Proklamiert nicht das Judentum die Minderwertigkeit der Frau? Schränkt es nicht die Rechte der Frau ein im Vergleich mit der Rechtsposition des Mannes?
Diese Fragen werden gewöhnlich bejaht. Nicht nur von oberflächlichen Beurteilern, sondern auch von ernsteren Forschern. Sogar von jüdischen. Und heute, da die soziale Stellung der Frau, namentlich durch die Berufsergreifung einen ganzen Umschwung erfahren hat, mehren sich auch die jüdischen Kritiker, die behaupten, dass in unseren Gesetzen bezüglich der Frau entweder Willkür waltet oder mit ihrer Minderwertigkeit als Faktor gerechnet wird. Dass von einer Gleichberechtigung mit dem Manne nicht die Rede sein könne, gehe doch aus einer ganzen Reihe dieser Gesetzesbestimmungen klar hervor.
1. Die Behauptung, das Judentum proklamiere die Minderwertigkeit der Frau, lässt sich angesichts bestimmter Torastellen gar nicht aufrecht erhalten.
Gemäß diesen Stellen muss zumindest von einer Gleichbewertung gesprochen werden. Schon in Bereschit steht: „Ich will ihm eine Hilfe „kenegdoi“ schaffen.“ Man mag dieses Wort Kenegdoi „ihm gegenüber“ nach dem einfachen Wortlaut oder nach der agadischen Auslegung deuten, wie man will, es drückt immer den Begriff der Ebenbürtigkeit gegenüber dem Manne aus.
Vor Matan Tora am Sinai musste Mosche den Bnei Jisrael ihre Berufung zu einem sich dem Dienst G-ttes weihenden Volke verkünden. Eingeleitet wird dieser Verkündungsauftrag mit den Worten: „Wie folgt sollst du sagen dem Hause Jakows und sprechen zu Jisoels Söhnen…“[1]. Diese Wortwahl wird durch eine uralte Tradition dahingehend erläutert, dass mit „dem Hause Jakows“ die Frauen und mit den „Söhnen Jisraels“ die Männer gemeint sind. Es werden also die Frauen bei der Berufung Jisraels zum Volk G-ttes in erster Linie angesprochen.
In den 10 Geboten heißt es: „Komme Vater und Mutter mit liebender Ehrerbietung entgegen.“ Bei der Nahelegung des zu heiligenden Lebenswandels heißt es jedoch: „jeder habe Ehrfurcht vor Mutter und Vater“. Im rechtlichen Sinne tritt diese Ebenbürtigkeit und Gleichbewertung der Eltern deutlich da in Erscheinung, wo der ungeratene Sohn dem Gericht überantwortet werden soll. „Vater und Mutter sollen ihn nehmen und hinführen“, heißt es dabei. „Sie müssen beide die Klage erheben“, heisst es weiter.
Wenn nun die Rechtsposition der jüdischen Frau in mancher Beziehung eine andere ist als die des Mannes, so ist der Grund dafür nicht in einer etwaigen Minderschätzung der Frau zu suchen, sondern durchwegs in der natürlichen Verschiedenheit zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht.
Hier hat schon die Schöpfung unverrückbare Grenzen gezogen.
Das Judentum (d.k. die Tora und die erläuternde mündliche Überlieferung) stellt den Menschen mitsamt dessen Pflichten und Rechten auf den Boden des Tatsächlichen. Die Tora lässt bei den Menschheitsaufgaben und den Ansprüchen, die sie an das männliche und weibliche Wesen stellt, das Natürliche, die Realität nie außer Acht.
