Der Wochenabschnitt: Lech Lecha – Was können wir von unserem Vorvater Avraham lernen?

Datum: | Autor: Rav Igal Polischuck | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag

Nach Schiurim vom Rav Igal Polischuk

Wir begannen mit G-ttes Hilfe, die Wochenabschnitte zu lernen, in denen von den Maase Avot, den Taten unserer Vorväter die Rede ist. Es ist natürlich nicht möglich, hier das Thema vollständig zu beleuchten, es macht aber Sinn, sich mit den wichtigsten Punkten zu befassen. Wir werden den Anfang aufzeigen, die Fortsetzung des Lernens hängt von jedem einzelnen Menschen ab.

Im Buch vom Ramchal „Derech Etz Chaim“ ist die Rede davon, wie ein Mensch über das Leben denken soll. „Man sollte darüber nachdenken, weshalb unsere Vorväter – Avraham, Itzchak und Jaakov, und auch der König David würdig geworden sind, von G-tt geliebt zu werden – und genau das Gleiche tun!“ So etwas, nicht mehr und nicht weniger… Allein diese Worte von Ramchal sind eines ganzen Vortrages wert, für uns jetzt ist aber wichtig zu verstehen, worin die Würde und die Größe der Vorväter besteht, warum gerade sie aus der Menge der Nachkommen von Adam und Noach auserkoren wurden, die Gründer unseres Volkes zu werden – keines gewöhnlichen Volkes, wie die anderen siebzig Völker der Erde. Wir haben darüber gesprochen, als wir den Wochenabschnitt „Bereischit“ analysiert haben: „bischvil (für) reischit (Anfang)“ war die Welt erschaffen, und reischit ist Israel, das Volk Israel. Ein Teil der Menschheit ist auf die Umsetzung der g-ttlichen Vorsehung ausgerichtet, ein anderer Teil zielt auf etwas gegenteiliges, und es gibt eine Schicht dazwischen. Die Würde unseres Volkes besteht darin, dass der Plan des Schöpfers uns einverleibt wurde. Sogar diejenigen, die unserem Volk beitreten, die Gerim, werden „Bnei Avraham“, Kinder von Avraham genannt. Gemäss dem halachischen Beschluss vom Rambam wenden sich die Gerim an G-tt mit Elokei Avoteinu – G-tt unserer Väter. Somit, obwohl sie nicht als Juden geboren sind, haben unsere Seelen den gleichen Ursprung und unsere Vorväter sind auch ihre Vorväter.

Avraham wird schon in dem Wochenabschnitt Bereschit erwähnt. In dem 4. Vers des zweiten Kapitels gibt es das Wort  „בהבראם“ (das „während der Schöpfung“ übersetzt wird), das aus den Buchstaben des Namens „Avraham“ und dem Buchstaben „Bet“ besteht; und es gibt einen bekannten Midrasch, in dem dieses Wort als „um Avrahams willen“ interpretiert wird.

Zum ersten Mal wird Avraham im Klartext, nicht als Hinweis, im Wochenabschnitt Noach als Nachkomme von Schem erwähnt. Dort, wo zehn Generationen von Noach bis Avraham aufgezählt werden, ganz am Ende, erscheinen Avraham, Lot und Iska (Sara). Weiter wird gesagt: „…und führte sie aus dem Ur Kasdim heraus.“- für uns ist das ein Hinweis für die erste Prüfung von Avraham, als er von Nimrod ins Feuer geworfen wurde. Die Ereignisse aus dem Leben von Avraham werden dann weiter im Wochenabschnitt Lech Lecha beschrieben, seine Geschichte ist unter mehreren Abschnitten verteilt. Es ist offensichtlich, dass das Auserwähltsein von Avraham kein Zufall ist, er wurde aus zehn Generationen erwählt!

Dabei — wenn wir über die Kette der Überlieferung sprechen — war Avraham nicht der einzige Gerechte. Es ist aus der Überlieferung, die von unseren Weisen empfangen wurde, bekannt, dass es ein Lehrhaus von Schem und Ewer gab, wo Jaakov gelernt hat, und somit gab es die Überlieferungskette der Tora. Genauso wie der Vater von Noach Tora von Adam erhalten hat, hat Avraham sie von Schem und Ewer bekommen. Wir sehen, dass es parallel zum Avraham eine Kette der Generationen gab, durch die die Tora weitergegeben wurde, und dabei wird Avraham „rosch maaminim“, der Oberhaupt der Gläubigen genannt. Ferner, als unsere Urmutter Rivka eine schwere Schwangerschaft hatte, ging sie in das Lehrhaus – Jeschiva von Schem und Ewer, um G-tt zu befragen.

