Aus dem Buch “Mutters Haus” von Rabbanit Ruth Tzivjon, Tochter von Raw Chaim Kaniewski schlito und lhbcl”c Rabbanit Batschewa Esther Kaniewski szl
Verbundenheit mit Raw Chaim Berlin
Opa Raw Arje stand Raw Chaim Berlin, Sohn des NeZIV aus Wolozhin, sehr nahe. Er war wie ein Sohn für Raw Chaim, der sein Lernpartner war.
Raw Chaim Berlins Vater gab seinem Sohn Kameen und Amulette, der er wiederum von seinem Vater bekommen hat. Raw Chaim benutze diesen Schatz viele Male, um unzähligen Menschen zu helfen. Männer, Frauen und Kinder kamen zu ihm Tag und Nacht, damit er ihnen mit seinen Kameen und Amuletten helfen möge. So passierte es zum Beispiel, dass man bei ihm mitten in der Nacht mit einem Baby im Arm, dass an Fieber litt, klingelte und ihn darum bat, es vor dem Bösen Blick zu retten. Auch andere große Gelehrte, wie zum Beispiel Raw Yehezkel Abramsky, benutzten Kameen.
Raw Berlin hat diese Kameen den Söhnen von Raw Arje hinterlassen.
Eine der Kameen sollte gegen Geburtsschmerzen helfen und wurde von vielen tausend Frauen benutzt. Vom Onkel meiner Mutter, Raw Simcha Schlomo hatte ich aber gehört, dass diese Kamee irgendwann verschwand
Die Kameen wurden von den Söhnen von Raw Arje oft benutzt, um meinen Opa, Raw Elyashiv, vor dem bösen Blick zu retten, besonders als er seinem hundertsten Geburtstag erreichte. Bemerkenswerterweise war mein Vater (Gaon Raw Chaim Kanievsky schlito) nie über den bösen Blick besorgt. Er fand, dass man sich in Bnei Brak keine Sorgen um den bösen Blick machen müsste, da er laut dem Chason Isch[1] in Bnei Brak keine Wirkung habe.
Als meine ältere Schwester Urgroßmutter wurde, wurde mein Vater Ururgroßvater und mein Opa Raw Elyshiv Urururgroßvater.
Raw Simcha Schlomo ging dann gleich zum Opa, um den bösen Blick loszuwerden. Mein Vater aber machte sich überhaupt keine Sorgen um den bösen Blick, verheimlichte dieses Ereignis vor niemanden, im Gegenteil, er überbrachte allen diese gute Nachricht, die er traf.
Raw Chaim Berlin hat Raw Arje das Los des Gaon von Wilna beigebracht, das bei besonders wichtigen oder sogar schicksalsträchtigen Entscheidungen helfen soll. Das “Werfen” des Loses des Gaon von Wilna erfolgt durch das Durchblättern von Büchern des Tanach in einer bestimmten Reihenfolge. Der Vers, zu dem man so gelangt, soll einen Hinweis auf die Antwort auf die Frage enthalten, die man mit dem Los beantworten will. Raw Berlin gab Raw Arje nicht nur das Wissen, wie man dies macht, sondern auch eine Ausgabe des Tanach, die speziell für dieses Losverfahren ausgelegt war (der Text dieser Tanach-Ausgabe war in zwei Spalten pro Seite angeordnet).
Raw Arje wurde durch folgendes Ereignis als Experte des Loses des Gaon von Wilna berühmt
Im Jahre 5708 (1948), während der blutigen Schlachten des Unabhängigkeitskrieges, wurden zwanzig gefallene Soldaten beerdigt, ohne das man Zeit für Grabmarkierungen hatte, so dass später niemand mehr wusste, wer in welchem Grab bestattet war. Der Schwager von Raw Arje, Raw Pessach Frank, empfahl den Hinterbliebenen und deren Familien, sich an Raw Arje zu wenden und dieser konnte mit Hilfe des Loses die letzte Ruhestätte aller Gefallenen genau bestimmen. Die Verse, mit denen ihm dies gelungen war, wurden später sogar veröffentlicht. Es war ein buchstäbliches Wunder!
Außerdem bekam Raw Arje von Raw Chaim Berlin auch einen Schofar, der auf wundersame Weise während seiner Amtszeit als Moskauer Oberrabbiner in seinen Besitz gelangte.
