So wie im Himmel, so auf der Erde – Teil 15 – Der Baum des Lebens

Datum: | Autor: Rabbi Ezriel Tauber SZl | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Leben
Rabbi Ezriel Tauber SZl – L’ilui nischmat Hamechaber
Fortsetzung

Inhalt:

  • Der Baum des Lebens, wie er heute existiert
  • Die wahre Bedeutung von Freiheit
  • Warum unsere Welt wie Tiffany’s ist
  • Was es heißt, das „Leben zu wählen“

„Und aus dem Boden ließ Haschem/G-tt jeden Baum wachsen, der angenehm für das Auge und gut zum Essen war; den Baum des Lebens ebenfalls in der Mitte des Gartens …“[1]

Tora ist ein Baum des Lebens für diejenigen, die nach Ihr greifen.[2]

Die Tora wird Baum des Lebens genannt. Sie ist der Baum des Lebens „in der Mitte des Gartens …“ Dies bedeutet, sie ist die Wurzel dieser Welt.

Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit dem Kanu eine starke Strömung hinunter. Plötzlich werden Sie in tosende Stromschnellen geworfen. Vom Boot abgeschnitten verlieren Sie jegliche Kontrolle über die Situation und sind in Gefahr, zu ertrinken. Während Sie von der Gewalt des Wassers hin und her geworfen werden, sehen Sie plötzlich einen Baum. Sie greifen nach ihm und halten sich an ihm mit aller Macht fest.

Genauso ist das Leben.

Das Leben ist ein ständiger Fluss von wechselnden, wogenden Strömungen. Launen, Philosophien, Finanzen, Führer und Regierungen befinden sich in ständigem Fluss. Nichts auf dieser Welt ist dauerhaft. Wie erfolgreich wir Veränderungen und Widrigkeiten begegnen, hängt davon ab, wie ehrlich und fest verwurzelt unser Glaube ist.

Tora ist ein „Baum des Lebens für diejenigen, die nach ihr greifen.“ Dieser Baum stellt die innere Wahrheit des Lebens dar, die sich nicht verändert. Er steht in der Mitte, während die Wasser der modernen und mondänen Welt um ihn tosen. Es gibt noch andere Sachen im Wasser, die uns auf den ersten Blick vor dem Ertrinken retten könnten. Wenn wir aber in unserer Not nach ihnen greifen, erkennen wir, dass sie nichts anderes als totes Holz oder schlecht verwurzelte Bäume waren.

Keine andere Weltsicht der gesamten menschlichen Zivilisation hat den Stürmen der Geschichte so standgehalten wie die Tora. Sie ist nicht einfach eine weitere Philosophie, Psychologie oder ein weiterer Selbsthilfetrend; und sie ist nicht einfach eine weitere Religion. Sie ist die Wurzel der Welt und was man gewinnt, wenn man nach ihr greift, ist nicht einfach ein bisschen vergängliche Glückseligkeit, sondern man gewinnt das Leben, wahres Leben.

Wir meinen mit der Tora natürlich mehr als nur biblische Geschichten.

Die Tora ist die innere Wahrheit des Schöpfers. Der Schöpfer drückte diese innere Wahrheit in der Form der hebräischen Buchstaben und den Worten “Fünf Bücher Mosche“ aus. Diese fünf Bücher – und ihre Erläuterung, die mündliche Tora – enthalten die Werte und die Lebensweise, die G-tt für die Menschheit entworfen hat und die diese innere Wahrheit widerspiegeln.

Die Tora ist nicht einfach ein vager Aufruf zu Moral und Geistigkeit. Viele Menschen sehnen sich nach einer moralisch wertvollen und geistigen Lebensweise, aber ihr Streben nach diesen Idealen ist beschränkt auf das, was sie mit ihrem eigenen, begrenzten, menschlichen Verstand begreifen können. Und früher oder später werden die Mängel dieser zwar idealistisch tönenden, aber doch sprunghaften, durch den Menschen festgelegten Definition von Moralität und Geistigkeit für jeden sichtbar.

