Wochenabschnitt Wajischlach – Die Kraft des Zibur

Datum: | Autor: Rav Chaim Grünfeld | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
zibur
Seltenes Foto: Tora-Lernen in einem KZ (Archiv Jad Waschem)

Die Kraft des Zibur

וַיִּוָּתֵר יַעֲקֹב לְבַדּוֹ וַיֵּאָבֵק אִישׁ עִמּוֹ עַד עֲלוֹת הַשָּׁחַר, וַיַּרְא כִּי לֹא יָכֹל לוֹ וַיִּגַּע בְּכַף יְרֵכוֹ…

„Jakov blieb alleine zurück, da rang ein Mann mit ihm bis der Morgen aufging. Als er sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, da griff er nach dem Ballen seiner Hüfte…“ (32,24-25)

„Es ist nicht die Art des ‘Jezer haRa‘, den Menschen gleich zu einer großen Sünde zu verleiten“, lehren uns Chasal. Vielmehr begnügt er sich, den Mensch zuerst zu kleinen und scheinbar harmlosen Awerot zu verführen. Ist ihm dies gelungen, so probiert er es danach mit einer größeren Sünde bis er ihm schließlich so in seinen Krallen hat, dass er ihn gar zu Götzendienst verführen kann[1].

Muss er aber einsehen, dass er es mit einem Zadik zu tun hat, der sich nicht so leicht überreden lässt, auch nur in einer ganz kleinen Sache gegen die Tora zu verstoßen, so versucht der Jezer haRa ihm mit einer anderen Taktik beizukommen. Statt ihn zu Awerot zu verleiten, hilft er ihm bei der Ausführung der Mizwot. Denn dies ist die einzige Sprache, mit der sich der Zadik überreden lässt. Der Jezer haRa beabsichtigt jedoch, sich bei der Mizwot-Ausübung des Zadiks zu beteiligen und mitzumischen, indem er ein wenig Stolz oder andere fremde Gedanken einfliessen lässt.

Deshalb warnen die Ba’ale Mussar, dass man bei der Teschuwa und der dafür notwendigen Selbstanalyse nicht nur seine Untaten kontrollieren muss, sondern auch die guten Taten genauer unter die Lupe nehmen sollte: „Sind meine Mizwot, mein Tora-Lernen und mein Dawenen wirklich rein und leSchem Schamajim, wie sie sein sollten, oder ist es etwa meinem Feind gelungen, auch da einzudringen?“

In den Sefarim haKedoschim wird in der Begegnung zwischen Jakov und Esaw der tägliche Kampf im Innern des Menschen zwischen Gut und Böse gesehen. Die ‘Awoda‘ von Jakov ist es, den Esaw zu besiegen und seinen Fängen zu entgehen. Die beste Möglichkeit zu siegen besitzt Jakov aber nur in den Zelten der Tora, so wie es sein Vater Jizchak bereits betont hatte (27,22): „haKol Kol Jakov wehaJadajim jedej Esaw“ – nur mit der Stimme der Tora vermag Jakov den Händen des Esaw zu entgehen. So lautet auch der bekannte Spruch von Chasal: „Wenn dich dieser Verabscheuungswürdige trifft, so ziehe ihm ins Bet haMidrasch!“[2]

Bei eingehender Betrachtung dieser beiden Stellen, fällt jedoch auf, dass hier nicht die Rede vom Tora-Lernen und ‘Kijum haMizwot‘ des einzelnen Jehudi ist, sondern in vorderster Linie eines ‘Zibur‘ (einer Gemeinschaft). Jizchak Awinu spricht nicht von „Kol Jakov“ – einer einzelnen Stimme, sondern „haKol Kol Jakov“ – von mehreren Stimmen, der Kraft von vielen gemeinsam.

