Der Ta’anit des 20. Siwan – Die ‚Heiligen‘ von Blois

Datum: | Autor: Rav Chaim Grünfeld | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
blois

Der Ta’anit des 20. Siwan

Die furchtbare Lüge der ‚Ritualmorde‘

In der schweren Leidenszeit des Mittelalters waren die Jehudim in Westeuropa nicht nur den furchtbaren Massakern durch die Kreuzritter, den aufgehetzten Pöbel und Hetze fanatischer Mönche der katholischen Kirche ausgesetzt. Damals tauchte im christlichen Abendland auch die ungeheuerliche und verhängnisvolle Beschuldigung gegen die Jehudim auf, die sie in einem unheimlichen Licht erscheinen ließ – die Ritualmordlüge (‚Bilbul Dam‘).

Englands Chroniken registrierte den ersten und frühesten Fall. Im Jahre 4906 (1146) beschuldigte man in der englischen Stadt Norwich die Jehudim, vor Pessach einen christlichen Knaben entführt, gefoltert und getötet zu haben. Danach wiederholten sich solche Fälle in einigen Städten Englands und fanden danach auch Nachahmung auf dem europäischen Festland, in praktisch allen christlichen Ländern Westeuropas[1]. Die bösartige Verleumdung kostete hunderten, vielleicht sogar tausenden von unschuldigen jüdischen Männern, Frauen und Kindern das Leben. Der Hass unter den Christen gegen die Juden war einer der Hauptgründe für das jüdische Leiden und die Verfolgungen in den christlichen Ländern über die Jahrhunderte hinweg. Doch die wahre Massenpsychose der verleumderischen Blutbeschuldigung setzte erst nach der Tragödie ein, deren Schauplatz die Stadt Blois in Frankreich war.

Schloss, Häuser und Fluss (Loire) von Blois
die Altstadt von Blois

„Ist es verwunderlich, wenn in einer von Wahnvorstellungen und von Aberglauben geschwängerten Zeit die unsinnigsten Verbrechen und Untaten, die man den „Gottesmördern“ andichtete, von den ungebildeten Massen geglaubt wurden?“, schreibt Werner Keller, ein bekannter deutscher Journalist (der im Nazideutschland zahlreichen Juden das Leben rettete)[2].

Die ‚Heiligen‘ von Blois

„Was sollen wir unserem Herrn (Haschem) sagen, was sollen wir reden, wie sollen wir uns rechtfertigen? G’tt hat die Schuld Seiner Diener gefunden“[3]. – Mit diesen Worten leitet Rabbi Efrajim ben Jakov aus Bonn, einer der ‚Ba’ale Tosfot und Paijtanim‘ seinen erschütternden Bericht über diese schreckliche Tragödie ein:

In dem, an der Loire gelegenen Städtchen Blois (unweit von Orleans), lebten im Jahr 4931 (1171) um die 40 Jehudim. An einem Donnerstagabend, kurz vor Pessach, führte „Isaak ben Eleasar“ sein Pferd zur Tränke am Fluss, um es dort zu tränken. Zur selben Zeit befand sich dort auch ein christlicher Waffenknecht (Schildknappe/Écuyer), der das Pferd seines Herrn tränkte. Der Jid trug unter seinem Mantel ein ungegerbtes Fell. Aber eine der Ecken hatte sich gelöst und ragte von dem Mantel hervor. Als das Pferd des Dieners in der Dunkelheit die leuchtende weiße Seite des Fells sah, erschrak es und sprang zurück. Es konnte nicht mehr zum Wasser gebracht werden.

Der Diener war ein einfacher Bauernjunge, der oft in der Kirche gehört hatte, dass Juden christliches Blut für ihre Mazzot und ihren Wein zu Pessach nutzten. Der Priester hatte seine „Herde“ gewarnt, während der Pessach-Zeit ein wachsames Auge auf ihre Kinder zu haben. Als nun sein Pferd zurückschreckte, eilte der Knecht zu seinem Herren zurück und sagte: „Höre, mein Herr, was ein bestimmter Jude getan hat. Als ich hinter ihm zum Fluss ritt, um dein Pferd zu tränken, sah ich ihn die Leiche eines kleinen christlichen Kindes, das die Juden getötet hatten, ins Wasser werfen. Als ich dies sah, war ich entsetzt und eilte schnell zurück, da ich fürchtete, dass sie auch mich töten würde. Auch das Pferd unter mir war durch das Spritzen des Wassers, als er das Kind hineinwarf, so schockiert, dass es nicht trinken wollte!“

Der Diener wusste, dass sein Herr sich über das Unglück der Juden freuen würde, weil er eine bestimmte Jüdin hasste, die in der Stadt einflussreich war. Deshalb erzählte er ihm all dies. Sein Herr freute sich und sprach: „Nun kann ich mich an dieser Frau, der Pulcelina, rächen!“

