Der barfüßige Rebbe

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Rebbe

Der erste Sadigorer Rebbe, Rebbe Reb Awrohom Jakoiw Friedmann sel. A., wies einen Mann an, für einen wichtigen Zweck Geld zu sammeln. Bevor er ihn verabschiedete, erzählte er ihm die folgende Geschichte:

Haraw Joissef Scho’ul Natansohn sel. A., Lemberger Raw und Verfasser vieler berühmter Werke, hatte in der Jugend einen engen Freund. Schon im Cheder lernten die beiden immer zusammen und waren unzertrennlich. Auch als Bachurim traf man die beiden stets beim gemeinsamen Lernen an, was ihnen einen Ruf als hervorragende Talmidei Chachomim einbrachte. Schadchonim wurden auf sie aufmerksam und begannen in ihren Elternhäusern ein- und auszugehen und vorzügliche Schiduchim anzutragen.

Reb Joissef Scho’ul bekam schließlich die Tochter von Haraw Jitzchok Halewi Ittinger sel. A. zur Frau.

Sein Schwager war Haraw Mordechai Seew, ein großer Masmid (jemand, der die Torah ständig lernt). Zusammen lernten sie nun ungestört weiter.

Der Freund heiratete die Tochter eines reichen Mannes und lernte die ersten paar Jahre im dortigen Beit Midrasch weiter. Allerdings stieg er dann langsam ins Geschäftsleben ein und wurde innerhalb kurzer Zeit ein vermögender Mann.

Aber auch als Geschäftsmann vergaß er seinen engen Jugendfreund nicht, sondern besuchte ihn jedesmal, wenn er geschäftlich in Lemberg war. Dabei verbrachten die beiden längere Zeit miteinander, indem sie schwierige Stellen im Lernen diskutierten.

Es vergingen einige Jahre, und die Besuche des Geschäftsmannes wurden immer seltener, bis sie ganz aufhörten.

Den Raw war davon sehr mitgenommen. Er machte sich Vorwürfe, dass er daran Schuld sei: Wahrscheinlich habe er seinen Freund nicht genug respektiert. Einige Male schrieb er ihm Briefe, sie blieben aber unbeantwortet. Er beließ es aber nicht dabei, sondern forschte auf anderen Wegen nach, wie er seinen Freund wieder zurückgewinnen konnte. Aber seine Bemühungen trugen keine Früchte. Schließlich gab er die Hoffnung auf und unternahm nichts mehr. In den darauffolgenden Monaten vergass er allmählich seinen Schmerz.

Eines Tages war er in sein Lernen vertieft, als die Türe aufging und ein Mann vor ihm stand. Reb Joissef Scho’ul hob seinen Blick und erkannte seinen verlorenen Freund augenblicklich wieder. Er bat ihn, Platz zu nehmen und begann ein lebhaftes, warmes Gespräch mit ihm zu führen. Dieser aber saß die ganze Zeit stumm da. Als er nicht einmal des Raws Fragen beantwortete, betrachtete ihn der Gastgeber eingehend. Die Haare des Geschäftsmannes waren bereits ergraut, auch sein jugendlicher Gesichtsausdruck war von ihm gewichen.

„Ich sehe“, brach der Raw das Schweigen, „dass dich etwas bedrückt.“ Die Chasal sagen, dass man seine Sorgen mit seinem Freund teilen sollte. Ich bin ganz Ohr.“

Der Freund neigte sein Haupt und brachte nur schwer verständliche Worte heraus. Leise erzählte er vom Unglück, das ihm widerfahren war. Innerhalb kurzer Zeit hatte er sein ganzes Vermögen verloren. Zuvor hatte sich seine Tochter mit einem Bochur aus einer reichen Familie verlobt; Dabei hatte er sich zu einer großen Geldsumme als Naden (Mitgift) verpflichtet. Die Familie des Chossons hatte zu diesem Zeitpunkt von dem Unglück noch nichts erfahren. Das Datum der Chatuna (Hochzeit) sei schon sehr nahe, es fehle ihm jedoch an den finanziellen Mitteln, um seinen Verpflichtungen nachzukommen.