Wohl sollen Mann und Frau zusammen die Menschheitsaufgabe bewältigen, denn nur zusammen bilden sie die eigentliche einheitliche Menschenkraft. Aber Mann für sich und Frau für sich sind und bleiben heterogene Kräfte. Dass heterogene Kräfte nicht restlos miteinander verglichen werden können, dass an ihren Leistungen nicht das gleiche Maß zur Beurteilung ihrer Werte angelegt werden kann, braucht nicht näher dargelegt werden. Aber damit ist das Problem der Verschiedenheit der „Rechte“ beider Geschlechter noch nicht gelöst. Lassen sich doch manche Bestimmungen, die eine Rechtsverkürzung der Frau darzustellen scheinen, nicht ohne weiteres durch die natürliche Verschiedenheit der Geschlechter begründen.
Das Problem ist ziemlich kompliziert, und zur befriedigenden Lösung fallen noch andere, tiefer liegende Momente aus Gesetz und Lehre ins Gewicht. Diese Momente sind in ihrer ganzen Tragweite vielleicht nicht erkannt oder nicht beachtet worden.
Am ehesten dürfte dies ersichtlich werden aus:
2. Ablehnung der Frau als Zeugin vor Gericht
Die äußere Begründung dieser Ablehnung wird durch verschiedene Torastellen gestützt, am deutlichsten durch die Vorschrift: „Es sollen die zwei Männer, welche der Streit betrifft, vor Gericht erscheinen“. An dieser Stelle ist nämlich in erster Linie von den Zeugen die Rede, wie es sich aus dem Zusammenhang mit dem vorher- und nachhergehenden Teil dieser Torastelle klar ergibt. In der Tora wird übrigens des öfteren hervorgehoben, dass nur auf Aussage von mindestens zweier „Eidim“ (männliche Zeugen) ein straffälliger Tatbestand festgestellt werden kann.
Zur inneren Begründung für die Ablehnung der Frau als solche Zeugin müssen nun folgende Bestimmungen der Tora ins Auge gefasst werden. Indizienbeweise haben nach jüdischem Straffrecht keine Gültigkeit. Eine gerichtliche Verurteilung kann nur erfolgen, wenn die Zeugen erklären können, die strafwürdige Handlung mit eigenen Augen gesehen zu haben.
Auf Grund der Toravorschrift: „Du solist (beim Zeugenverhör) suchen und forschen“ mussten die Zeugen dem peinlichsten Verhör unterworfen werden.
Sogar über geringfügig erscheinende Umstände, unter denen die von ihnen bezeugte Handlung stattgefunden hatte, wurden sie ausgefragt. Zeigte sich ein Widerspruch sogar in Bezug auf nebensächlich erscheinende Umstände in den beiden Aussagen, so war das ganze Zeugnis in der Regel hinfällig. Daher musste der Zeuge über einen ungetrübten Beobachtungssinn verfügen, um ein absolut klares Bild nicht nur von dem Tatbestand eines begangenen Verbrechens, sondern auch von den Umständen und Nebenumständen, unter denen es begangen wurde, in sich aufnehmen und festhalten können. Nun bedarf es aber sicher nicht einer detaillierten Beweisführung aus dem Material der Erfahrungen, um behaupten zu dürfen, dass das Nervensystem der Frau im allgemeinen bei aufregenden Szenen der präzisen Beobachtung nicht gewachsen ist.
Es gibt noch zwei Gesetzesbestimmungen, die hier nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Erstens die Vorschrift: „Wer ein Zeugnis verweigert, wird seine Sünde zu tragen haben“.
Das Zeugnis-Ablegen im Judentum stellt somit kein Recht, sondern eine Pflicht dar.
Zweitens die Toravorschrift: „Die Zeugen sollen in erster Linie als Vollstrecker des Urteils auftreten“. Mit dem Zeugnis-Ablegen ist also gegebenenfalls eine harte Pflicht der eigenhändigen Hinrichtung verknüpft. Daher kann bei der Ablehnung der Frau als Zeugin vor Gericht keinesfalls von einer Rechtsverkürzung die Rede sein. Noch weniger ist der Grund in der Minderwertigkeitsschätzung der Frau zu suchen. Vielmehr ist das Umgekehrte der Fall. Das jüdische Gesetz enthebt hier schützend die Frau auf Grund ihrer physischen Beschaffenheit und ihres zarten Gemütes einer Pflicht, die unter Umständen verheerende Wirkung in ihrem Seelenzustand hervorrufen könnte.
