Der Löwe brüllt
אַרְיֵה שָׁאָג מִי לֹא יִירָא – „Wenn der Löwe brüllt, wer fürchtet sich nicht?“, fragt der Nawi (Prophet) Amos (3,8). „Mit diesem Passuk“, schreibt der Schlo“H haKadosch, „bezeichneten die Kadmonim[1] die Stimmung der heiligen Tage im Elul und Tischri. ארי“ה sind die Anfangsbuchstaben von Elul, Rosch haSchana, Jom Kippur und Hoschana Rabba[2]. Die Furcht vor dem Löwen bezeichnet die Stimmung dieser Tage, wie sie Rabenu Jona aus Gerondi (Girona, gest. ca. 5024/1264 Toledo) verlangt: „Vom Eintritt des Monats Elul an bis Mozaej (Ausgang) Jom Kippur fürchte und zittere man vor Angst über das Gericht!“[3] Zudem möchte man damit die schlafenden Herzen aus ihrem Schlummer wecken, dass sie diese besonders für die Tefila und Teschuwa geeigneten Tage ernst nehmen und dementsprechend nutzen![4]
Und so verhielten sich früher selbst die einfachen Leute, wie Rabbi Jisrael Salanter sZl., der Gründer der Mussar-Bewegung (gest. 5643/1883 Königsberg) in einem Brief schreibt: „Soviel ich weiss, überkam früher jedermann ein Zittern, sobald er nur das Wort “Elul“ vernahm! Dies aber trug Früchte, denn es verhalf einem dazu, G’tt näher zu kommen, jeder gemäß seiner geistigen Stufe“.[5]
Eines Tages fasste einer seiner Schüler Mut, um ihn über seine gewaltige Furcht im Elul zu fragen:
„Ist der Monat Elul etwa ein reissender Bär?“ – „Weitaus schlimmer!“, erwiderte ihm der Zadik. „Über den Löwen und Bären berichtet Dawid haMelech, dass er diese besiegt habe[6]; als hingegen die Tage des Gerichts nahten, gab er zu, dass סָמַר מִפַּחְדְּךָ בְשָׂרִי וּמִמִּשְׁפָּטֶיךָ יָרֵאתִי – „Mein Fleisch härtete sich vor Furcht, denn vor Deinem Gericht bange ich“ (Tehilim 119,120)[7].
Von Chafez Chajim sZl. wird erzählt, wie am „Schabbat Meworchim Elul“, als der ‚Schliach Zibbur‘ (Vorbeter) den Monatsnamen Elul erwähnte, der Chafez Chajim richtig zu zittern begann und anfing, stark zu Weinen. Ein Anblick, der bei allen Anwesenden einen tiefen Eindruck hinterließ und auch sie zu zittern begannen[8].
Und vom vorher erwähnten Rabbi Jisrael Salanter sZl. berichteten seine Schüler, dass nach dem ihn das „Rosch Chodesch-Benschen“ von Elul bereits zum Zittern brachte, man bei ihm bereits einen Unterschied zwischen der darauffolgenden Tefilat Mussaf und der vorherigen Tefilat Schacharit sah.
Denn das Musaf gehörte schon zu Elul…
Ferner bezeugte sein großer Schüler Rabbi Jizchak Blaser (Petersburger) sZl., dass man anhand der in seinem Gesicht erkennbaren Furcht regelrecht ablesen konnte, wie nahe man schon vor Rosch haSchana stand[9].
Wer fürchtet sich nicht?
