit zehn Aussprüchen erschaffen. Im Widerspruch dazu haben wir gelernt, dass “G-tt in die Tora schaute und dadurch die Welt schuf“. Das ist ein Widerspruch. Woher stammt die Welt nun, von den zehn Aussprüchen oder von der Tora? Die Antwort darauf ist von der Tora (denn die zehn Aussprüche wurden bei der Schöpfung gesagt und nicht vorher). Wir können daher sagen, dass die zehn Aussprüche von der “ursprünglichen Tora“ stammen.

Für das menschliche Gehirn ist es schwierig oder unmöglich, das Konzept der ursprünglichen Tora zu erfassen. (Wenn die Tora etwas ist, das schon vor der Schöpfung bestand, wie können wir dann die geistigen Werkzeuge oder Einrichtungen haben, um sie zu begreifen?) Es gibt jedoch etwas in der jüdischen Geschichte, das die ursprüngliche Tora darstellt: Die Zehn Gebote, das g-ttliche Wort, das auf wundersame Weise in Stein eingraviert war. Die zehn Aussprüche stammen in Wirklichkeit von den zehn Geboten.

Die Zehn Gebote sind die wahre Wurzel und Quelle der Schöpfung.

Wenn die zehn Aussprüche die Sprache darstellen, dann vertreten die Zehn Gebote, den reinen Gedanken. Die Sprache ist per Definition eine Begrenzung der Gedanken. Sogar der noch so begabteste Mensch kann nicht all seine Gedanken mit Worten ausdrücken. Auch als G-tt sich selber in der Form der Schöpfung “ausdrückte“, musste er zwangsweise eine reduzierte Form seines Wesens ausdrücken Die zehn Aussprüche sind diese Form. Die Zehn Gebote hingegen stellen sein Wesen dar. Sie sind sozusagen seine Gedanken.

Dies hilft uns, einen weiteren unklaren Ausspruch eines chassidischen Rabbis zu verstehen. Dieser lautet “die zehn Plagen rissen die zehn Aussprüche auseinander und enthüllten die Gebote“. Die Erklärung ist folgende: Die ägyptische Kultur war in ein unvergleichliches Ausmaß von moralischer Verdorbenheit und einer Hingabe an körperliche Begierden eingetaucht. Sie war die materielle Welt, die die zehn Aussprüche verkörpert. Jede der zehn Plagen löste eine Schicht des ägyptischen materialistischen Lebensstils ab. Als dieser Prozess vollendet war, war das jüdische Volk bereit, Ägypten zu verlassen und die Zehn Gebote am Berg Sinai anzunehmen. Die zehn Plagen zerrissen also die zehn Aussprüche (die physische Welt, die durch die ägyptische Kultur dargestellt wird) und ermöglichten G-tt, die Zehn Gebote zu enthüllen.

(Darum wurde Abraham zehn mal geprüft. Jede Prüfung entsprach einer Schicht von “Tarnung“ und ermöglichte ihm, die Seele der Schöpfung zu betrachten, die darunter liegt).

Um die wirkliche Realität (die Zehn Gebote) zu erfahren, muss es manchmal etwas dazwischen geben wie die zehn Plagen oder die zehn Prüfungen. Dieser Zwischenprozess schält oder zerstört die filmartige Schicht, die die endgültige Wirklichkeit verschleiert.

Das Gleichnis und seine Deutung

Rabbi Jaakov Kaminetzky s.A. fragte einmal, wie es möglich war, dass Abraham die Tora kannte, obwohl sie erst am Berg Sinai gegeben wurde, so wie unsere Weisen lehren. Er erklärte, dass die Tora der Grundriss der Welt ist. Genau wie ein Architekt den Grundriss bei einem bereits bestehenden Gebäude erfasst, so entdeckte Abraham die Tora, noch bevor sie gegeben wurde: Er erfasste den Grundriss durch Beobachtung “des Gebäudes“, also der Welt selber.

Dies ist auch unser Ziel. Wir sind hier, um die zehn Aussprüche zu enthüllen, damit wir die zehn Gebote sehen. Einfacher ausgedrückt heißt dies, dass wir uns durch oberflächliche Ereignisse nicht täuschen lassen sollen – durch “Natur“ (die zehn Aussprüche), sondern unter der Oberfläche nach der Wurzel schauen sollen (die zehn Gebote).

In diesem Sinn ist es unser Ziel, unter den zehn Aussprüchen die zehn Gebote zu finden.

Eine andere Art dies zu erklären ist, indem man den Unterschied zwischen den zehn Aussprüchen und den zehn Geboten vergleicht mit dem Unterschied zwischen einem Gleichnis und seiner Deutung, (Maschal und Nimschal). Gleichnisse und Geschichten können leicht erfasst werden, ja sogar Kinder (inklusive das Kind in jedem von uns) freuen sich über eine gute Geschichte. Jedes Gleichnis hat seine Deutung.

