Du sollst bleiben a Jid – Zweiter Teil – Kasan

Datum: | Autor: Rav Itzchak Silber | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Du sollst bleiben a Jid - Kasan

Erinnerungen von Raw Jitzchak Silber SZ”L

Mit Genehmigung seines Sohnes Raw Benzion Silber schlito

Wir setzten die Publikation der Auszüge aus dem Buch der Erinnerungen von Raw Jitzchak Silber SZ”L fort. Raw Jitzchak Silber ist eine herausragende Gestalt der letzten Generation, dem es nicht nur gelungen ist, während der Sowjetzeit nichts von seiner Einhaltung von Tora und Mitzwot aufzugeben, sondern auch wörtlich Tausende Talmidim aufzustellen.

Fortsetzung

Raw Josef Rosin aus Rogatschov

In jenen Jahren lebten in Dvinsk zwei große Rabbiner – Raw Meir-Simcha und Raw Josef Rosin, der Rogatschower Gaon, wie man ihn nannte, ähnlich dem Gaon aus Wilna. Vielleicht klingt es übertrieben, aber er verfügte wirklich über ein gigantisches Wissen und konnte jedes beliebige talmudische Thema aus dem Gedächtnis nacherzählen.

Zwei solche Gelehrte! In derselben Stadt! Zur gleichen Zeit! Ich konnte einfach nicht umhin, hier Raw Josef Rosin zu erwähnen.

Obwohl sie zwei sehr unterschiedliche Menschen waren, waren Raw Meir-Simcha und der Rogatschower Gaon miteinander befreundet. Der Rogatschower Gaon überlebte Raw Meir-Simcha um 10 Jahre und verstarb 1936.

Man erzählt, dass der berühmte jüdische Dichter Bialik einmal Raw Josef besucht hatte. Anschließend fragte man Bjalik über seine Eindrücke. Seine Reaktion war voller Begeisterung:

„Wissenschaftliche Kommissionen tagen und erforschen das Leben der Juden von vor zwei-, dreitausend Jahren, basteln an verschiedenen Theorien, wie man damals den Boden bearbeitet hat, wie man sich kleidete und so weiter, aber der Rabbi hat auf jede Frage eine Antwort und alle Antworten begründet er noch mit einem Zitat aus dem Talmud. Man kann ja aus einem kleinen Stück seines Kopfes zehn Einsteins machen!“

Als man den Rogatschower Gaon nach Bialik fragte, antwortete er: „Wenn dieser Mensch gelernt hätte, dann wüsste er ein bisschen was…“

Deportation nach Kasan

Wie ich bereits gesagt hatte, es war ja Krieg. Auf die Juden in den westlichen Gouvernements Russlands brach neues Unheil herein. Unter dem Vorwand der Illoyalität seitens der Juden säuberte die zaristische Regierung das ganze Grenzgebiet von der jüdischen Bevölkerung. Tausende jüdische Familien aus Litauen und Lettland wurden zwangsweise nach Russland abtransportiert.

Meine Mutter erzählte, dass es schrecklich war. Alle, Gesunde und Kranke, Alte und Junge, Normale und Verrückte wurden reihum in Waggons hineingepfercht und ins Ungewisse abtransportiert. Die Eltern meiner Mutter fuhren zusammen mit ihr.

Mein Vater war vom Durchhaltevermögen seines Schwiegervaters unter solchen Umständen sehr beeindruckt. Mordechai-Pinchas, der Enkelsohn Raw Schapiros von seiner Tochter Chana-Gitl, die noch ganz jung verstorben war, lernte irgendwo in einer Jeschiwa. Es stellte sich heraus, dass auch er verbannt wird, aber mit einem anderen Zug. Er fand den Zug, in dem sich sein Großvater befand und rannte ganz außer sich zu ihm: Lärm rundherum, Stimmengewirr, Aufruhr, der Waggon – übervoll mit Menschen, alle sind aufgewühlt, keiner weiß, wohin sein ihn Weg führt, der Junge stand unter Tränen da und der Großvater fragte ihn, als ob nichts gewesen wäre: Na, was hast du diese Woche gelernt?