„Als ich ein Kind war“, berichtete der Zadik Rabbi Mosche von Kobryn sZl., „spielte ich im Monat Elul mit den anderen Kindern. Da wies mich meine Schwester zurecht: „Wie? Du spielst auch heute? Es ist doch Elul, an dem selbst die Fische im Wasser zittern!“ Als ich dies vernahm, erfasste mich ein starkes Zittern, und es dauert noch bis zum heutigen Tag an!“[10]
Die Tochter des Bet Halevi sZl.[11], der Raw der Stadt Brisk, erzählte, dass ihr Vater im Elul unansprechbar war. Die Atmosphäre zu Hause in diesen Tagen war so furchterfüllt, als ob man ihn am nächsten Morgen hängen würde. Einst fragte Rabbi Schmuel Rosovsky sZl., der Poniwescher Rosch Jeschiwa, Rabbi Jizchak Se’ew Soloveitchik, den späteren Brisker Raw sZl., ob man vor dem „Jom haDin“ (Tag des Gerichts) wirklich eine so große Furcht verspüren muss, wie dies die Ba‘ale Mussar dem Volk predigen. „Ganz sicher“, antwortete der Brisker Raw, „glaube mir, bereits zwei Wochen vor Rosch Haschana schmeckt mir vor Furcht überhaupt nichts mehr!“[12]
Um sich diese Furcht und Zittern vor dem „Tag des Gerichts“ besser vorzustellen, erzählte der Brisker Raw folgende Geschichte:
„Während des Krieges gab es einige Händler, die sich ihr Geld damit verdienten, Ware über die Grenze zu schmuggeln. Einerseits war der zu erwartende Gewinn riesig, andererseits ging man ein großes Risiko ein, denn wer erwischt wurde, wurde sofort zum Tod verurteilt. Einer der Händler wollte trotz der Gefahr das Wagnis eingehen und mietete sich einen Kutscher mit seinem Wagen. Mitten in der Nacht belud er den Wagen und sie fuhren los. Gleich zu Beginn der Fahrt begann das Herz des Händlers vor Angst stark zu pochen.
Je näher sie der Grenze kamen, desto stärker wurde sein Zittern. Als sie schon vor der Grenze standen, begann auch der Kutscher vor Angst zu zittern. Denn sollte der Händler erwischt werden, würde auch er bestraft werden. Doch seine Furcht konnte nicht mit der des Händlers verglichen werden, denn der riskierte sein Leben. Die Einzigen, die ganz ruhig blieben, waren die Pferde – für sie machte es schließlich kein Unterschied, an welchem Ort sie standen, ob zu Hause im Stall oder hier bei der Grenze.
So verhält es sich ebenso mit der Furcht im Elul vor dem kommenden Gerichtsurteil:
Die Zadikim und G’ttesfürchtigen, die verstehen, in welcher Gefahr sie sich befinden und dass es am ‚Jom haDin‘ um Tod und Leben geht, sie beginnen bereits am Rosch Chodesch Elul zu zittern. Je mehr man sich dem Rosch haSchana nähert, desto größer wird ihre Furcht. Auch die einfachen Jehudim, die am Anfang noch ruhig und gelassen waren, beginnen sich spätestens an der Grenze zu fürchten: mit dem Eintritt des „Tag des Gerichts“ überkommt auch sie Furcht. Wer aber sogar an den heiligen Tagen nichts fühlt, wenn kein Bangen und Zittern sein Herz ergreift, der muss sich ernsthaft fragen, ob er den im Stall stehenden Pferden gleicht, für die jeder Tag und alles im Leben gleich und einerlei ist…“[13].
Reb Wolf Rosengarten o“h aus Zürich erinnerte sich, wie der große Poßek Rabbi Chajim Oiser Grodzinsky sZl. von Wilna die Jeschiwa von Montreux im Elul 5689/1929 besuchte. Dort ruhte er sich nach der in Wien stattgefundenen zweiten „Knessiah Gedolah“[14] aus. Am Nachmittag von Rosch haSchana begab er sich zusammen mit einigen Bachurim zu Rabbi Chajim Oiser, der sich mit ihnen über das Tagesthema unterhielt.