Die Schande wäre unbeschreiblich, wenn er seinem Mechuten von seiner plötzlichen Verarmung mitteilen müsste. Bei diesen Worten fing er an zu weinen und beugte sich dabei noch mehr. Voller Erbarmen schaute der Raw seinen gebrochenen Freund an. „Sei unbesorgt“, tröstete er ihn, „du wirst deine Tochter mit Haschem’s Hilfe auf jeden Fallunter die Chupah (Traubaldachin) führen. Ich werde bald schauen, wie man das Geld für dich auftreiben könnte.“

Der Freund richtete sich wieder auf.

Des Raws Worte hatten ihn sichtlich getröstet. Er war ein anderer Mensch, als er die Wohnung wieder verließ. Der Raw war wieder alleine und entschloss sich, ein vermögendes Mitglied aus dem Gemeindevorstand zu sich zu bitten. Der Mann soll den Raw beim Geldsammeln begleiten.

Als dieser hilfbereite Gemeindevorsteher bei ihm war, stellten sie zusammen eine Liste auf, welche vermögenden Männer sie für diesen Zweck anfragen wollten.

Als sie beim ersten Mann, bei dem sie um eine Spende bitten wollten, eintraten, war dieser gerade inmitten eines Gesprächs mit einer Person. Am Ende zog der Gastgeber eine Münze hervor, gab sie seinem Gegenüber und verabschiedete sich von ihm. Der Raw hatte in ihm seinen Jugendfreund erkannt. Er war über sein Verhalten sehr erstaunt, dass dieser auch Geld sammelte.

Nun wandte sich der Hausbesitzer freundlich an den Raw und seinen Begleiter.

Ohne ein Wort zu sagen, spendete er die von ihm verlangte Summe. Der Freund hatte inzwischen das Haus verlassen.

Als die beiden bei der zweiten Person ankamen, wiederholte sich die gleiche Szene. Der Freund war auch dort und sprach mit dem Hausbesitzer. Dieser holte am Ende ein paar Groschen hervor und gab sie ihm. Der Freund bedankte sich und schickte sich an, das Haus zu verlassen. Der Raw schaute seinen Freund durchdringend an, dieser mied jedoch jeglichen Blickkontakt, begab sich zur Haustüre und war auch sogleich verschwunden. Am dritten Orte angelangt, traf ihn der Raw, als er im Vorzimmer wartete. Dieses Mal ging der Raw auf ihn zu und fragte ihn: „Mein Freund, was machst du denn hier? Bist du denn in einer so schlimmen Situation, dass du alleine betteln gehst? An mein Ansehen solltest du aber auch denken. Was für eine Schande wäre das für mich, wenn man erfahren würde, dass ich für einen normalen Schnorrer Geldsammeln gehe!“

Der Freund schaute ihn verwundert an und antwortete:

„Was hat denn eines mit dem anderen zu tun? Der Raw ist mit einer Mizwo beschäftigt und ich bin auch mit einer Mizwo beschäftigt. Was interessiert mich, was die Leute über uns sagen?“ Der Raw meinte, dass diese Antwort nicht zu seiner Frage passte. Er schwieg und ging nicht weiter darauf ein.

Eine Woche lang war der Raw mit dem Geldsammeln beschäftigt. Am Ende hatte er die benötigte Summe zusammen. Er hatte während dieser Zeit immer wieder Gewissensbisse, dass er seine Zeit nicht fürs Torahlernen nutzte. Jetzt aber, da die Summe endlich zusammen war, überkam ihn eine riesige Freude. Täglich erwartete er den Besuch seines Freundes, um ihm das Geld zu übergeben, doch dieser blieb aus.

Als eine ganze Woche verstrichen war, ohne dass dieser beim Raw erschien, liess ihn der Raw zu sich rufen. Auch diesmal stand er gebeugt und traurig vor ihm.

Der Raw konnte ihn nur sehr schwer zum Reden bringen.