Die zehn Aussprüche sind das Gleichnis und die zehn Gebote sind die Deutung. Die zehn Gebote stellen die unendliche und unbegrenzte Weisheit von G-tt dar. Die zehn Aussprüche, die physische Schöpfung selber, dienen als Gleichnis für diese G-ttlichkeit.

Wir müssen verstehen, dass die Welt nicht mehr als ein Gleichnis mit einer Deutung, also einer Botschaft, ist.

Trotz all unseren täglichen Herausforderungen müssen wir es als unsere Angelegenheit betrachten, die ganze Botschaft hinter dem Schleier des Gleichnisses zu entdecken. Dies ist es, was mit “die zehn Gebote in den zehn Aussprüchen zu sehen“ gemeint ist: die zehn Aussprüche verschleiern die zehn Gebote. Wir müssen den Versuch unternehmen, hinter diesen Schleier und Vorhang zu schauen; wir müssen hinter diese Geschichte schauen, um zu einer tieferen Botschaft zu kommen. Die zehn Gebote sind die Seele der zehn Aussprüche. Das Leben ist eine Übung, um die Seele zu finden und nicht nur den Körper; es ist eine Übung, um die Lehre zu erfassen und nicht nur das Gleichnis zu genießen.

Der Schabbat

Dies hilft uns, den Gedanken des Schabbats zu verstehen.

Es wurden vollendet der Himmel, die Erde und all ihre Heerscharen. Und G-tt vollendete am siebten Tag all seine Arbeit, die er gemacht hatte und er ruhte am siebten Tag von all seiner Arbeit, die er gemacht hatte.[2]

Muss G-tt ruhen? Von welcher Arbeit ruhte denn G-tt? Die Antwort ist, dass G-tt vom Enthüllen und Konkretisieren seiner endlosen Tiefen in einem Gleichnis ruhte.

Am Schluss des sechsten Tags hatte G-tt den zehnten der zehn Aussprüche vollendet. Er hörte auf, sein Wesen zu vermindern und zu verkleinern. Der siebte Tag, Schabbat (was “ruhen“ heißt) ist die Deutung des Gleichnisses, die Seele der Geschichte. Der Schabbat wurde dazu geschaffen, um uns zu erlauben, mit der ursprünglichen Botschaft unserer Existenz in Berührung zu kommen.

Warum dies?

Wenn wir uns sechs Tage in der Woche in unsere Arbeit vertiefen, können wir leicht in die Falle geraten, zu meinen, dass wir alleine die Ursache unseres finanziellen oder materiellen Erfolgs seien. Am siebten Tag arbeiten wir jedoch nicht und drücken dadurch unseren Glauben aus, dass all unsere weltlichen Handlungen und Sorgen ausschließlich in der Hand unseres Schöpfers sind. Dies ist der Grund dafür, dass wir, wenn wir den Schabbat richtig halten, automatisch eine tiefe Ruhe verspüren, ein Schabbat Menucha. Am Schabbat legen wir die Illusion, den Schleier der Selbstzufriedenheit ab, um die wahre Wurzel all unseres Erfolgs die Wurzel aller Ursachen und der Existenz selber zu offenbaren: den Schöpfer. Das Bewusstsein, dass unser Schöpfer alles lenkt, erzeugt den Frieden und die Ruhe des Schabbats.

Während sechs Tagen vertiefen wir uns also in unsere weltliche Arbeit, was gleichbedeutend ist mit dem Eintauchen in die zehn Aussprüche; die physische Schöpfung, das Gleichnis. Am siebten Tag, dem Schabbat, entfernen wir uns vom Gleichnis, um uns mit der Lehre zu verbinden, der Botschaft. Im Wesentlichen leben wir während sechs Tagen ein Gleichnis und versuchen unser Bestes, um die Wurzel unserer physischen, weltlichen Erfahrungen zu verstehen. Wir versuchen, unser Schicksal auf der Erde, also die weltlichen Erfahrungen, in einen Spiegel des Himmlischen zu verwandeln.

Dies ist jedoch nicht einfach.

Wir sind trotz all unser Bemühungen Opfer unseres gleichnisartigen Denkens. Am siebten Tag erhalten wir aber direkten Kontakt mit der Wurzel, indem wir sozusagen aus dem Gleichnis herausfallen. Wir lösen uns von der Illusion der sechs Wochentage.

Fortsetzung folgt ijH.

Zusammengestellt durch Yaakov Astor, Ins Deutsche übersetzt durch David Halonbrenner, überarbeitet durch Rolf Halonbrenner und Clarisse Pifko

Mit ausdrücklicher Erlaubnis des Copyrightinhabers Juefo.com. Das Sefer kann unter info@juefo.com bestellt werden.

  1. Bereschit 1,3
  2. Bereschit 2,12

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