Und er saß mit seinem Enkel eine halbe Stunde lang, bis der Zug sich in Bewegung setzte und unterhielt sich unbeschwert, als wäre es ein Gespräch nach einer Schabbat-Mahlzeit. Sie schafften es wohl zusammen wegzufahren – es waren unzählig viele Menschen…

In diesen Tagen wurden auch die Eltern meiner künftigen Ehefrau gezwungen ihre Heimatstadt zu verlassen. Mir scheint, dass sie sich damals noch gar nicht gekannt hatten. Von Brest-Litowsk aus (heute die Stadt Brest, die sich auf dem Territorium von Weißrussland befindet und damals zu Russland als Teil von Polen-Litauen gehörte) gerieten sie nach Samara, das später in Kujbyschew umbenannt wurde.

Die Menschen wurden nach und nach aus dem Zug abgesetzt, je nachdem wo er auf seiner Route Halt machte. Meinen Vater und meine Mutter setzte man in Kasan ab und die Eltern meiner Mutter, Raw Schapiro und seine Frau, in Simferopol.

In der damaligen Zeit wurde den Juden nur erlaubt sich innerhalb des sogenannten Ansiedlungsgrayons niederzulassen; alle anderen Orte waren für sie mit einigen Ausnahmen gesperrt, darunter auch Kasan. Aber jetzt, wo man sie deportiert hatte, war es ihnen erlaubt in Kasan zu leben. Kasan war voll von jüdischen Flüchtlingen.

Großvater und Großmutter gelang es später, nach Litauen zurückzukehren, bevor die Sowjets dorthin kamen. Meine Eltern jedoch durften aus Kasan schon nicht mehr heraus.

Am Anfang verheimlichte mein Vater, dass er Rabbiner war, aber dann erkannte ihn jemand in der Synagoge und rief: „Rebbe, was stehen Sie denn an der Tür?“

Der Vater wollte, dass sein Dienst als Rabbiner unbezahlt bleibt und beschloss, mit Handel sein Geld zu verdienen. Er gab sein ganzes Geld ein paar Geschäftsleuten, damit man es in Umlauf brachte. Als das Geschäft anfing Gewinn einzubringen, erfuhr der Vater plötzlich, dass seine Geschäftspartner ihren Handel am Schabbat betrieben hatten.

Er weigerte sich „das Geld vom Schabbat“ anzunehmen und war somit nun gezwungen, die offizielle Stelle als Rabbiner anzutreten. Ich kann mich noch erinnern, dass sich zuhause sein Stempel mit der Aufschrift „Gouvernementsrabbiner von Kasan“ befand.

Von früh bis spät in die Nacht beschäftigte sich mein Vater mit den Angelegenheiten der Gemeinde: von zwölf bis zwei kontrollierte er täglich die Schechita (das rituelle Schlachten) am allgemeinen städtischen Schlachthof, dann unterrichtete er die Menschen in der Synagoge, er empfing Besucher in der Synagoge und zuhause und löste die Fragen und Probleme, die bei ihnen aufgetreten waren…

Als 1926 die Sowjetmacht alles, was mit dem jüdischen religiösen Leben verbunden war, vernichtet hatte und die Synagogen geschlossen worden waren, musste mein Vater seine Tätigkeit inoffiziell und im Geheimen ausüben. Von was wir lebten? Fragen Sie lieber nicht.

Zweiter Teil – Kasan

Erstes Kapitel  

Anstelle der Schule – Wie ich lernte

Ich kenne keinen anderen Vater, dem sein Sohn sein erlangtes Wissen dermaßen zu verdanken hat, wie ich meinem Vater seligen Andenkens. Es war mein Vater, der mir das „Alef-Bejs“ (das hebräische Alphabet) und die Kenntnisse im Tanach (Fünf Bücher Moses, Propheten, Schriften) beibrachte, der mit mir den „Schulchan Aruch“ (den jüdischen Gesetzeskodex), die Mischna und Gemara (Bestandteile des Talmud) lernte.

Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie mein Vater das zustande brachte, aber ich habe nicht eine einzige Stunde in der Schule gelernt. In Anbetracht der sowjetischen Verhältnisse und des Gesetzes über eine obligatorische Grundschulbildung für alle Kinder kommt das einem Wunder gleich. Damit ich einen Austausch auf gleicher Augenhöhe mit anderen Kindern hatte, nahm mein Vater eine Zeit lang private Nachhilfelehrer für mich, die sich mit mir im Rahmen des Schulprogramms ein wenig mit Mathematik, Physik und Russisch beschäftigten. Mit diesen Fächern beschäftigte er sich meistens auch selbst mit mir (wie und wann sich mein Vater diese Kenntnisse angeeignet hatte, weiß ich nicht, aber nach so etwas fragt man auch einen Talmid Chacham nicht, einem Menschen, der weiß, wie man lernt; er machte das meinetwegen, um mich bloß nicht in die Schule schicken zu müssen).