Wenn wir das oben Gesagte berücksichtigen, stellt sich die Frage: wodurch hat sich Avraham derart hervorgetan? Im Buch von Rav Mosche Schapiro habe ich einen wichtigen Aspekt gesehen. Es gibt den Begriff emuna – „Glaube“, und maamin – „der Gläubige“. Und da Avraham rosch maaminim, „Oberhaupt der Gläubigen“ genannt wird, ist es uns wichtig diese Begriffe zu definieren. Russisches Wort „вера“ (Glaube; Vermerk des Übersetzers: auch das deutsche Wort „Glaube“) gibt das Wort emuna nicht in seiner ganzen Fülle wieder. Die verwandten Worte in der heiligen Sprache – neeman, neemanut – bezeichnen die Möglichkeit des Vertrauens. Wir sagen in Psukej deSimra des Morgengebetes: „Du, der Allmächtige, hast Avraham auserwählt, hast ihn aus Ur Kasdim hinausgeführt, hast ihm den Namen Avraham gegeben…“, und weiter: „und Du hast sein Herz vor Dir treu gefunden“. Treu! Treue an sich ist kein einfacher Begriff, und einen Hinweis darauf finden wir in der Geschichte von Ur Kasdim, als der Allmächtige Avraham aus dem Feuer hinausgeführt hat. Der Vater Avrahams war kein einfacher Götzendiener, er hat selbst mit Götzen gehandelt. Also hat Avraham G-tt nicht aus der väterlichen Überlieferung erkannt, sondern ganz im Gegenteil; als sein Vater davon erfahren hat, hat er persönlich Nimrod informiert, dass sein Sohn „vom Glauben abgefallen ist“. Nimrod hat natürlich befohlen, Avraham durch die Verbrennung zu bestrafen dafür, dass er den Glauben der Väter – den Glauben an Götzen – zertrampelt hat. Avraham war bereit, in den Tod zu gehen (und hat es auch gemacht), wich nicht davon ab, was er verstanden hat. Außerdem sagt Mischna im Traktat Avot, dass Avraham zehn Prüfungen gegeben wurden und er sie alle bestand. Die erste Prüfung bestand darin, zu sehen, ob Avraham der Wahrheit, die er verstand, treu bleibt. Somit, sagt Rav Mosche Schapiro, gibt es eine Idee der Wahrheit und eine Idee, dass man dieser Wahrheit treu bleiben muss, und gemäß dieser Wahrheit lebt, — und das ist schon der Glaube und die Treue. Avraham wurde auserwählt, weil er der Wahrheit, die er begriffen hat, absolut treu und vollkommen ergeben war. Wir sehen schon am Ende des Wochenabschnitts Noach, dass der Anfang der Auserwählung von Avraham nicht die Auserwählung durch G-tt war, sondern das, wodurch er sich selbst aus der ganzen Generation hervorgehoben hat, seine Aufopferung für die Wahrheit. In Wochenabschnitt Lech Lecha sehen wir danach, dass der Allmächtiger sich ihm offenbart hat.

Es wird gesagt über Avraham , dass er Merkawa lemidat ha-chesed war – „Gefährt der Eigenschaft der Gnade“: er war der erste, der die Eigenschaft des Chessed von G-tt in unserer Welt enthüllt hat. Versuchen wir zu verstehen, wie es mit seiner Treue zu tun hatte.

Im Wochenabschnitt „Lech Lecha“ befiehlt G-tt Avraham, nachdem Er sich ihm offenbart hatte, seinen Heimatort zu verlassen und in ein Land zu ziehen, das Er ihm zeigen wird.

Dabei hat Avraham ein grenzenloses Vertrauen in den Allmächtigen, denn das, was Er befohlen hat, stand im direkten Wiederspruch zum Versprochenen, damit beginnend, dass es Avraham befohlen wurde, seinen Heimatort zu verlassen, was den Verlust vieler Güter bedeutete.

