Kapitel 7
Die ersten Jahre des neunzehnten Jahrhunderts waren für ganz Europa, besonders aber für das unmittelbar an Frankreich grenzende westliche Deutschland eine überaus bewegte Zeit. Wie eine aufgehende Sonne war Napoleon am Nachthimmel Europas blutigrot heraufgezogen, hatte die alte Nacht verscheucht und sein siegreiches Fortschreiten lenkte aller Augen auf ihn. Er hatte den kühnen Traum verwirklicht, in dem sich Frankreich bis zum Rheinstrom erstreckt, und diesen zur Grenzscheide zwischen Frankreich und Deutschland gemacht. Während auf dem linken Rheinufer alles französisch war, herrschten rechts vom Rhein noch die deutschen Fürsten in ihrer bisherigen Weise, in Wirklichkeit herrschte Napoleon aber auch hier, denn die Fürsten und ihre Regierungen waren nur willenlose Werkzeuge in Napoleons Händen. Durch diese Abhängigkeit verloren die Fürsten und ihre Beamten jedes Ansehen bei ihrem eigenen Volke.
Diese Missachtung steigerte sich zu offenem Trotz gegen jede Obrigkeit, von der man nichts hoffte und nichts fürchtete.
Dazu kam der schwere Druck, der auf allen Volksklassen durch die unablässigen Opfer an Gut und Blut lastete, welche die fortwährende Kriegsbereitschaft aller Staaten erforderte. Am schwersten lastete dieser Druck auf den unteren Ständen. Die Obrigkeit, die Justiz, die den Gedrückten nicht helfen konnten, verloren bei dem eigentlichen Volke jedes Ansehen; es suchte sich selber zu helfen. Es organisierten sich ganze Räuberbanden, die eine Art Vehmgericht ausübten, missliebige Beamten beseitigten, reiche Höfe plünderten und so in ihrer Weise die Verschiedenheit des Besitzes ausglichen.
Dadurch erfreuten sich die Räuber der Sympathien der unteren Volksschichten, und auf diese Weise erlangten diese Räuberbanden eine Macht und einen Einfluss, wie es in gewöhnlichen Zeiten nicht möglich wäre. Die Räuber konnten die kecksten Überfälle wagen und sich in ihre Schlupfwinkel zurückziehen, um von dort wieder neue Plünderungen vorzunehmen, ohne fürchten zu müssen, dass ein Bauer oder Handwerker sie verrate. Wer sich Härte und Ungerechtigkeit gegen die unteren Stände zu Schulden kommen ließ, fand in diesen Räuberbanden seinen Rächer. Das Volk verklagte seine Peiniger nicht bei den ohnmächtigen Gerichten, sondern bei den Räubern, die prompte Justiz übten und dem Angeklagten in der folgenden Nacht das Haus abbrannten, nachdem sie zuvor die ganze Habe geplündert und bei Seite geschafft hatten.
Unter den Räuberbanden jener Zeit, deren Taten noch heute im Volksmund leben, ist wohl diejenige des Schinderhannes die populärste.
Es war ein Räuber von Volkes-Gnaden, der so recht nach dem Geschmack und Gefallen des Volkes sein Handwerk betrieb und dadurch der erklärte Liebling großer Volksmassen war. Er war zu Mühlen bei Nahstätten im Nassauischen geboren und hieß von Hause aus Johannes Bückler. Er selbst nannte sich mit Vorliebe: „Johannes durch den Wald“ und unterzeichnete auch so seine Befehle und Proklamationen, die er als Räuberhauptmann ausstellte.
Seine Banden waren gut diszipliniert, er selbst aber war nichts weniger als tollkühn und todesmutig. Er verstand es jedoch, aus seinen Genossen treue Untergebene zu machen, welche vor den verwegensten Angriffen nicht zurückschrecken. Er war überall und nirgends. Während Soldaten und Polizisten ihn in den tiefsten Wäldern suchten, hielt er in einem der Dörfer an der Nahe oder Mosel mehrtägige öffentliche Zechgelage, führte die zu seiner Gefangennahme ausgesandten Mannschaften durch falsche Berichte „vom Schinderhannes“ auf falsche Fährten und hatte auf diese Weise immer die Lacher auf seiner Seite.
Bei allen seinen Streifzügen und gewagten Unternehmungen war er, wo es nur irgend anging, darauf bedacht, dass auch der Humor zu seinem Rechte kam.
Eine Gesellschaft von dreißig Kaufleuten, die sich wegen der allgemeinen Unsicherheit vereinigt und bewaffnet hatten, um ihre Ware zu befördern, wurde von Schinderhannes angehalten und beraubt. Als Strafe dafür, dass sie Widerstand geleistet und von ihren Waffen Gebrauch gemacht hatten, mussten alle den rechten Schuh ausziehen und konnten ihre Weiterreise nur mit einem Schuh an den Füssen antreten. Solche und ähnliche Züge erhielten und erhöhten seine Volkstümlichkeit.