Die Tora aber ist G-ttes unendliches Wissen, das Mosche auf dem Berg Sinai übergeben wurde, in schriftlicher Form und auch als Interpretation des Geschriebenen: der Talmud oder die mündliche Tora. Zusammengenommen ist es die Tora, die die g-ttlich-vorgeschriebenen Lebensregeln beinhaltet: sie ist ein klar definierter Lebensstil, basierend auf 613 Geboten. Diese Gebote lassen ein ganz bestimmtes Lebensmuster entstehen. Sie sind das Grundgerüst, mit dessen Hilfe der innere Sinn und die Seele der Tora Früchte tragen können.

Die Tora ist deshalb der verkörperte Baum des Lebens. Der Lebensstil, den sie vorschreibt, beinhaltet den Schlüssel zur Verwandlung der Erfahrung des zeitlich begrenzten Lebens in die Erfahrung des ewigen Lebens.

Gib mir Freiheit oder gib mir den Tod

Eine oft gehörte Klage, besonders von Leuten, die in einem säkularen Umfeld aufwuchsen, ist folgende: Auch wenn man akzeptiert, dass die Tora wirklich eine G-ttliche Lehre darstellt, die einen von G-tt der Welt gegebenen Lebensstil lehrt, kann man sich doch nicht vorstellen, nach den 613 Geboten zu leben. Der moderne Mensch ist an Freiheit gewöhnt. Er betrachtet dies als unveräußerliches Recht, Wie kann jemand je glücklich sein, der seine Freiheit aufgibt, wenn auch für einen G-ttlich verordneten Lebensstil.

Die Antwort ist, dass der wirklich freie Mensch derjenige ist, der nach der Tora lebt. Die Art von Freiheit, die wirklich zählt, bedeutet nicht bloß politische Freiheit, sondern die Freiheit des Geistes. Moderne Demokratien bringen höchstens politische Freiheit. Dies ist sicher etwas Wertvolles. Wenn man es jedoch genau betrachtet, heißt es doch nur, gewisse äußerliche Grundrechte zu besitzen. Freiheit an sich ist aber ein innerer Zustand und es ist ein innerer Zustand, den man paradoxerweise durch Einschränkung des eigenen Begehrens erreicht. (Dies erklärt auch, weshalb es sogar in einer Gesellschaft, die ein Maximum an Freizügigkeit gewährt, immer noch Leute gibt, die sich ständig und undefinierbar frustriert und eingeschlossen fühlen. Die Gesellschaft betont die Freizügigkeit, nicht die Freiheit.)

Gerade aufgrund ihrer Einschränkungen ist die Tora ein Weg zur Freiheit. Um dies besser zu begreifen, stellen Sie sich folgendes Szenario vor.

Nach Diamanten greifen

Stellen Sie sich jemanden vor, dem es erlaubt wurde, den Verkaufsraum von Tiffany’s zu betreten, und der dort eine Stunde Zeit hätte, so viele Edelsteine an sich zu nehmen, wie er wollte. Die Stunde beginnt, aber da er so viel Zeit hat und weiß, dass schon eine halbe Stunde genügen würde, so viele Steine einzusammeln, wie er jemals benötigen würde, beschließt er, ein paar Momente lang den Anblick in sich aufzunehmen.

Pompöse Auslagen, majestätische Springbrunnen, Delikatessen, Amüsements, interessante Leute usw. – es gibt so viele schöne Dinge zu sehen, dass er sich schnell darin verliert. Eine halbe Stunde geht vorbei. Vierzig Minuten, fünfzig Minuten, fünfundfünfzig. Neunundfünfzig Minuten sind vorüber und plötzlich erinnert er sich: Die Stunde ist fast vorbei! Als die sechzigste Minute schlägt, sieht er einen Edelstein herumliegen und ergreift ihn.

Er verlässt das Geschäft, geht zum Juwelier nebenan und fragt wie viel der Stein wert sei.

„Sie wollen das verkaufen?“, fragt der Juwelier aufgeregt, und starrte den Stein an.

„Ja.”

„Ich gebe Ihnen 100’000 Dollar dafür.”

Lassen Sie mich fragen:

Wie wird dieser Mensch reagieren: glücklich oder traurig? Vorerst mag er ganz glücklich sein, dann aber wird sich Reue einstellen. „War ich nicht ganz bei Trost? Wenn ich in einem Moment 100’000 Dollar ergreifen konnte, hätte ich in einer Stunde Edelsteine für Millionen von Dollar nehmen können!”