Am nächsten Morgen ritt der Herr zum Herrscher der Stadt, Theobald V., Sohn von Theobald IV., Landgraf von Blois-Chartres und Schwiegersohn des Königs Louis VII. von Frankreich. Die Christen nannten ihn „den Guten“ (le Bon), aber er war ein bösartiger und grausamer Mann. Als der judenfeindlich gesinnte Landgraf die Anschuldigung vernahm, wurde er wütend. Er ließ alle Juden von Blois ergreifen und ins Gefängnis werfen, und in eiserne Ketten legen. Die einzige Ausnahme war die einflussreiche jüdische Dame, Madame Pulcelina, die für ihre Weisheit berühmt war. Es war ihr oft möglich gewesen Vergünstigungen für die jüdischen Händler von Blois vom Herrscher zu erlangen, zu dem sie bis anhin ein freundschaftliches Verhältnis hatte. Sie hoffte nun ebenfalls die Situation retten zu könne, und sprach allen Mut zu. Doch die neue Ehefrau des Grafen – Alix, die Tochter des Königs – hasste Madame Pulcelina und gab strikte Anweisungen an die Dienerschaft, Pulcelina nicht mit ihrem Ehemann sprechen zu lassen, da sie befürchtete, dass er seine Meinung ändern würde.

Der Herrscher hatte keinen Beweis gegen die Jehudim, außer den einfältigen Knecht. Der Graf war daher bereit mit den Jehudim einen Handel abzuschließen, und sie für eine große Summe Lösegeld freizulassen. Er sandte einen Jid zu den benachbarten Gemeinden und fragte sie, wie viel sie für die Freilassung ihrer Brüder zahlen würden. Die Jehudim berieten sich mit den inhaftierten Geiseln, und ihr letztes Angebot betrug 100 Silberunzen, zuzüglich der Schulden von christlichen Schuldnern in Höhe von 180 Silberunzen. Die gefangenen Jehudim erklärten aber ihren Brüdern der anderen Gemeinden, dass sie auf keinen Fall ein höheres Lösegeld für ihre Leben bezahlen sollten, damit dies nicht dazu führe, dass Christen es als profitabel ansehen würden, Juden für Lösegeld zu inhaftieren.

Es kam aber nicht mehr zu den Verhandlungen, weil der Bischof in dem Ort eintraf und darauf bestand, dass die Juden zum Tode verurteilt werden, und dass er ihre Schuld „beweisen“ würde. Er riet dem Grafen den Wahrheitsgehalt der Zeugenaussage durch die Wasserprobe zu prüfen. Die Prüfung wurde wie folgt arrangiert: Ein großes Fass wurde mit ‚unreinem Wasser‘ (Taufwasser) gefüllt, und der Diener, der „sah“, dass der Jid das Kind in den Fluss geworfen hatte, hatte den Behälter zu besteigen. Wenn er schwimmen würde, wären seine Worte wahr; wenn er untergehen würde, so hätte er gelogen.

Der Graf von Blois befahl, dass die Prüfung umgehend durchgeführt werden sollte. Nun hatte der Priester es zum Vorteil des Dieners so arrangiert, dass dieser nicht untergehen sollte. Dies war Justiz in jenen Tagen. Die Jehudim wurden, auf der Basis der Wasserprüfung für schuldig befunden und dazu verurteilt, lebendig verbrannt zu werden.

Auf das Geheiß des bösartigen Herrschers hin wurden alle 34 Jehudim, darunter 17 Frauen, ebenso Madame Pulcelina mit ihren beiden Töchter[4], in einer Scheune gebracht, um das Dornenbüsche und Reisigbündel gescharrt wurde.

Dabei rief man ihnen zu: „Ihr könnt eure Leben retten, wenn ihr eure Religion verlässt und unsere Religion annehmen werdet“. Nachdem sich aber niemand dazu bereit erklärte, begannen die aufgeregten Bauern die Jehudim auf grausame Weise zu schlagen und zu quälen. Dennoch hielten sich die ‚Kedojschim‘ stark und lehnten es immer noch ab sich taufen zu lassen. Sie ermutigten sich sogar gegenseitig standhaft zu bleiben und für die Heiligung des G‘ttlichen Namens zu sterben.

Auf das Geheiß des Landgrafen hin wurden zwei führende Jehudim, beides Kohanim, Rabbi Jechiel, der Sohn von Rabbi David haKohen, und Rabbi Jekutiel, der Sohn von Rabbi Jehuda haKohen, ergriffen und vor den anderen an einen einzelnen Pfahl gebunden, damit dies die anderen dazu führen würde zu konvertieren. Sie waren beide heilige und demütige Menschen mit großem Tora-Wissen, Schüler von Rabbenu Tam und Rabbenu Schmuel ben Me’ir, den Enkeln von Raschi. Ein dritter prominenter Jid, Rabbi Jehuda, der Sohn von Rabbi Aharon, wurde ebenfalls mit ihnen an den Pfahl gebunden.