Auch Chasal sagen im erwähnten Ausspruch nicht, dass man bei der Begegnung mit dem Jezer haRa einfach Tora lernen solle, sondern dass man „ihn ins Bet haMidrasch ziehen“ solle, es geht also um das Tora-Lernen mit dem Zibur! Denn der „Koach haZibur“, die Kraft einer Gemeinschaft, die gemeinsam ein Ziel anstrebt und zusammen den bösen Eindringling bekämpft, ist vielfach größer als die Kraft eines einzelnen Kämpfers.

Wenn aber Jakov alleine bleibt – „Wajiwater Jakov lewado“, – dann wird er sofort vom Jezer haRa bedrängt – „waje’awek Isch imo(ein Mann rang mit ihm).

Raschi erklärt der Grund von Jakovs Einsamkeit: „Er kehrte nach der Überquerung des Flusses zurück, um kleine Krüge zu holen, die er vergessen hatte, und blieb daher alleine zurück“[3]. Und genau da griff ihn der Jezer haRa an, der Fürst von Esaw, denn dies ist seine Art den Menschen zu verführen, ihm nämlich zuerst mit kleinen Sachen beizukommen. Leider vergisst man oft, dass eben die Nichtbeachtung von solchen, uns harmlos scheinenden Dingen, zu den größten und schlimmsten Awerot führen kann! Und diese Gefahr, das ständige Ringen des Menschen mit dem Jezer haRa, dauert „ad alot haSchachar“ – die ganze Nacht hindurch, unser ganzes Leben lang auf dieser Welt.

Wer wie Jakov versucht, sich ohne die Hilfe des Zibur gegen den Jezer haRa zu stellen, den kann das Böse (chalila) schädigen – „Wajiga beKaf Jerech Jakov“ (er griff nach dem Ballen seiner Hüfte).

Chasal erwähnen zwei Ansichten über diesen Mal’ach: Nach den einen erschien er dem Jakov wie ein Goi, und nach den anderen wie ein Talmid Chacham[4].

Diese Meinungsverschiedenheit könnte wie oben erwähnt erklärt werden: Der Mal’ach von Esaw, der Jezer haRa, zeigte sich dem Jakov gegenüber in verschiedene Formen, mit zweierlei Gesichtern. Zuerst versucht er es mit seinem wahren Wesen, er zeigte sich mit dem Gesicht eines Goi und versuchte Jakov zur Sünde zu verleiten. Da er aber einsehen musste, dass Jakov ein echter Zadik war, versuchte er es mit einem frommen Gesicht und zeigte sich ihm in der Gestalt eines Talmid Chacham. Er bot ihm seine Hilfe beim Ausüben der Mizwot an, und versuchte sich in Jakovs ‘Awodat Haschem‘ (G’ttesdienst) einzunisten. Bei einer solch hinterlistigen Methode hatte selbst Jakov Mühe, bis er ihn durchschauen konnte.

Hätte er sich aber in dieser Situation in der Gemeinschaft befunden, wäre er nicht alleine gewesen, so wäre es ihm leichter gewesen, den Feind zu durchschauen und zu besiegen. Denn was der eine nicht sieht, bemerken zwei schneller, und wenn der eine strauchelt, so fängt ihn der zweite auf bevor er fällt.

Unsere Chachamim sl. lernen daher aus dieser Geschichte, dass kein Talmid Chacham in der Nacht alleine gehen darf[5]. Denn in der Nacht, solange wir durch die verwirrende Dunkelheit des Jezer haRa wandeln müssen, kann selbst ein Talmid Chacham (chalila), in die Falle des Jezer haRa treten. Diese Gefahr besteht bis (32,31) „Wajisrach lo haSchemesch – die Sonne schien ihm“ – bis uns die Sonne, das Licht der endgültigen Erlösung scheinen wird.


  1. Schabbat 105b
  2. Kiduschin 30b – אם פגע בך מנוול זה משכהו לבית המדרש
  3. Raschi 32,25 gemäss Chulin 91a
  4. Chulin ibid.
  5. ibid.

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