Weiter wird gesagt, dass Avraham sich auf den Weg gemacht hat; er hat seine Frau Sarah mitgenommen und u.a. „die Seelen, die er in Charan gemacht hat“. Was sind das für Seelen? Avraham hat den Männern gijur (Konversion) gemacht, und Sarah — den Frauen. Eine genaue Definition finden wir im Targum (Übersetzung) von Onkelos der selbst ein Ger zedek (rechtschaffener Proselyt) war: „Seelen gemacht“ – „Seelen, die der Tora unterworfen wurden“. Darin besteht die sehr klare Definition des Bergiffs „gijur“. Ein Mensch kann bestimmte, sogar richtige Sachen tun und sagen, und dabei doch eigene Überlegungen – „eigenen Kopf“ – haben, warum er diese Sachen tut. Im Traktat Gittin wird der Begriff gebracht, dass „ein Nichtjude macht etwas, weil er das für notwendig hält, er will das machen“. Dieses Begriff („eigenen Kopf haben“) wiederspricht gänzlich dem Begriff eved Haschem – „Diener G-ttes“.

Die Idee der Schöpfung ist Israel, der selbst die Tora ist. Tora ist die Offenbarung des Willens des Schöpfers. Israel ist die Nation, die es auf sich nimmt, seinen Willen zu erfüllen. Ein od milvado – „es gibt nichts außer Ihm“. Der einzige Wille, den es zu erfüllen gilt, ist der Wille des Schöpfers. Der Begriff von midat a-din – die Eigenschaft des Gerichts – ist damit eng verbunden. Nach diesem Prinzip dürfte nichts in der Welt außer seinem Willen existieren, alles andere hätte einfach kein Existenzrecht. Jedoch verschwindet die Welt nicht – dank der Existenz von midat harachamim, der Eigenschaft der Barmherzigkeit. Dank dieser Eigenschaft bekommt die Menschheit immer neue Chancen, ihre Prädestination zu erfüllen – den Willen des Schöpfers zu offenbaren und nach Seinem Willen zu leben.

Das Vorhaben des Schöpfers ist in seiner Schöpfung. Das Volk Israel soll im Einklang mit Seinem Willen leben, soll Seinen Willen erfüllen, soll sich bemühen, Seinen Willen zur seinem eigenen zu machen, wie es in Tehillim steht:“…chajim birtzono – Leben nach Seinem Willen“. Es ist wirklich ist nicht so leicht zu verstehen, aber darin liegt die Quintessenz der Schöpfung: jede Abweichung von dem Willen des Schöpfers ist dem Tode gleich. Das erste Beispiel hierzu können wir in der Sünde von Adam sehen: an sich wollte er etwas Gutes tun, den Namen des Schöpfers noch mehr preisen, und gerade dabei wurde er von der Schlange gefasst. Das Streben, eine gute Sache nach eigenem Wissen zu machen, hat ihn die direkte Anweisung von G-tt vergessen lassen, nicht von dem Baum der Erkenntnis zu essen. Genau diese Lektion müssen wir lernen, im Einklang mit dem Höchsten Willen zu leben, und keinen „eigenen Kopf“ haben.

Über Jaakow wird gesagt, dass er ein isch tam, ein „gerader“ ist. Gerade dies ist die Quintessenz von unserem Volk – tmimut, Integrität im Erfüllen des Willens des Schöpfers. Gerade diese Integrität hat Avraham geholfen, in allen Prüfungen, einschließlich der schwierigsten von allen – der Darbringung Jitzchaks – zu bestehen. Die besondere Schwere dieser Prüfung lag darin, dass der Allmächtige Avraham befohlen hat, etwas zu machen, was all dem, was er bis dahin tat und was G-tt ihm versprochen hatte, komplett widersprach. Selbst der Name Avraham beinhaltet das Wort av, der Vater – ein Begriff mit dem unbegrenzten Potenzial. Aber der Befehl, den Lieblingssohn als Opfer darzubringen, hat der ganzen „Philosophie“ von Avraham , seinem ganzen Leben widersprochen! Außerdem lag es im Widerspruch mit dem Versprechen, aus

Itzchak ein großes Volk hervorgehen zu lassen: wie kann es möglich sein, wenn er als Ganzopfer dargebracht werden würde?!