Unsere Welt ist wie Tiffany’s. Sie besitzt seltene Edelsteine – Elemente der Ewigkeit – inmitten einer Disney-Welt von vergänglichen Versuchungen und Ablenkungen. Obwohl diese ihre eigene kurzlebige Schönheit besitzen, lenken sie einen doch nur davon ab, die wahren Edelsteine zu ergreifen, unseren Anteil an der Ewigkeit wahrzunehmen.

Die Schöpfung ist kein Selbstzweck; sie ist ein Mittel zum Zweck.

Das gegenwärtige Leben ist Vehikel, um uns aus einem zeitlichen Rahmen hin zu einer Erfahrung von Ewigkeit zu führen, aus dem Reich des Körperlichen in das Reich des G-ttlichen. Es ist jedoch leicht, abgelenkt zu werden und auf Umwege zu geraten; es ist leicht, ein Gefangener der Zeit zu werden.

Die Freiheit, in ein Gefängnis zu gehen, ist keine Freiheit – es ist ein Missbrauch von Freiheit. Wenn wir unsere Freiheit missbrauchen und an Dingen hängen, die rein physischer und zeitlicher Natur sind, werden wir an sie gefesselt und süchtig nach ihnen – wir verlieren die Freiheit, unsere Aufgabe zu erfüllen, für die wir hier sind. Deshalb sind die Einschränkungen der Tora im Grunde Mechanismen der Freiheit. Sie helfen uns, uns frei zu machen. Sie helfen uns, die Zeit zu nutzen, um Edelsteine zu ergreifen.

Kehren wir zur Beschreibung unseres Freundes zurück, dem es erlaubt war, Tiffany’s zu betreten:

Stellen Sie sich vor, dass er vorher gewarnt wurde, sich beim Einsammeln der Steine durch nichts ablenken zu lassen. Um diesen Ablenkungen entgegenzuwirken, wurde ihm gesagt, dass er eine Liste von Erlaubtem und Nicht-Erlaubtem erhielte, die er auf jeden Fall befolgen sollte. Diese Instruktionen würden ihm dabei helfen, sich ganz auf seine Aufgabe zu konzentrieren, und so sicherstellen, dass er den Laden mit genügend Reichtümern verlassen würde, um sich sein eigenes Tiffany’s zu kaufen.

Zuerst mag er die Instruktionen für unnötig gehalten haben. Im Nachhinein aber, nachdem er seine Chance verpasst hatte, wird er die Bedeutung solch einer Liste zu schätzen wissen. Sie hätte ihn davon befreit, sich in den Ablenkungen zu verlieren. Sie hätte ihn davon befreit, weil sie ihm gesagt hätte, wie er jeden Augenblick seiner Zeit dort hätte optimal nutzen können. Alles, was er hätte tun müssen, wäre den Instruktionen zu folgen.

Dies ist die Tora.

Sie bewahrt uns davor, uns hoffnungslos im zeitlich Begrenzten zu verwickeln, und führt uns zu den Elementen der Ewigkeit, die in diesem vergänglichen Leben präsent sind. Sie ist unsere Liste mit Instruktionen, die uns sagt, wohin wir gehen und wohin wir nicht gehen sollen, was wir tun und was wir nicht tun sollen, wie wir es tun und wie wir es nicht tun sollen. Jeder Moment beinhaltet die Wahl zwischen dem Vergänglichen und der Ewigkeit, und die Tora ist unsere Wegleitung zur Wahl der Ewigkeit.

Betrachten Sie zum Beispiel den Vorgang des Essens. Man kann essen, um satt zu werden, was mehr oder weniger derselbe Grund ist, warum Tiere essen; oder man kann die Nahrungsaufnahme auch in eine G-ttliche Handlung verwandeln durch die Befolgung der Gebote, die der Schöpfer uns bezüglich des Essens gegeben hat. Im ersten Fall hat man seine Zeit darauf verwendet zu essen, im zweiten Fall hat man sie genutzt, um Ewigkeit zu erlangen. Ganz ähnlich kann man arbeiten, viel Geld verdienen und alles für selbst erarbeitet halten, oder man kann sein Geld verdienen und die Hilfe von oben anerkennen, ohne die sich der scheinbare Erfolg nie eingestellt hätte. Im ersteren Fall ist Geld im wahrsten Sinn des Wortes Zeit – nichts mehr oder weniger; im letzteren brachte das Geld ein größeres G-ttesbewusstsein und hat so geholfen, Zeit in Ewigkeit umzutauschen.