Unter anderem erzählte er ihnen folgende Geschichte von Rabbi Chajim Brisker sZl.[15]:
Einst besuchten einige Ba‘ale Batim am Rosch haSchana Nachmittag Rabbi Chajim und hörten ihn krächzen. Da meinte einer von ihnen: „Weshalb krächzt der Raw den so? Es ist doch klar, dass der Raw zumindest zu den „Bejnonim“ gehört[16]. Und Chasal sagen doch, dass falls der ‘Bejnoni‘ auch nur eine weitere Mizwa macht, so überwiegen seine Mizwot seine Vergehen[17]. Was soll also das Krächzen? Der Raw soll doch eine Mizwa tun und somit sicherstellen, dass seine „Kaf Sechut“ (Schale der Verdienste) die andere überwiegt?“ Als Rabbi Chajim dies vernahm, sprang er erregt auf und rief: „Wie, ich bin ein Bejnoni? Wollt ihr wirklich behaupten, dass ich ein Bejnoni sei? Wenn ich mir sicher wäre, dass ich zumindest ein Bejnoni wäre, würde ich in der ganzen Stadt Brisk umherlaufen und vor Freude jedermann küssen!“[18]
Und was ist mit uns?
Wo ist unsere Furcht vor dem Löwen geblieben? Wir gleichen einem Zoobesucher, der den leibhaftigen Löwen zwar vor Augen hat, sein furchterregendes Gebrüll hört und sich dennoch unerschrocken wieder von ihm abwendet, weil der Löwe sich in einem Käfig befindet. Dicke Eisenstäbe oder eine bruchsichere Glaswand trennen sie voneinander. Genauso verhält es sich mit uns und der Furcht des „Jom haDin“. Wir glauben nicht so richtig, dass diese zu uns gehört und denken, dass wir nichts zu befürchten hätten. Doch wie ist es dazu gekommen? Weshalb spüren wir nicht den Ernst unserer Lage wie die Zadikim? Rabbi Jisrael Salanter sZl. antwortete, dass unsere Sünden daran schuld sind, dass sie einem „Ruach Sch’tuss“ (Verrücktheit) gleichend unseren Verstand verwirren![19]
„Es stimmt“, gab der berühmte Mirer Maschgiach Rabbi Jecheskel Lewenstein sZl. zu, als er im Jahr 5706/1946 zu den hunderten geflohenen Bachurim der Mirer Jeschiwa in Shanghai sprach, „dass wir bereits Rosch Chodesch Elul gebenscht haben und dies nicht mehr dieselbe Wirkung hat wie in früheren Jahren! Es soll aber niemand denken, dass diese Hit’orerut (Erwachen, Erkenntnis) nur für vergangene Zeiten galten und die heutige Generation diese gar nicht mehr erreichen kann! Wir müssen uns bewusst sein, dass der Monat Elul weiterhin vorhanden ist und seine Aufgabe erfüllt – er lässt sich überhaupt nicht vom geistigen Tiefstand unserer Generation beeinflussen!
So wie die Naturgesetze und Naturgewalten dieser Welt, seit ihrer Schöpfung, jahrtausende lang, dem ihnen von G’tt gegebenen natürlichen Ablauf folgen – auch wenn manche Kräfte mit der Zeit schwächer wurden, so sind sie dennoch weiterhin tätig und und hören nicht plötzlich auf – so verhält es sich auch mit den rucha’nius’digen (geistigen, spirituellen) Kräfte, die ewig existieren. Es liegt also an uns, sich den Kräften des Monats Elul zu öffnen!“[20]
„Elul“ bei Reb Itzele Petersburger
Aus Litauen stammende alte jeruscholaimer Jehudim berichteten von Rabbi Jizchak Blaser sZl., einem der grössten Schüler von Rabbi Jisrael Salanter, dass er am Rosch Chodesch Elul auf das Podest stieg und mit dem Zitat des oben erwähnten Passuk begann – סָמַר מִפַּחְדְּךָ בְשָׂרִי…., wonach alle Anwesenden in Weinen ausbrachen.
Raw Jisrael Jakov Lubchansky sZl., der Maschgiach der Jeschiwa in Baranovich (gest. 5702/1942), berichtete von Reb Itzele, dass dieser im Elul die Tefilat Mincha im „Bet haMussar“ von Kowno zu dawenen pflegte. Jedesmal fand man danach seinen Platz regelrecht nass vor Tränen[21].
