Du sollst bleiben a Jid – Erster Teil – Mein Stammbaum

Datum: | Autor: Rav Itzchak Silber | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Mein Großvater

Vorwort 

Teil 1. Mein Stammbaum

Kapitel 1. Lucyn. Urgroßväter

Mein Ururgroßvater väterlicherseits, Rav Dovid Zijuni, lebte vor zweihundert Jahren. In den letzten Jahren seines Lebens war er Rabbiner in der Stadt Lucyn (so hieß die lettische Stadt Ludza bis 1917). Damals gehörte dieses Territorium zum Zarenrussland.

Ungefähr aus dieser Zeit stammt die Überlieferung, wie der erste jüdische Friedhof in Lucyn entstanden ist.

Das geschah im Jahr 1765, als diese Gebiete noch dem polnischen Königreich unterstanden (sieben Jahre später wurden sie an Russland angeschlossen). Dort lebte in jenen Jahren ein jüdischer Schneider namens Moische ben David. Es ereignete sich ein Streit zwischen ihm und den katholischen Nichtjuden, mit denen er zusammenarbeitete, woraufhin diese ihn beim Gutsherrn verleumdeten, Moische habe die Abbildung eines Heiligen geschändet.

Der Gutsherr ließ Moische zu sich rufen und forderte ihn auf, sich vom Judentum loszusagen und „den einzig richtigen Glauben“ anzunehmen. Als Belohnung versprach er ihm ein Haus und ein Feld, andernfalls drohte er ihm mit Verbrennung. Reb Moische sagte, dass er bereit sei zu sterben.

In diesen Zeiten wurde über Juden schnell ein Strafgericht abgehalten. Man erzählt, dass sein Sohn, nachdem der Schneider verhaftet worden war, nach Warschau fuhr, um seine Begnadigung zu erwirken. Als er aber zurückkam, war der Vater schon nicht mehr am Leben. Vor seinem Tode hatte Moische ben David „Schma, Israel….“ gesagt.

Die wenigen Juden der Stadt sammelten seine Asche auf und begruben sie. So entstand in der Stadt der erste jüdische Friedhof.

Und es erzählen die Leute, dass der Gutsherr bald darauf schwer erkrankte; im Fieberwahn erschien ihm der verbrannte Jude, und der Gutsherr schrie entsetzt: „Moische, verzeih´ mir!“

Nach Rav Dovid Zijuni fungierte als Stadtrabbiner im Laufe fast eines halben Jahrhunderts sein Sohn, Reb Naftoli, mein Urgroßvater, der in der „Geschichte der Juden in Kurland“ (1908, herausgegeben von Rav L.B. Awtschinskij) erwähnt wird.

Über ihn erzählt auch R. Isroel Seligmann, einer der Nachkommen von Zijuni. In „Megilat juchasin“ („Buch der Abstammungen“), das der Geschichte dieser Familie gewidmet ist, schreibt er (ab hier folgen Zitate in der Übersetzung des Autors —  Anmerkung der Redaktion):

Er (Reb Naftoli) stand stets um zwei Uhr nachts auf, betete das Vatikin-Gebet (kurz vor Sonnenaufgang — J.Z.), sogar an Feiertagen und an seinem Todestag. Nach dem Beten beschäftigte er sich ungefähr zwei Stunden lang mit dem Talmud-Studium, dann aß er und begann seinen Rundgang durch die Stadt: er besuchte die Kranken, die Notleidenden, half ihnen mit Rat und guten Worten. Seine seelische Wärme war erstaunlich, und er brachte viele Taugenichtse und Sünder dazu, dem Allmächtigen zu dienen. Innerhalb eines Vierteljahres beendete er das SCHAS-Studium (alle sechs Abschnitte des Talmuds; das kann man sich wirklich kaum vorstellen — J.Z.). Reb Naftoli war sehr bescheiden, er wollte nicht, dass man von ihm erfuhr, deswegen schrieb er keine Werke über die Tora. Man fragte ihn und er antwortete, immer sehr kurz. Er beschäftigte sich auch mit Kabbala…. Reb Naftoli wurde einundsiebzig Jahre alt. Er und sein ältester Sohn Reb Aaron-Selig bemühten sich darum, Juden zu befreien, die mit Gewalt festgehalten wurden, um in die Armee geschickt zu werden, und gerieten aus diesem Grund ständig mit der Leitung der jüdischen Gemeinde der Stadt in Konflikt (die Auswahl von Rekruten wurde in dieser Zeit der Gemeinde selbst aufgetragen; von oben benannte man nur die Anzahl — J.Z.). Die Leitung der jüdischen Gemeinde in Lucyn war dank des Einflusses von Reb Naftoli nicht so grausam, wie in anderen Städten“.

Laut dem Beschluss über die natürliche Wehrpflicht für Juden, der in Russland 1827 eingeführt wurde, wurden Juden mit zwölf Jahren in die Armee eingezogen. Diese Kinder wurden Kantonisten genannt und sie wurden in speziellen Bataillons für den Dienst in der russischen Armee großgezogen. Jüdische Jungen wurden gewöhnlich in die härtesten und die von ihren Heimatstätten am weitesten gelegenen Kantonistenschulen geschickt. Mit achtzehn Jahren wurden Kantonisten zu Soldaten und die in der Schule verbrachten Jahre wurden beim Armeedienst, der an sich fünfundzwanzig Jahre dauerte, nicht angerechnet. Dieser Beschluss blieb bis 1856 in Kraft.

Über die Einberufungsquote hinaus, die bei Juden um ein Drittel höher war, als bei den Christen, mussten jüdische Gemeinden ihre Nichtbezahlung der Kopfsteuern und andere Verwaltungsverstöße mit Rekruten begleichen. Viele Gemeinden erfüllten diese Norm hautsächlich auf Kosten der Kinder, indem sie sogar Sieben- bis Achtjährige für Zwölfjährige ausgaben und als Rekruten ablieferten.

Die Armee sollte die Juden „erziehen“, d.h. sie zur Taufe zwingen. Die Erziehungsmaßnahmen waren so ausgelegt, dass oftmals nicht mal die Hälfte der Kolonne am Ziel ankam.

Einmal habe ich ehemaligen Kantonisten gesehen. Das war in Kasan. Ich war ungefähr sechs Jahre alt, aber ich erinnere mich an die Erzählungen des alten Mannes, wie grausam man sie als Kinder gequält hatte: man brachte sie in Badehaus, sie wurden ausgezogen, man zwang sie barfuß auf glühend heißen Erbsen zu stehen, man verprügelte sie. Nicht alle konnten die Torturen aushalten und stimmten der Taufe zu. Ich hörte einmal, dass zu meinem Opa, Rav Itzele Reshizer, einmal ein Kantonist gekommen war, der sich taufen liess und es danach in der Armee bis zum Dienstgrad eines Generals brachte. Früher war er mit Rav Itzele in einem Cheder.

Wenn eine Kantonistenkolonne durch Lycin geführt wurde, kam Rav Naftoli immer zu den Kindern. Er kümmerte sich fürsorglich um sie, behandelte sie mit Zärtlichkeit und Liebe und war bemüht sie in ihrem Glauben zu stärken, damit sie Juden bleiben.

Fortsetzung folgt. 

Übersetzung aus dem Russischen: M. und R. Vorobiev.

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