Wir können viel aus dem Verhalten von Avraham lernen: er stellt keine Fragen, empört sich nicht, wundert sich nicht. Er erfüllt einfach den Willen des Schöpfers! Ja, es hat seinen Lebensprinzipien widersprochen, man kann es nicht damit vereinbaren, was er über Jahrzehnte gelehrt hat. Aber in der Situation, in der er ein Befehl vom Schöpfer bekommt, gibt es für Avraham nicht anderes außer Seines Willens, und er erfüllt ihn einfach. Dabei kann man Avraham nicht für gefühllos halten: er ist ein Vater, ein Vater, der liebt und zweifellos einen kolossalen Schmerz empfindet, und das Messer, das über Jitzchak erhoben ist, ist für ihn einem über ihn selbst erhobenen Messer gleich. Aber sein „ich“, seine eigene Berechnungen und sein Verstehen – ist nichts im Vergleich mit dem Willen des Schöpfers. Was für eine erschütternde Geradheit! Nur so ein Mensch konnte lehren, „die Seelen der Tora zu unterwerfen“ – der Offenbarung des in der Tora vorhandenen Willens des Schöpfers.

Welche Verbindung können wir erkennen zwischen der Tatsache, dass  Avraham „der erste Gläubige“ war und dem, dass er das Attribut der Güte des Allmächtigen in dieser Welt offenbart hat? Aus den Worten von Ramchal im Buch „Daat Tvunot“ habe ich Folgendes verstanden. Die Eigenschaft der Güte bedeutet – Gutes tun. Ramchal erklärt, dass das größtmögliche Erkennen des Wesens der Schöpfung darin besteht, das Verlangen des Allmächtigen, Gutes zu tun, zu verstehen, und gerade diese Eigenschaft hat Avraham in dieser Welt offenbart. Sein Glaube, sein Erkennen der Wahrheit erreichte den höchsten Punkt und er haftete sich an den Schöpfer mit all seinen Kräften, wurde ihm im Tun des Guten ähnlich.

Wir erwähnten, dass Avraham dem Schöpfer treu war. Menschlich gesehen, vertrauen wir in unserer Welt einem, der für uns Gutes will. Sobald wir zu zweifeln beginnen, dass die Absichten eines Menschen gut sind, verliert er sofort unser Vertrauen. Wenn wir unsere Kinder zu wertvollen guten Menschen erziehen wollen, müssen wir ihnen zu verstehen geben, dass wir für sie Gutes wollen. Wenn man Schüler wirklich erziehen will, muss man für sie Gutes wollen. Aufgrund der Eigenschaft des Wohlwollens vertraut man dem Besitzer dieser Eigenschaft. In persönlichen Beziehungen ist es unmöglich, das Wohlwollen zu imitieren, denn es wird auf der Sinnesebene wahrgenommen; daher müssen wir versuchen, in erster Linie uns selbst zu dieser Eigenschaft zu erziehen. Wenn wir Kinder und Nachkommen Avraham s sein müssen und möchten, müssen wir wohlwollend sein. Avraham wurde der Erkenntnis des guten Willens des Schöpfers und des Erziehens in sich selbst, der ahavat hachessed, der Liebe zum Guten, teilhaftig. Er offenbarte, öffnete vollkommen diese Eigenschaft in unserer Welt. Wir selbst müssen danach streben, in unseren Taten dem Schöpfer ähnlich zu werden, und der wahrhaftige Beginn dessen ist das Erlangen der Eigenschaft des Wohlwollens, des Vorzugs unseres Vorvaters Avraham .

In der Tora wurde uns mehrmals befohlen, den Wegen des Allmächtigen zu folgen. Der Begriff „Adam“ hat zwei Definitionen. Eine Definition wird in der Tora gebracht: Adam stammt vom Wort „Adama“, Erde. Das weist auf die niedrige Seite der menschlichen Natur hin. Jedoch bringen unsere Weisen noch eine Definition des Worts „Adam“ – „adame leEljon“ (buchstäblich: ich werde dem Höchsten ähnlich sein). Der Sinn dieser Definition liegt im ganzheitlichen Öffnen in uns der  Gestalt und Ähnlichkeit des Höchsten. Und genau darin besteht der Sinn des Gebots, den Wegen des Schöpfers zu folgen.

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