Dieses Wunder ereignete sich am Rosch ha-Schana: Raw Berlin war untröstlich, dass der einzige Schofar, den er besass, einen Sprung hatte und so nicht für die Erfüllung des Gebotes geeignet war. In dieser Nacht lernte Raw Berlin die Gesetze des Schofarblasens, das im folgenden Vers Gesagte zu erfüllen: “Anstelle der Stiere werden wir die Rede unserer Lippen darbringen…”[2]
Nach Sonnenaufgang begab er sich dann mit gedrückter Stimmung zur Synagoge. Plötzlich kam ihm auf der Straße ein Pferdewagen mit Heu entgegen und neben dem nichtjüdischen Kutscher lag ein prächtiger Schofar!
“Woher hast du diesen Horn?” fragte ihn Raw Chaim.
Zu seiner Überraschung fing sich der Kutscher plötzlich an zu rechtfertigen:
“Ich wusste nicht, dass er dir gehört…”
Offenbar hat er diesen Schofar aus irgendeiner Synagoge gestohlen und hielt jetzt den angesehenen Juden, den er eben getroffen hat, für den Rabbiner dieser Synagoge.
Raw Chaim nam den Schofar an sich und machte sich nun mit großer Freude auf, das Gebot des Schofarblasens zu erfüllen.
Einige Jahre darauf gab er seinen Schofar, der ihm sehr an’s Herz gewachsen war, an Raw Arje weiter, bei dem er oft zum Einsatz kam. Jeden Freitagabend vor Sonnenuntergang begab Raw Arje sich auf das Dach seines Hauses und blies mit dem Schofar in alle vier Himmelsrichtungen, um den Schabbat anzukündigen. Am darauffolgenden Rosch ha-Schana blies er den Schofar für die Kranken, an Aussatz leidenden, Gefangenen und alle anderen, die bedrückten Mutes waren.
Raw Arje hat noch ein Geschenk aus den Schätzen seines Mentors bekommen
Rav Berlin hatte eine Sammlung von seltenen Folianten und Handschriften großer Gelehrter in seinem Besitz, den seine Erben nach seinem Tod Raw Arje als Geschenk überreichten, da er immer für Raw Chaim gesorgt hatte.
Raw Arje hat sich lange mit diesen Handschriften beschäftigt. Einen besonderen Augenmerk legte er hierbei auf die Abschrift der vielen Handschriften des Gaon von Wilna und seiner Schüler, unter anderem des Raw Chaim aus Wolozhin. Viele Handschriften von anderen großen Gelehrten befanden sich auch in seinem Besitz und es gab viele, die ihn besuchten, um diese zu erforschen.
Eines Tages ging Raw Arje am Haus des Raw aus Brisk[3] [4] vorbei, der ihn vom Balkon aus sah und zu sich einlud.
Der Raw aus Brisk hatte vor, sich mit Raw Arje über die Bräuche verschiedener Gemeinden zu unterhalten, erfahr aber im Laufe des Gespräches, dass dieser einen Brief von Raw Schlomo Klüger bei sich hatte, in dem dieser mitteilte, dass er von seinem Amt als Rabbiner von Brody zurücktreten wolle. Auf Bitten von Raw aus Brisk überließ Raw Arje ihm den Brief für einige Tage.
Später erzählten die Söhne des Raw aus Brisk Raw Arje, wie sehr ihr Vater vom Inhalt dieses Briefes mitgenommen war.
Raw Klüger schrieb da: “Ich trete vom Amt des Rabbiners zurück und mein Gewissen ist genauso rein wie beim Amtsantritt”. Man muss daran erinnern, dass sich seine Amtszeit über achtundvierzig Jahre erstreckte!
Raw Arje erzählte meinem Vater, wie er einst, als er eine Jerusalemer Marktstraße entlang ging, sah, wie eine alte Frau eine Tragetasche direkt auf den Boden ausleerte. Mit Schrecken musste Raw Arje feststellen, dass nun auch heilige Bücher auf dem Boden lagen und beeilte sich sogleich, die Bücher von dieser Frau abzukaufen, um zu verhindern, dass mit diesen heiligen Büchern weiterhin so rücksichtslos umgegangen werde.
Er legte die Bücher zurück in die Tragetasche und hatte eigentlich vor, sie in eine Genisa[5] zu tun, wurde aber von seiner Liebe zu Büchern dazu gebracht, etwas in ihnen zu blättern und musste feststellen, dass es sich dabei um wahre Schätze handelte und der größte Schatz war eine Ausgabe des Tanach mit handgeschriebenen Kommentaren auf den Seitenrändern, die vom heiligen Gaon von Wilna stammten!
