„Arami owed Awi, wajered Mizrajma…“ – „der Aramäer (Lawan) wollte meinen Vater vernichten, er zog hinab nach Mizrajim…“ (26,5)
Eines der fröhlichsten jährlichen Ereignisse in Jeruschalajim war die Zeit, als die „Bikurim“ (Erstlingsfrüchte) dargebracht wurden. Mit Musik und Gesang wurden die Leute begleitet, bis sie zur „Asara“, dem Vorhof des ‘Bet haMikdasch’, kamen. Dann begannen die Levijim mit ihrer „Schira“ (Gesang) und sangen (Tehilim 30,2): „Aromimcha Haschem, ki dilitani, welo Simachta oijwaj li“ – „Ich erhebe Dich, Haschem, weil Du mich (aus der Tiefe) heraufgezogen hast, und nicht meine Feinde über mich triumphieren ließest“.[1]
Eigentlich hätte es sich bei einem solchen Freudenfest gehört, Haschem für die Früchte und die gelungene Ernte zu loben und danken. Stattdessen singen die Levijim ein Dankeslied, weil “Er uns aus der Tiefe erhoben“ hat?
Von welcher Tiefe ist hier die Rede, und was hat dies mit dem Bringen der Erstlingsfrüchte zu tun?
Ähnliches wiederholt sich auch später nach dem Überreichen der ‘Bikurim’ an den Kohen, wenn der Darbringende sein „Widui“ (Sündenbekenntnis) spricht: „Arami owed Awi, wajered Mizrajma…“ Man erzählt von den Verfolgungen, die Jakov Awinu durch Lawan – dem Schwindler – erlitt, der ihn vernichten wollte. Man berichtet von den Misshandlungen durch die Mizrim, erwähnt die wunderbare Rettung aus der langjährigen Knechtschaft und die Besitznahme von Erez Jisrael und sagt erst dann: „Und jetzt bringe ich (Dir) die Erstlinge der Früchte des Bodens, den Du, Haschem, mir gegeben hast…“
Weshalb nennen Chasa“l diesen Dank „Widui“, wenn dieses Wort eigentlich ein Sündenbekenntnis bezeichnet? Von welchen Sünden ist hier die Rede?
Als Leitweg eines Jehudi geben Chasa“l bekanntlich die folgende Regel: „Da meAjin bata…“ – „Wisse, woher du kommst, wohin du gehst und wem du später Abrechnung geben musst“[2]. Es sollte uns in jeder Lebenslage klar sein, woher wir kommen – nämlich aus der Tiefe von Mizrajim, und wohin wir gehen – nach Erez Jisrael zum ‘Bet haMikdasch’.
Dies ist das Ziel jedes einzelnen Jehudi: sich aus der Tiefe des Unreinen (Mizrajim) zu erheben und sich der Reinheit und Heiligkeit (Erez Jisrael/Bet haMikdasch) zu nähern.
Eine der großen Gefahren nach der Ankunft des Klall Jisrael in Erez Jisrael war, dass sie durch die viele Arbeit auf dem Feld und in den Weinbergen kaum noch Torah lernen würden. Daher gab die Torah dem Landwirt die Mizwa von „Bikurim”, damit er sich mit seiner geleisteten Arbeit und erhaltenem Ernteertrag nicht in privatem Rahmen freut, sondern diese Freude im Öffentlichen im ‘Bet haMikdasch’ feiert. Dies soll ihn nach getaner Arbeit dazu bewegen, wieder an den Kohen – den heiligen G’ttesdiener – zu denken, an Hkb“H und an die Torah.
So wurde jeder arbeitende Jehudi, gleich nach seinem ersten Arbeitserfolg, daran erinnert, dass die Arbeit, die Bemühungen um seine Parnassa, nur eine begrenzte Unterbrechung seiner eigentlichen Aufgabe im Leben ist, der immerwährenden Pflicht des Torah-Lernens und der ‘Awodat Haschem’ (G’ttesdienst)! Aus Ernährungs- und Existenzgründen müssen wir das Lernen unterbrechen und uns auf das Feld begeben. Doch jede freie Zeit muss dem ‘Limud haTorah’ und ‘Kijum haMizwot’ (Erfüllung der Gebote) gewidmet sein und dürfen nicht vernachlässigt werden.
Aus diesem Grund unterbrachen auch die Handwerker in Jeruschalajim ausnahmsweise ihre Tätigkeit und gingen auf die Straße hinaus, um die “Bikurim-Bringenden” zu begrüßen[3]. Auch sie wurden mit den Bikurim an ihre eigentliche Pflicht und Aufgabe im Leben erinnert.
Deshalb ist im Gesang der Levijim von der „Erhebung aus der Tiefe“ die Rede. Dies war ein Lob an Hkb“H und zugleich eine Mitteilung an die Bikurim-Bringenden: „Erinnere dich an Mizrajim, wie Hkb“H dich aus der Tiefe erhoben hat und dich beim Berg Sinai näher zu sich brachte. Dies ist auch jetzt in Erez Jisrael bei deiner Arbeit auf dem Feld und Weinberg deine Pflicht!“
Steht dann der Bikurim-Bringende im ‘Bet haMikdasch’ vor dem Kohen, und erinnert sich, während er seinen Dank zu G’tt spricht, dass er seine Pflicht nicht hundertprozentig erfüllt hat – so bereut er dies und sein Dank kommt daher einem „Widui“ (Sündenbekenntnis) gleich! Er bekennt sein Vergehen vor Hkb“H, dass er den vorgeschriebenen Weg der ‘Awodat Haschem’ nicht immer befolgt hat. Hat er sich denn immer an seine Herkunft erinnert (26,5): „Arami owed Awi, wajered Mizrajma…“ – „der Aramäer (Lawan) wollte meinen Vater vernichten, er zog hinab nach Mizrajim…“ und sich das zu erreichende Ziel vor Augen geführt (26,9): „waJewi’ejnu el haMakom haSeh…“ – „er brachte uns an diesem Ort“? Wäre dem so gewesen, so wäre er doch auf einer ganz anderen, viel höheren Stufe im G’ttesdienst gestanden!
Mit dem Leinen der Parschat Bikurim vor „Rosch haSchana“ stellen auch wir uns heute diese Fragen:
Bringen auch wir unsere „Bikurim“, die Arbeitserfolge und Errungenschaften mit Hkb“H in Verbindung? Sind diese immer mit unserer eigentlichen Pflicht, dem Torah-Lernen und dem Erfüllen der Mizwot verbunden und stimmen sie mit der „Haschkafat haTorah“ (Lebensanschauung der Torah) überein? Endet nicht auch bei uns oft unsere Danksagung an Hkb“H wieder in der Form eines „Widui“, weil wir uns beschämend eingestehen müssen, wie weit wir vom Ziel abgewichen sind?!
Und so leiten wir die täglichen ‘Selichot’, die wir mit dem Ausklang dieses Schabbat zu sagen beginnen, mit dem überaus passenden Satz ein: „Lecha Haschem haZedaka, weLanu Boschet haPanim…“ – „Dein, G’tt, ist die Gerechtigkeit, und uns bleibt (nur) die Scham…“