Wochenabschnitt Ki Tawo – Worin liegt der Zweck des „Widui-Sagens“?

Datum: | Autor: Rav Chaim Grünfeld | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Ki Tawo

Worin liegt der Zweck des „Widui-Sagens“?

Nach Abschluss des dreijährigen Ma’asser-Zyklus (einer siebenjährigen Schmitta-Periode) wird am ‚Erew Pessach‘ des vierten Jahres das sogenannte „Widuj-Ma’assar“ gesagt[1]. Darin erklärt jeder Jehudi vor G’tt, dass er alle Pflichten der Abgabe von Terumot- und Ma’assar erfüllt und alles rechtmäßig der Halacha entsprechend ausgeführt hat.

Seinen Bericht schliesst er mit den Worten: „Schamati beKol Haschem Elokai – ich habe auf die Stimme von Haschem meinen G’tt gehört. Ich habe alles getan, wie Du es mir befohlen hast“ (26,14).

Diese letzte Bemerkung ist erstaunlich: Ist es denn keine Anmaßung zu behaupten, man habe G’ttes Gebote „vollständig wie befohlen ausgeführt“. Wer kann von sich sagen, dass er eine Mizwa gänzlich „leSchem Schamajim“ verrichtet hat, sie wirklich ganz exakt gemäß der Halacha und mit der richtigen ‚Kawana‘ (Andacht) ausgeführt hat?

Es scheint, dass Raschi wegen dieser Frage den Passuk nicht dahingehend erklärt, dass es sich auf die Erfüllung aller Pflichten von Bikurim und Ma’assrot bezieht, wie es z.B. Chiskuni erklärt. Stattdessen möchte er den Passuk „Ich habe ganz gehandelt wie Du mir befohlen hast“ so verstehen: „Ich habe mich daran erfreut und anderen damit Freude bereitet“[2].

Die Tora weist uns nämlich an, die Ma’asser Scheni-Abgabe in Jeruschalajim zu essen und dabei die ganze Familie, wie auch den Levi, der keine Felder besitzt, einzuladen (Dewarim 12,18). Demzufolge wird im erwähnten „Widui“ gar nicht behauptet, alle oder gewisse Mizwot perfekt ausgeführt zu haben. Mit dem Wort „ganz wie befohlen“ ist nur die Erfüllung einer einzigen g’ttlichen Anweisung gemeint: das Essen des „Ma’assar Scheni“, bei dem man sich und andere Personen erfreut hat.

Wie verhält es sich jedoch mit den anderen Mefarschim (Kommentatoren), die diesen Passuk auf die gewohnte Weise verstehen, dass hier von der exakten Erfüllung aller Halachot der Terumot-Abgaben die Rede ist?

Ausserdem wird die Frage gestellt, warum eine solche Aufzählung der erledigten Pflichten überhaupt als „Widui“ bezeichnet wird. Das Wort bedeutet doch ein „Sündenbekenntnis“, die Aufzählung von Verfehlungen und Unterlassungen. Hier aber wird ganz im Gegenteil die genaue Beachtung und Erfüllung des g’ttlichen Willens deklariert.

„Es kommt oft vor“, pflegte der Belser Raw, Rabbi Jissachar Dov Rokach sZl., sagen, „dass der Mensch – nachdem er eine gewisse Mizwa verrichtet hat – nicht zufrieden mit seiner Leistung ist und bei sich denkt: „Ach, ich hätte es noch viel besser machen können!“ Durch diese „Charata“ (Reue) und die Gedanken der Teschuwa ergänzt er nachträglich die bereits erfüllten Mizwot, die er damals nicht so ganz wie sie sein sollten, gemacht hat!“

Demgemäß begründete Rabbi Schalom Moskowitsch, der Schotzer Rebbe aus London sZl., warum die Tora von uns verlangt, nach Abschluss aller Ma’asser-Abgaben vor G’tt eine Bilanz zu ziehen. Da jeder Jehudi weiss, wie es um die Qualität seiner Mizwot steht, wird er bei der Aufzählung aller Mizwot der ‚Terumot und Ma’assrot‘ ganz sicher Reuegefühle wegen seiner eher dürftigen Leistungen haben. Und deshalb wird diese Aufzählung „Widui“ genannt. Danach jedoch gestattet uns die Tora, dass wir von uns selbst behaupten dürfen: „Ich habe getan ganz wie Du mir befohlen hast“, weil durch diese Reue und Bussegedanken, die bereits erfüllten Mizwot im Nachhinein ergänzt worden sind[3].

Diese Lehre ist eine sehr aufschlussreiche Richtlinie für den „Monat Elul“.

Des Öfteren schreckt der Mensch vor der echten ‚Teschuwa‘ zurück, weil er bereits nach einer kurzen Besinnung die Ausweglosigkeit seiner Lage feststellt. Er wirft sofort das Handtuch und gibt auf: So viele Sünden sind während des vergangenen Jahres begangen worden und selbst die geleisteten Taten sind von geringer Qualität.

Mit dem jährlichen Leinen der Mizwa des „Widui-Maasser“ im Elul lehrt uns die Tora, dass es immer einen Ausweg gibt und dass die Tore der Teschuwa ständig offen sind[4]. Es ist eben dieser „Widui“, die Reue und Einsicht der schwachen Leistungen, mit der man die Möglichkeit besitzt, alles Vergangene, die bereits ausgeführten Mizwot wieder in Ordnung zu bringen.

In diesem Sinn erlangt das mehrfache Widui-Sagen in den kommenden Tagen der ‚Selichot und Jamim Nora’im‘ eine viel tiefere Bedeutung: Es geht dabei nicht nur um eine Selbstanklage und das Bekennen seiner Sünden, sondern ist zugleich auch eine Revision und nachträgliche Ausbesserung der begangenen Taten.


  1. Raschi 26,12 gemäss Mischna Ma’assar Scheni 5,6
  2. Gemäss Mischna Ma’assar Scheni 5,12
  3. Sefer Or Ganus
  4. Midrasch Eycha Rabba 3

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