Raw Chaim sah, dass Raw Arje der sein würde, der die Tradition der nächsten Generation weitergibt und gab ihm am Tag vor seinem Tode das weiter, was sein Vater ihm vor seinem Tod weitergab
Es war das Jahr 5653 (1893): Der NeZIV, der die Wolozhiner Jeschiwa schon seit circa vierzig geleitet hatte, rief seinen Sohn, Raw Chaim, zu sich und sagte ihm folgendes: “Ich werde diese Welt bald verlassen, da ich mich geweigert habe, nicht-religiöse Fächer in den Lehrplan der Jeischiwa aufzunehmen. Dies hat zur Schließung der Jeschiwa geführt, und die Schließung der Jeschiwa zerstörte mich. Mein Ende macht mir keine Angst. Es hat sich gelohnt, dafür mein Leben hinzugeben!”
Der NeZIV hat damit Raw Chaim aufgetragen, unter keinen Umständen solche Kompromisse einzugehen.
Raw Chaim, der dieses Testament der kommenden Generation weitergeben wollte, hielt Raw Arje für würdig, dies zu tun!
“Deine Augen sind wie Tauben”
Es ist unmöglich, dieses Kapitel, welches vom Leben und Wirken meines Urgroßvaters Raw Arje berichtet, ohne folgende Geschichte abzuschliessen; meine Mutter hat sie viele Male mit Liebe und unter Tränen erzählt:
Raw Arje erzählte diese Geschichte so, wie er sie von Raw Chaim Berlin gehört hatte. Als dieser zusammen mit Raw Arje am Vorabend des Schabbat das Hohelied lasen, bemerkte Raw Arje, dass Raw Chaim jedes mal weinte, als er die Worte “Deine Augen sind wie Tauben” las. Eines Tages konnte er nicht mehr anders und fragte Raw Chaim, was es damit auf sich hatte und er gab ihm die folgende Antwort:
“Als ich Rabbiner von Moskau war, trat ein Mann, der eigentlich als Nichtjude galt und mit christlichen religiösen Gegenständen handelte, im Geheimen an mich heran und hatte mir seine Situation wie folgt geschildert: “Ich bin ein Jude. Mein Sohn wurde gerade geboren. Ich möchte, dass Sie ihn beschneiden.”
Ich hatte das Kind beschnitten; Außer dem Vater war niemand sonst dabei anwesend.
Ich fragte ihn: “Du verhältst dich nicht wie ein Jude und siehst nicht mal wie einer aus, was hat dich dazu bewogen, deinen Sohn beschneiden zu lassen?”
Und so antwortete er mir: “Ich habe das Judentum verlassen und glaube nicht, dass ich je dorthin zurückkehren werde. Davor bin ich in einer jüdischen Umgebung aufgewachsen und weiß, was Judentum bedeutet. Mein Sohn wird in einer nichtjüdischen Umgebung aufwachsen und wird nichts über das Judentum wissen. Vielleicht wird er als erwachsener Mann versuchen, ein ordentlicher Jude zu sein und ich will ihm die Möglichkeit dazu geben.”
Und damals erst hatte ich wirklich verstanden, erzählte mir Raw Chaim unter Tränen, was der Vers des Hohelieds, der das jüdische Volk lobt, uns sagen will: “Wie schön bist du, meine Verlobte, wie schön bist du. Deine Augen sind wie Tauben.” Unsere Weisen, seligen Andenkens, legen diese Wiederholung der Worte “wie schön bist du” in diesem Vers folgendermaßen aus: Das erste Mal wird über das jüdische Volk vor einer Sünde gesprochen, das zweite Mal danach. Es ist aber unklar, von welcher Schönheit die Rede sein kann, nachdem das jüdische Volk sündigt.
Dies wird mit dem zweiten Satz des Verses, “Deine Augen sind wie Tauben” erklärt: Es liegt in der Natur der Taube, sich nie zu weit vom Nest zu entfernen und es daher immer im Blick zu haben. So verhält es sich auch mit dem jüdischen Volk: Sie können zwar sündigen und das Judentum zurücklassen, aber sie haben es immer noch im Blick; Sie achten darauf, sich nie zu weit von G-tt zu entfernen, damit sie immer einen Weg zurück offen haben.
Fortsetzung folgt ijH.
- Raw Avraham Jeschajahu Karelitz ↑
- Hoschea 14:3 ↑
- Brest im heutigen Weißrussland ↑
- Raw Yitzchok Zev Soloveitchik ↑
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Lagerplatz für beschädigte heilige Bücher und Schriftrollen ↑