Auf Befehl des Herrschers hin wurden die Reisigbündel entzündet. Das Feuer verbrannte die Fesseln an ihren Händen, so dass sie sich lösten. Die drei Jehudim traten unversehrt aus dem Feuer hinaus und riefen den dort versammelten Dienern des Grafen zu: „Euren Gesetzen gemäß solltet ihr uns frei lassen, da ihr gesehen habt, dass wir dem Feuertod lebend entkommen sind!“ Sie kämpften darum freizukommen, wurden aber übermannt und wurden zurück in das brennende Haus gestoßen. Sie kamen aber wieder aus dem Feuer hinaus, ergriffen einen der zuschauenden Nochrim und zogen ihn mit sich ins Feuer. Darauf rückten die Diener des Grafen mit ihren Schwerter vor, retteten den Nochri aus ihren Händen, und schlugen auf die drei Zadikim ein bis sie tot niederfielen.

Danach stießen sie ihre Körper in das Feuer, doch die Körper der drei Märtyrer, und die aller anderen 31 Jehudim blieben ganz und wurden nicht vom Feuer verzehrt; nur ihre Seelen verliessen die Körper! Als die schaulustige Menge dies sah, waren sie erstaunt und sagten einer zum anderen: „Wahrlich, dies sind Heilige!“

All dies berichtete ein Jid, namens „Rabbi Baruch ben David haKohen“, der dort zugegen war und all dies mit seinen eigenen Augen sah. Rabbi Baruch lebte außerhalb der Stadt in der Grafschaft von Blois und war gekommen über die Einzelheiten für die Freilassung der Jehudim von Blois auszuhandeln. Unglücklicherweise war er nicht erfolgreich. Doch zumindest gelang es ihn eine Vereinbarung zu schließen, um die anderen Jehudim die im Territorium dieses Herrschers lebten für 1000 Silberunzen zu retten. Ebenso löste er die Tora-Rollen und andere heilige Bücher der ehemaligen Gemeinde von Blois aus.

Diese furchtbare Gräueltat ereignete sich am Mittwoch, den 20. Siwan, im Jahre 4931 (26. Mai 1171).

All diese Fakten wurden durch die Jehudim von Orleans niedergeschrieben, eine Stadt in der Nähe von Blois, und sandten es dem „Rabenu Jakov ben Rabbi Meier“ (der Riwo“m und Enkel Raschis).

In diesem Brief wurde ebenfalls berichtet, dass, als die Flammen in die Höhe schlugen, die Märtyrer einstimmig eine Melodie zu singen begannen, die sanft begann, aber mit ganzer Kraft endete. Die Christen kamen und fragten uns: „Was für eine Art von Lied ist dies, wir haben nie eine derart liebliche Melodie gehört?“ Wir kannten es gut, denn es war die Melodie mit der wir die Tefila „Alejnu leSchabeach“ sangen: „An uns ist es, den Herrn von Allem zu preisen…, dass er uns nicht geschaffen hat wie die Völker der Erde…“

Rabbi Efrajim aus Bonn fügte an Ende seines Berichts die folgende Klage (‚Kina‘) hinzu: „Oh Tochter von Israel, weine um die Seelen, derjenigen die für die Heiligung des Namens verbrannt wurden, und lass deine Brüder, das ganze Haus Israel, den Feuertod beklagen“.

„Alle Gemeinden in Frankreich, England und dem Rheinland nahmen auf sich, den 20. Siwan als Tag der Trauer und des Fastens zu begehen. Dies wurde bestätigt durch Rabejnu Jakow ben Me’ir, der an sie Briefe schrieb um sie zu informieren, dass es angebracht ist, an diesem Tag einen Fasttag zu begehen. Er ist noch wichtiger als „Zom Gedalja“, denn ‚Jom Kippurim hu‘ – er ist ein Tag unserer Sühne!

Lange Zeit lagen die Gebeine der ‚Kedosche Blois‘ umher, und es wurde nicht gestattet sie zu begraben. Sie wurden einfach am Fuß des Berges liegengelassen, an dem sie verbrannt wurden. Erst nach grossen Bemühungen und vielem Bitten durften die Jehudim aus dem benachbarten Orleans sie begraben – „Haschem jinkom Damam, amen“[5].

Fortsetzung folgt


  1. Bis hin zur letzten bekannten Blutbeschuldigung, der Fall „Beilis“ im Jahr 1911.
  2. „Und wurden zerstreut unter allen Völkern“ von Werner Keller (München 1966), S.254
  3. Bereschit 44,16
  4. Gemäss einem Eintrag im „Nürnberger Memorbuch“ (Salfeld, ‚Das Martyrologium‘ S.125)
  5. Sefer haSechira (‚Buch der Erinnerungen‘) von Rabenu Efrajim aus Bonn (deutsche Übersetzung von R. Nissan Mindel auf chabad.org), verschiedene zeitgenösische Berichte im Sefer „Geserot Aschkenas weZorfat“ (Habermann), Pijut „Emune Schlume Jisrael“ in den Selichot des 20. Siwan, Emek Habacha von R. Josef Hakohen haRofeh (Genua 5335) Neudruck (Ausgabe ‚Ozrenu‘ Toronto 5752) Kap.7/S.55-58, Sche’erit Jisrael (Amsterdam 5503) Neudruck (Ausgabe ‚Huminer‘ Jerus. 5724/48) Kap.18/S.138-140

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