Raw Schimschon Raphael Hirsch war eine herausragende Gestalt des 19. Jahrunderts, welche durch ihr segensreiches Tun das deutsche Judentum vom Untergang rettete. Raw Hirsch verfasste mehrere Bücher, u.a. seinen Kommentar zur Tora – hier Kostproben davon.
Bearbeitet von Dr. Ari Lewenstein und erschienen im Buch „Glanzlichter der Tora – Meore Hassar“.
Der Nasir
Was ist das Ziel des Nasirs?
(א) וַיְדַבֵּר ה‘ אֶל מֹשֶׁה לֵּאמֹר: (ב) דַּבֵּר אֶל בְּנֵי יִשְׂרָאֵל וְאָמַרְתָּ אֲלֵהֶם אִישׁ אוֹ אִשָּׁה כִּי יַפְלִא לִנְדֹּר נֶדֶר נָזִיר לְהַזִּיר לַה‘:
Kap. 6,1-2: G“tt sprach zu Mosche (1): Sprich zu Jisraels Söhnen und sage ihnen: sei es ein Mann oder eine Frau, wenn jemand den besonderen Willensvorsatz ausspricht, das Gelübde eines Nasirs zu geloben, [für] G“tt die Nasiraufgabe zu lösen [zu erfüllen] (2).
Die Torah sagt uns: wenn ein Mann oder eine Frau den Vorsatz fasst, für eine gewisse Zeit das Gelübde eines Nasirs zu erfüllen, also ein Nasir zu werden, so muss er oder sie gewisse Pflichten einhalten. Diese sind: die Enthaltsamkeit von Wein, das Wachsenlassen des Haupthaares und die Fernhaltung von Toten. Dies sind die äußeren Merkmale des Nasir, was aber ist der tiefere Sinn dieser zeitweiligen, freiwilligen Änderung des Lebensstils, dem die Torah einundzwanzig Pessukim widmet?!
Bedeutet נָזִיר der „Enthaltsame“?
Ein erster Anhaltspunkt ist vielleicht im Wort Nasir zu finden, mit dem die Torah den betreffenden Menschen bezeichnet. Das Wort ‚נזר‘ bedeutet sicher einmal fernhalten, absondern. Da der Nasir sich von Wein fernhalten, und diesbezüglich enthaltsam leben muss, könnte man meinen, dass er in Hinblick auf seine Enthaltsamkeit als Nasir, als der „Enthaltsame“ bezeichnet wird. Dagegen spricht allerdings, dass der Nasir auch keine Trauben, weder Schalen, noch Kerne essen darf, wofür keine grosse Enthaltsamkeit notwendig ist. Auch ist die Stellung der Enthaltsamkeit unter den Nasir-Gesetzen nicht eine hervorragende. Die Übertretung des Weinverbotes hat keine aufhebende Wirkung auf das bisher erfüllte Nasirat. Im Gegensatz dazu hebt Verunreinigung an einem Toten das Nasirat komplett auf und verlangt die Wiederholung desselben. Das verboten Abschneiden der Haare erfordert zumindest eine Verlängerung des Nasirates. Die Torah hat also keinen Grund, den Nasir nur im Hinblick auf das Gebot der Enthaltsamkeit mit dem Titel „der Enthaltsame*, zu bezeichnen.
Der נָזִיר lebt im selbst errichteten מַחֲנֵה שְׁכִינָה (Lager der g-ttlichen Präsenz)
Die Bedeutung von ‚נזר‘ als absondern kommt noch in einem anderen Zusammenhang vor: נֵזֶר bezeichnet auch den königlichen Reif, der die Person, welche diesen trägt, für alle anderen als unnahbar, als über ihnen stehend, kennzeichnet. Dies ist wohl die Absicht der Verwendung des Wortes in unserer Parascha. נֵזֶר bezeichnet hier einen Lebensstil, der denjenigen, der ihn auf sich genommen hat, aus der Mitte seiner Zeitgenossen heraus- und emporhebt. Dieser Lebensstil setzt ihm die Aufgabe, während der Zeit seines Gelübdes ganz קָדֹשׁ לַה‘ zu sein, d.h. mit seinem ganzen Sein und Wollen nur G“tt anzugehören. Er zieht einen נֵזֶר, einen Kreis, um sich, in welchem nur G“tt gegenwärtig sein soll, während alles andere und alle anderen diesen Kreis nicht betreten sollen, keinen Platz in ihm finden. Das Bilden eines solchen Kreises, um sich für G“tt und mit G“tt zu isolieren, heisst הַזִיר לַה‘ (Kapitel 6: 2, 5, 6, 12). Ein solcherart isolierter Mensch ist ein Nasir, ein Abgesonderter. Damit errichtet sich der Nasir ein eigenes מַחֲנֵה שְׁכִינָה (Lager der g-ttlichen Präsenz), in welchem auch keine טֻמְאַת מֵת (Unreinheit durch einen Toten) zugelassen ist. Dieses Absondern ist aber kein räumliches Isolieren, sondern ein Sich Konzentrieren auf das geistige und seelische Zusammensein ausschließlich mit G“tt, aber mitten im bewegten Volksleben.