Reb Itzeles Schwiegersohn, haGaon Raw Chiskijahu Josef Mischkowski sZl., Raw von Krynki (Polen), erzählte von ihm, dass er bei seinen Draschot zu Elul derart innerlich bewegt gewesen war und dadurch so geschwitzt hat, dass er seine Kleider dreimal wechseln musste![22] –
Aber den ganzen Elul hindurch sprach Reb Itzele kein Wort![23]
Nach dem Ableben des „Alten von Kelm“[24] (5658/1898) wurde Reb Itzele in die berühmte Kelmer Jeschiwa eingeladen, um dort die Jamim haNora‘im zu verbringen, damit er die Bachurim G‘ttesfurcht lehre. Rabbi Elijahu Lopian sZl., der damals dort lernte, dankte Hkb“H, dass es ihm vergönnt gewesen war, einige Jahre lang die hohen Feiertage mit Reb Itzele zu verbringen. „Meine ‘Jamim haNora‘im‘ veränderten sich damals für mein ganze Leben lang“, bezeugte er[25].
- So werden die grossen Gelehrten aus alten Zeiten bezeichnet. ↑
- Schlo“H (Massechet Rosch haSchana Amud haDin), Mate Mosche 778, Elja Rabba zu Lewusch O”Ch 581,1. Siehe ferner Pele Joez (unter ‘Selichot’). ↑
- Sefer haJir’ah ↑
- Tosefet Chajim zu Chaje Adam 138,1 ↑
- Or Jisrael (Brief 14) ↑
- Schmuel Bd1/17,36 ↑
- Chaje haMussar (Bd1/S.13, Ostrowiec 5696) ↑
- Toldot haChafez Chajim S.108. S.a. T’nuat haMussar Bd4/Kap.6 ↑
- Sefer haMichtawim (Briefe des R“J Salanter, S.89 in den Fussnoten) ↑
- Or Jescharim (Torat Mosche §1) ↑
- Rabbi Josef Dov Be’er Soloveitchik (gest. 5652/1892 in Brest, Weißrussland) ↑
- Uwdot weHanhagot leBet Brisk Bd3/S.173 ↑
- Schalme Toda (Jamim haNora’im, Psicha 1) ↑
- Zweite historische Versammlung vieler Gedole haDor, Admor“im und anderer jüdischer Persönlichkeiten, die in Wien am 5.-12. Elul 5689 stattfand. ↑
- Sohn des erwähnten „Bet haLevi“ und Vater des erwähnten Rabbi Jizchak Se‘ew ↑
- Drei Gruppen werden am Rosch haSchana gerichtet: Zadikim (Rechtschaffene), Rescha’im (Frevler) und die mittlere Gruppe – die Bejnonim, deren gute Taten und Vergehen sich die Waage halten. ↑
- Siehe Rosch haSchana 16b und ausführlich Rambam Hilchot Teschuwa 3,3-4 ↑
- ibid. S.177 ↑
- Or Jisrael (Brief 14) und haElulim Kodesch laSchem §102 gemäss Sota 3a ↑
- Rabbi Jecheskel erzählte in seinen ‚Mussar-Schmussen‘: „Wer in der Jeschiwa von Kelm lernte, der wusste, was die Awodah von Elul wirklich bedeutet! Ich erinnere mich, wie mich bereits am Erew Rosch Chodesch Elul bereits eine furchtbare Müdigkeit und Schwäche befiel vor lauter geistiger Anstrengung. Man zählte die Elultage wie Edelsteine und trauerte über jeden vergangenen Tag. Doch seit wir das Bes Midrasch von Kelm verliessen, besitzen wir nicht mehr diese Madrejga…“ (Or Jecheskel Bd2/S.170 und 327). ↑
- haMeorot haGedolim (- Seizik, R“J Blaser 20) ↑
- ibid. (3) ↑
- Siehe ausführlich ibid. ↑
- Rabbi Simcha Sissel Siv (Simcha Mordechai Süsskind) Broida sZl. ↑
-
Kochwe Or-Toldot Reb Itzele S.14 ↑