Gleichermaßen können Sie Ihrem natürlichen Bedürfnis nach Intimität nachgeben und egozentrisch werden oder Sie können heiraten, das Leben mit Ihrem Partner genießen, wie es die Tora vorschreibt, und sich nach jemandem ausrichten, der wirklich selbstlos ist. Im ersten Fall dauerte Ihr Vergnügen nur eine Nacht, ein Jahr, mehrere Jahre, aber nicht länger; im letzteren hat Ihre Zeit nicht nur Genuss, sondern auch Ewigkeit geschaffen.

Essen Sie, aber seien Sie sich bewusst, was, wie und warum Sie essen.

Verdienen Sie viel Geld, aber seien Sie sich bewusst, wie es erlaubt ist, Geld zu verdienen, was damit zu tun ist, wenn Sie es einmal haben, und was das wahre Ziel des Geldverdienens ist. Heiraten Sie und genießen Sie Ihre Beziehung, aber seien Sie sich des Wie, Wann und Warum Ihrer Beziehung bewusst. Jedes Ding, jeder Moment kann genutzt werden.

Die Tora ist keine idealistische, abstrakte Philosophie. Sie ist kein vager Aufruf zur Liebe. Sie ist eine Lebensweise, die danach sucht, uns zu helfen, die mondänen Elemente unseres täglichen, weltlichen Lebens in geistige Energie der Ewigkeit umzuwandeln. Jedes Gebot lehrt uns auf seine Weise, wie wir G-tt zu einer Realität in unserem täglichen Leben machen können, wie wir ihn ans Tageslicht hervortreten lassen können, wie wir aus physischem Leben eine greifbare Erfahrung von Geistigkeit machen können, irdisches Leben in himmlisches Leben verwandeln können.

Leben – dieses Leben – ist potenziell ein Garten Eden.

Es ist schön, und sogar Dinge vergänglicher Schönheit können als Werkzeuge benutzt werden, um Ewigkeit zu erreichen. Dies ist jedoch nicht möglich ohne die „Instruktionen zur Ewigkeit“, die G-tt der Menschheit überlassen hat.

Wähle das Leben!

„Ich gebe dir die Wahl zwischen Leben und Tod, Segen und Fluch – wähle das Leben!“[3]

Beachten Sie, dass die Tora uns nicht mit einem negativen Satz ermahnt: „Wähle nicht den Tod!“ Sie formuliert es positiv: „Wähle das Leben!“ Der Grund dafür ist, dass unser Leben auf natürliche Weise zum Tod führt, wenn wir so bleiben, wie wir geboren wurden – wenn wir einfach unsere körperliche, vergängliche Existenz ohne jegliche Grenzen oder Richtung ausleben. Deshalb stellt der Tod keine Wahl dar; er ist die natürliche Folge unserer körperlichen Existenz, wenn wir nicht aktiv das Leben ergreifen.

„Wähle das Leben“ heißt, aktiv die Wahl zu treffen, die Ewigkeit in unserem vergänglichen Leben – die geistigen Diamanten – zu entdecken und zu verwandeln. Dadurch, dass die Tora uns genau sagt, wovon wir uns fernhalten sollen und woran wir teilnehmen sollen -, und wie wir daran teilnehmen sollen, lehrt sie uns, wirklich zu leben. Sie ist keine Beschränkung. Sie beschützt unser Leben. Sie hilft uns, nicht unterzugehen, und lehrt uns dann, wie wir die Grenzen unseres körperlichen, zeitgebundenen Lebens überwinden können.

Fortsetzung folgt ijH.

  1. Bereschit 2,9
  2. Sprichworte??? 3:18
  3. Dewarim 30,19

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