Nasir sein – eine Möglichkeit für Jedermann zur Vertiefung vom Dienst des Herrn
Die Institution des Nasirtums eröffnet somit jedem Individuum im jüdischen Volk jederzeit die Möglichkeit, eine gesteigerte geistige und sittliche Veredelung seiner Persönlichkeit anzustreben, und sich dafür zeitlich (vorübergehend) zu einer priesterlichen, ja hohepriesterlichen Stellung emporzuheben (6-7). Die Nähe seines Wesens zu G“tt wird dabei wesentlich durch das Fernbleiben von טֻמְאַת הַמֵת gekennzeichnet. Der Nasir bewegt sich in dieser Zeit sozusagen in einem מַחֲנֵה שְׁכִינָה, von welchem טֻמְאַת הַמֵת ausgeschlossen ist, wie wir dies in Kapitel 5,2-3 ausführlich besprochen haben.
Es ist endlich von großer Bedeutung, dass auch das ehrenwerteste Streben nach geistiger und sittlicher Veredelung, nur im Rahmen der Torah und ihres Gesetzes erfolgen dürfen. Trotz der Freiwilligkeit des נְזִירוּת, ist dem Einzelnen der Weg zur Vervollkommnung nicht frei überlassen. Soll sein Streben erfolgreich sein, soll das Ziel erreicht werden, so muss er sich auch da, einmal mehr, von G“tt leiten lassen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass seine Isolation völlig kontraproduktive Konsequenzen haben könnte. Willst du im Dienst des Herrn wachsen, so sind die Kohanim und der Kohen Gadol (der Hohepriester) mit ihrem „Lebensstil“ das richtige Vorbild.
Das Verbot des Weines und aller Produkte des Weinstocks
(ג) מִיַּיִן וְשֵׁכָר יַזִּיר חֹמֶץ יַיִן וְחֹמֶץ שֵׁכָר לֹא יִשְׁתֶּה וְכָל מִשְׁרַת עֲנָבִים לֹא יִשְׁתֶּה וַעֲנָבִים לַחִים וִיבֵשִׁים לֹא יֹאכֵל: (ד) כֹּל יְמֵי נִזְרוֹ מִכֹּל אֲשֶׁר יֵעָשֶׂה מִגֶּפֶן הַיַּיִן מֵחַרְצַנִּים וְעַד זָג לֹא יֹאכֵל:
Kap. 6,3-4: So hat er, von schwachem und von starkem Wein sich enthaltend, sein Nasirtum zu lösen [zu erfüllen], Essig von schwachem und von starkem Wein soll er nicht trinken, alles, worin Trauben eingeweicht waren [1], soll er nicht trinken, und Trauben, frisch oder trocken, nicht essen (3). So lange seine Nasirtage dauern, soll er von allem, was aus dem Wein spendenden Weinstock bereitet wird, von Kernen bis Hülse [Schale], nichts essen (4).
Wie der ins Heiligtum eingehende Priester, und der eine Gesetzesentscheidung treffende Gesetzeslehrer sich vor dem Genuss alles Berauschenden zurückhalten muss, so auch der Nasir [2]. Allerdings ist dem Nasir alles verboten, was vom Weinstock stammt, auch wenn es nicht berauscht, aber durch seine Herkunft an den Wein erinnert. Solange er Nasir ist, soll sein Sinn auf das Heiligtum und das Gesetz gerichtet sein, solange soll er nur Kohen und Lehrer sein. Die Fernhaltung von allen Erinnerungen an den Weinstock soll ihn mahnen, stets die Klarheit des Geistes und die Ruhe des Gemütes zu bewahren, welche die Arbeit an seiner Persönlichkeit als Nasir erfordert.