Diese kurzen flüchtigen Züge zur Schilderung jener Zeit dürften genügen, um uns die Angst und den Schrecken zu vergegenwärtigen, mit welchen jeder Reisende damals eine Reise antrat, sobald er das Gebiet streifte, in welchem der berüchtigte Räuberhauptmann mit seiner Bande hauste. Sander Goldsticker konnte aber nicht zurück nach Koblenz, ohne die Gegenden zu passieren, in welchen der Schinderhannes alles weit und breit unsicher machte. Auf die Messebesucher, die jetzt hin und zurück reisten, hatten es die Räuber besonders abgesehen, und dass die jüdischen Reisenden besonders Veranlassung hatten, ängstlich zu sein, braucht nicht erst gesagt zu werden.
Aron Schotten hatte deshalb seinem Lebensretter (s. Kap. 6) geraten, sich den kleinen Umweg nicht gereuen zu lassen und mit ihm nach Michelstadt zu gehen, der Baal-Schem werde ihm gewiss ein Mittel geben, das ihn ungefährdet durch alle Gefahren nach Koblenz bringen werde. Dieser hatte jedoch keinen Glauben an eine derartige Hilfe und war nur widerwillig gefolgt, mehr um den Freund zu begleiten, den er nach den Aufregungen der jüngsten Wochen nicht gern allein auf dem Wege wusste, als für sich etwas zu erlangen.
„Nun, wie gefällt Euch der Baal-Schem?“ fragte Aron Schotten seinen Begleiter, als sie in dem Zimmer ihres Wirtshauses sich niedergelassen hatten.
„Was wollt Ihr nur von einem Baal-Schem?“ erwiderte Goldsticker, „Ihr seht doch, dass er sich selber nicht für einen Baal-Schem ausgibt, warum wollt Ihr denn mit aller Gewalt ihn dazu machen? Ich glaube, dass er ein sehr gelehrter, frommer Mann ist, mit vielen hervorragenden, guten Eigenschaften. Er ist gewiss viel mehr, als er in seiner Bescheidenheit selber glaubt, und dieser Zug hat mir besonders gut gefallen, aber — —“
„Aber?“ fiel ihm Schotten ins Wort. „Lassen wir das folgende unausgesprochen. Wenn der Rabbi weiter nichts wäre, als das, was Ihr von ihm haltet, so muss auch das vollkommen genügen, dass einem der Rat, das Gebet und der Segen eines solchen Mannes nicht gleichgültig sein kann. Was habt Ihr riskiert, wenn Ihr morgen früh dem Rabbi sagt, dass Ihr nach Hause reisen wollt und große Furcht vor dem Schinderhannes habt, er soll Euch einen Rat, seinen Segen geben, und Euer in seinem Gebete gedenken?“
„Ihr habt Recht, Rabbi Aron, das kann nichts schaden, kann nur nützen, und ich werde Euren Rat befolgen“, erwiderte Goldsticker.
Als am anderen Morgen nach dem Morgengebet sich die beiden Freunde zum Abschied bei dem Rabbi einfanden, trug Goldsticker sein Anliegen vor.
Einen Augenblick sah der Rabbi dem Bittsteller mit seinen klugen, milden Augen ins verdüsterte Antlitz und sagte dann mit heiterem zuversichtlichen Lächeln: „Tretet nur getrost Eure Reise an, der Schinderhannes tut keinem Juden etwas zu leid.“
„Verzeiht, Lehrer und Meister“, entgegnete Goldsticker, „ich weiss nicht, ob ich den Rabbi richtig verstanden habe. Der Schinderhannes tut keinem Juden etwas zu leid? Hat der Rabbi nichts von den Beraubungen, Plünderungen und selbst Mordtaten gehört, die der Schinderhannes und seine Leute gerade an Juden vorgenommen haben?“ „Sind Euch Fälle bekannt, in welchen Juden vom Schinderhannes angefallen wurden?“ fragte der Rabbi. „Ich meine nicht allgemeine Gerüchte und Redensarten, auf die man niemals etwas geben kann, besonders in so aufgeregten Zeiten wie die jetzigen. Sondern ob Euch jüdische Leute persönlich mit Namen bekannt sind, die durch den Schinderhannes zu leiden hatten?“
Einen Augenblick besann sich der Gefragte, es erschien ihm nicht so leicht, dem geäußerten Wunsche zu entsprechen.