Schließlich wechselte er zu Divrej Torah (Worte der Torah), was seinen Freund langsam zu sich kommen liess. Endlich war der Zeitpunkt da, um seinem besten Freund die von ihm gesammelte Geldsumme überreichen zu können. Dankend nahm es der Freund an und überhäufte den Raw mit Brachot.

Aber plötzlich wich die Freude wieder von seinem Gesicht. Ganz in Gedanken versunken saß der Freund vor dem Raw. Plötzlich raffte er sich wieder auf und sagte: „Vielen Dank für Eure Mühe, Lemberger Raw. Ich habe keine Worte für diese große Tat.“ „Man dankt nicht für Sachen“, antwortete der Raw, „zu deren Erfüllung ein Mensch verpflichtet ist. Ich habe lediglich die Mitzvah Gemilut Chasadim (Gebot der Wohltätigkeit) erfüllen wollen.“ Die Augen seines Freundes leuchteten auf. Mit sichtlicher Erregung sagte er dann: „Nicht nur mit den Lebenden kann man diese Mitzvah machen, sondern auch mit den Verstorbenen. Auch ich war dabei, diese Mitzvah zu erfüllen, als mich der Raw beim Geldsammeln antraf. Weil mich der Raw damals mit Strenge zurechtwies, glaubte ich, dass der Raw böse auf mich gewesen ist. Ich möchte daher eine Geschichte erzählen; der Raw möge nachher urteilen, ob meine Taten gerechtfertigt waren oder nicht.“

Er hielt kurz inne und begann zu erzählen:

„Die Geschichte habe ich selbst miterlebt und nicht von irgendjemandem gehört. Als ich Kaufmann wurde, reiste ich viel im Lande umher. Einmal verbrachte ich einen Schabbes in einer Ortschaft, in welcher ein Rebbe wohnte. Beim Dawenen konnte ich ihn gut beobachten, seine Avodah (Dienst G’ttest) gefiel mir sehr. Ich lernte ihn kennen und war prompt am darauffolgenden Schabbes wieder bei ihm. Meine Besuche wurden immer häufiger. Mit jedem Mal war ich mehr und mehr beeindruckt von der Heiligkeit dieses Mannes. So wurde ich sein Chossid. Alle meine Probleme, im privaten wie im geschäftlichen Bereich, wurden von ihm entschieden. Auch meine Avodath Haschem wurde vertieft, mein Lernen und Dawenen verbesserten sich deutlich, seit ich zu seinen Chassidim gehörte.“

„Es kam aber auch die Zeit, da mein Rebbe von der Welt gehen musste. Obwohl er nicht mehr jung war, betrübte mich sein Ableben sehr. Es ist unmöglich, meine unendliche Trauer in Worte zu fassen. Ich weinte den ganzen Tag und war nicht imstande, mich zu beruhigen. Auch lernte ich zur Erhebung seiner Seele viel Mischnajot und wiederholte seine Divrej Torah ständig. So vergingen einige Monate, ohne dass ich Trost fand.“

„Einmal saß ich wie immer beim Lernen, als ich plötzlich einschlief. Ich sah ein sehr helles Licht, das sich allmählich näherte. Eine heftige Angst überkam mich, dass ich mein Gesicht verdeckte. Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich die Gestalt des Rebben im Licht. Ich konnte mich an dieser herrlichen Erscheinung nicht sattsehen. Plötzlich hob sich der untere Rand des Gewandes, und ich sah den Rebben barfuß dastehen. Ich konnte kein Wort sprechen. In meiner Haut kribbelte es vor Unbehagen.“ „Was ist das?“ fragte ich schließlich.

„Höre, mein Sohn!“ antwortete der Rebbe mit trauriger Stimme.