Der Vater nahm mich immer in die Synagoge mit. Mit sechs Jahren kannte ich alle Gebete aus dem Effeff und betete auswendig. Eines Tages – da war ich acht Jahre alt – saßen wir ein bisschen abseits und hörten zu, wie der Schojchet (so heißt der Schächter, der das Vieh für die Gemeinde schächtet; er soll sich mit Gesetzen der Schechita, des richtigen koscheren Schächtens, gut auskennen und ein rechtschaffener Mann sein, der in Tora kundig ist) mit einer Gruppe von Jiden (es waren vielleicht um die dreißig Mann) Mischnajot lernte. Der Vater sagte mir leise: „Ich möchte, dass du weißt: er erklärt es hier gerade nicht richtig“. Ich wunderte mich, wieso mein Vater den Schojchet denn nicht verbessert?

Der Unterricht war zu Ende, die Männer beteten das Abendgebet und gingen nach Hause. Der Schojchet kam auf meinen Vater zu, sie sprachen miteinander und der Vater sagte quasi beiläufig: „Wissen Sie, in den Mischnajot gibt es eine Stelle, die nicht alle richtig verstehen.“ und brachte seine Erklärung. „Oj,-“ sagte der Schojchet, „- auch ich habe sie falsch erklärt. Ich muss diese Stelle morgen noch einmal wiederholen und meinen Fehler korrigieren“. Da begriff ich, warum mein Vater zuerst geschwiegen hatte. Er wollte den Schojchet nicht vor allen Menschen in eine peinliche Lage versetzen. Diese Begebenheit war für mich eine gute Lektion.

Mein Vater war ein sehr sanfter und sogar schüchterner Mensch. Er sagte: „Wenn jemand etwas benötigt, dann soll er zu mir kommen und ich helfe ihm“. Meine Mutter hingegen war sehr aktiv. Wenn sie wusste, dass jemandem etwas fehlt, dann rannte sie selber hin.

Das jüdische Gesetz schreibt den Jiden vor, während des Sukkot-Festes in der Sukka (einer speziellen Hütte mit einem Dach aus Baumzweigen) zu schlafen und zu essen.

Eine besondere Verpflichtung ist es, in der ersten Nacht des Festes in der Sukka zu essen. An anderen Tagen kann man, wenn es regnet, ins Haus gehen und dort essen, aber am ersten Tag soll man abwarten bis der Regen aufhört und dann in der Sukka essen.

In Kasan hatten nur ein oder zwei Jiden die Möglichkeit eine Sukka zu bauen, wir selbst hatten diese Möglichkeit nicht. Dennoch aßen wir immer in der Sukka. Ich weiß noch, wie wir einmal mit dem Vater am ersten Tag Sukkot beteten und losgingen, um eine Sukka zu suchen (darüber, wer eine Sukka hat, sprach man nicht einmal im Minjan, so sehr wurde es geheimgehalten). Wir gingen zu einem Haus, wo es normalerweise eine gab, aber da gab es keine. Wir gingen zu einer anderen Stelle – auch nichts. Es regnete fürchterlich, aber wir führten unsere Suche fort. Wir suchten etwa vier Stunden lang – bis Mitternacht – bei wem in diesem Jahr eine Sukka steht, aber es war einfach nichts zu machen. Aber am Ende fanden wir doch eine! Und wir aßen in der Sukka.

Von dem Zeitpunkt an, ab wann ich mich erinnern kann, wohnten wir in einer staatlichen Dreizimmerwohnung. Klingt nicht schlecht, oder? Das sah aber so aus: die Eltern hatten zusammen mit mir – also zu Dritt – ein Zimmer von 12 Quadratmetern, die Nachbarfamilie ein vergleichbar großes innerhalb dieser Wohnung, das zentrale  Wohnzimmer hingegen wurde einer Jugendgruppe der Jevsekzija, der Jüdischen Sektion der Kommunistischen Partei, zugeteilt.

Übersetzung M. Vorobiev

Fortsetzung folgt ijH

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