„Mit genauen Daten, für die ich mich verbürgen könnte, kann ich im Augenblick meine Angaben nicht belegen und es wäre schon möglich, dass man manchen Raubüberfall auf Rechnung des Schinderhannes setzt, an dem er ganz unschuldig ist. Aber hat der Rabbi nicht von der Brandschatzung gehört, mit der Mendel Löw in Sötern heimgesucht wurde? Sie hat den wohlhabenden Mann an den Bettelstab gebracht. Er hat in seinem Unglück selber an meiner Türe gepocht und mir alles erzählt.“
“Davon ist mir nichts bekannt“, entgegnete der Rabbi „die Sache kommt mir sehr auffallend vor. Es wäre aber immerhin möglich, dass dieser Mendel Löw irgend eine Härte oder Ungerechtigkeit gegen einen Bauern oder Taglöhner sich hätte zu Schulden kommen lassen. In diesem Falle sind dem Schinderhannes Juden und Nichtjuden gleich. Ich meine nur, dass der Schinderhannes keinem Juden etwas zu leid tut, der ruhig wie Ihr seines Weges zieht. Welchen Weg nehmt Ihr nach Koblenz?“
„Mein kürzester Weg wäre von hier nach Bensheim an der Bergstrasse, von da ginge ich nach Kreuznach und über den Hunsrück nach Hause. Aber man hat mir gestern von zu Hause geschrieben, dass der Schinderhannes gegenwärtig in Griebelschied bei Kirn einen großen mehrtägigen Ball veranstaltet hat. Dem will ich aber aus dem Wege gehen und werde daher wahrscheinlich über Mainz reisen. In Wirklichkeit kann man aber heute nicht wissen, wo die Räuber morgen sind; vielleicht wissen sie es selber nicht. Als ich zu Hause fortfuhr, feierte er mit großem Gelage das Kirchweihfest in Meddersheim, Kanton Meisenheim, und die Nacht darauf hatte er zwölf Stunden davon entfernt den Postwagen ausgeraubt.“
Der Rabbi strich bedächtig mit der linken Hand seinen bis auf die Brust herabwallenden Bart, während die rechte nachdenklich einige Sekunden auf dem Tische trommelte.
Als ob er in dieser kurzen Zeit einen Entschluss gefasst hätte, der ihn einige Überwindung kostete, sagte er dann mit entschiedener Festigkeit:
„Reb Sander, ich bleibe dabei, der Schinderhannes wird Euch kein Haar krümmen. Aber es gibt noch viele andere Räuber und Mordgesellen jeder Art, die Euch auf dem Weg belästigen können, vor diesen müsst Ihr viel mehr auf der Hut sein. Damit auch diese Euch nichts anhaben, müsst Ihr Euren Reiseplan aufgeben und denjenigen annehmen, den ich Euch empfehle. Ihr dürft dem Schinderhannes nicht aus dem Wege gehen, sondern Ihr müsst ihn aufsuchen. Ihr sagt jedem, der Euch anfallen sollte, Ihr seid auf der Reise zum Schinderhannes begriffen und zwar in einer besonderen Mission. Der Schinderhannes werde Euer Blut rächen, wenn es jemand zu vergießen wagen sollte. Davor hat jeder Räuber Respekt und führt Euch selber in den Schlupfwinkel, in welchem der Räuberhauptmann gegenwärtig residiert. Verstanden?“
Der Angeredete sah den Sprecher starr an, als zweifle er an seiner Zurechnungsfähigkeit. Dann sammelte er sich und wagte zu bemerken:
„Nein, Rabbi, das habe ich nicht verstanden. Ich solle einem Räuber und gar dem Schinderhannes sagen, ich käme in einem besonderen Auftrag? Aber da ich ja in Wirklichkeit keinen Auftrag habe, so werden mich doch beide töten ?“
„Nur gemach“ unterbrach ihn besänftigend der Rabbi, „den Auftrag sollt Ihr sofort haben und zwar von mir selber. Ihr verlangt den Räuberhauptmann unter vier Augen zusprechen. Ihr dürft ihn selbstverständlich nie anders anreden als „Herr Hauptmann“. Dann sagt Ihr ihm, der Mann, der ihm einmal in dem großen Walde zwischen Babenhausen und Seligenstadt Reis gegeben habe, sende ihm durch Euch einen Gruß und mahne ihn an sein damals gegebenes Versprechen, denn man sage allgemein, dass er es wiederholt gebrochen habe. — Weiter habt Ihr nichts zu tun. Wenn ihr das genau befolgt, wird Euch kein Räuber auf dem Wege etwas anhaben und Ihr werdet mit G-ttes Beistand sicher Eure Familie erreichen. Jetzt aber bitte ich um Nachsicht, denn es ist die Zeit, die meinen Schülern gehört.“
Fortsetzung folgt ijH