„Ich werde dir erzählen, was mit mir geschehen ist, seit ich von dieser Welt geschieden bin. Es ist eine Mitzvah, dies zu verbreiten, damit man davon lernt.“

„Als ich vor dem himmlischen Gericht stand, wurde ich gefragt, ob ich mich in meinem Geschäftsleben von Emunah (Ehrlichkeit) leiten ließ.“ Ich antwortete, dass ich nie im Handel tätig gewesen bin. Die zweite Frage, ob ich feste Zeiten für das Torahlernen eingeteilt hätte , konnte ich mit “Ja” beantworten.

Daraufhin wurden alle meine Taten genau unter die Lupe genommen. Sie waren alle rein. So wurde ich zum Gan Eden geschickt.“

„Als ich dort ankam, waren die Tore verschlossen. Ich wartete, dass sie sich öffneten, es verstrich jedoch sehr viel Zeit, bis ich schließlich die Geduld verlor. Ich begann, nach einem anderen Eingang zu suchen. Ich fand aber nichts. Ich klopfte und rief am verschlossenen Tor. Da hörte ich eine Stimme:

„Dieses Tor hat keinen Hüter. Es öffnet sich von selbst für diejenigen, welche die Mitzvat Z’dakah mit ihrem eigenen Körper erfüllt haben!“

„Ich untersuchte meine Taten und musste einsehen, dass ich nie in meinem ganzen Leben Z’dakah gesammelt hatte. Somit habe ich auch nie die Jissurim (Mühen, Pein) dieser Mitzvah gespürt. Es erschienen zwei M’lachim (Engel). Sie brachten mich zum Beis Din Lemalah (Himmlisches Gericht).

„Die Richter boten mir zwei Möglichkeiten an: Ich würde entweder zur irdischen Welt zurückkehren, um das Verfehlte nachzuholen oder eine Wohnung außerhalb des Gan Eden (Garten Eden, also Paradies) bekommen.“

„Jede Neschamah (Seele) hat ein Gewand, das aus dem Licht seiner Mitzvot, die es in der irdischen Welt erfüllt hat, besteht. Ich sollte auch zu solch einem Gewand kommen, allerdings werden die Füße unbedeckt bleiben, weil sie nicht alle Mitzvot, die es mit ihnen zu erfüllen galt, tatsächlich ausgeführt haben.

„Ich bat um eine Bedenkfrist“

„Schließlich zog ich den zweiten Vorschlag vor, denn wer weiss, wie das folgende Leben auf dieser Welt sein wird. Der Jetzer Harah (Trieb zum Bösen) ist sehr mächtig und heimtückisch, vielleicht würde ich durchfallen. Dann hätte ich auch nichts erreicht.“

„Sogleich erhielt ich das Gewand und wurde an meinen neuen Ort geführt. Ich saß nun dort und konnte mich an allen Genüssen des Gan Eden erfreuen. Aber ich war alleine. Auch im Gan Eden ist es für den Menschen nicht gut, alleine zu sein. Deshalb bin ich jetzt zu dir gekommen.“

„Der Rebbe hob noch einmal sein Gewand, seine bloßen Füsse wurden wieder sichtbar. Noch bevor ich fragen konnte, was ich dafür tun könne, war das Licht verschwunden.“

„Rebbe, Rebbe!… Vater, Vater!“ schrie ich verzweifelt und erwachte aus meinem Schlaf. Lange war ich verwirrt. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Schließlich kam ich auf eine Idee. Ich wollte einmal in der Woche zur Erhebung der Seele des Rebben Z’daka sammeln gehen. Damit sollten des Rebbes Füße bedeckt werden, und das Tor zum Gan Eden wird sich ihm von alleine öffnen.“

„Deshalb möge der Raw verstehen, warum ich damals nicht auf ihn gehört habe, als mich der Raw anwies, mit dem Geldsammeln aufzuhören, denn schließlich ging es dabei nicht um mein Wohl, sondern um dasjenige des Rebben.“

Als der Freund mit dieser Geschichte fertig war, verabschiedete er sich vom Raw und reiste zurück nach Hause.

Von da an nahm sich Raw Joissef Scho’ul Natansohn sel. A. vor, viermal im Jahr Z’dakah zu sammeln und das Geld selbst unter den Armen und Bedürftigen zu verteilen.

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