3. Dieses pflichterleichternde Gesetz berührt nun nicht im geringsten die völlige Glaubwürdigkeit der Frau.
Diese unangetastete Glaubwürdigkeit bildet überhaupt den Ausgangspunkt für eine Fülle von Gesetzen betreffend Aussagen über Geschehnisse und vorgenommene Handlungen, die von weittragendster religionsgesetzlicher Bedeutung sind. Als allgemeine Regel gilt, dass unter normalen Umständen ohne weiteres den diesbezüglichen Aussagen einer einzelnen Frau derselbe Glaube beigemessen wird, wie denen eines einzelnen Mannes.
So wird z.B. einer Ehefrau, deren Gatte sich ins ferne Ausland begeben hat, unter normalen Voraussetzungen gestattet, sich anderweitig zu verheiraten, wenn jemand aus jenem Ort Nachricht bringt, dass ihr Ehegatte gestorben ist, einerlei, ob ein Mann oder eine Frau der Überbringer der Nachricht ist. Desgleichen hat auch z.B. die Aussage einer Frau, dass sie die Schächtung eines Tieres nach religionsgesetzlichen Vorschriften vorgenommen hat, volle Gültigkeit.
Weshalb der Brauch entstand, dass Frauen nicht mehr schächten, wird begründet mit dem mehr oder weniger bekannten Ausdruck „Naschim Daatan Kala“.
Dieser Ausdruck wird vielfach ganz falsch interpretiert, indem man übersetzt: „Die Frauen sind leichtsinnig“. Es geht aber aus alter Quelle deutlich hervor, dass hier daran gar nicht gedacht ist, sondern dass es sich hier wieder um das Nervensystem der Frau handelt. „Die Frauen haben leicht reizbare Nerven“ will der Ausdruck besagen. Sie könnte bei der Vornahme der Schächtung eines Tieres unbewusst erzittern, erschlaffen. Dadurch wäre nun die Gültigkeit der Handlung religionsgesetzlich gänzlich in Frage gestellt. Es wird hervorgehoben, dass der „Brauch“ unter dieser Begründung aus Eretz Jisrael stammt. Es muss dort konstatiert worden sein, dass ein solcher Akt im Laufe der Zeiten dem Empfinden der Frau nicht mehr angemessen erschien.
Die volle Glaubwürdigkeit der Frau bildet überhaupt die unerschütterliche Grundlage des religionsgesetzlichen jüdischen Familienlebens. Der Frau des Hauses ist die Einhaltung der diesbezüglichen lebenswichtigen Vorschriften unbedingt anvertraut. So bedürfen z.B. ihre Aussagen betreffend die Beobachtung der Reinheitsvorschriften für die Ehefrau, durch deren Übertretung sie dem Manne die größte Schuld aufladen könnte, keiner weiteren Kontrolle, keines weiteren Zeugnisses. Weder die Tora, noch die Toraschützenden Bestimmungen der Gesetzesbehörde des jüdischen Volkes haben diese Glaubwürdigkeit der jüdischer Frau eingeschränkt.
4. Die scheinbare Rechtsbeschränkung, die Ablehnung der Frau als Inhaberin eines Amtes in den öffentlichen jüdischen Staats- und Gemeindebehörden, bedeutet der Schutz des höchsten Besitztumes der jüdischen Frau, welches durch das Wort „Z’niut“ ausgedrückt wird.
Dieses Wort ist mit der Übersetzung „Züchtigkeit“ noch nicht wiedergegeben, dessen Begriffsinhalt ist darin keineswegs erschöpft. Im Z’niut kommen alle die Erscheinungen in der Lebensführung der jüdischen Frau zum Ausdruck, die den Geist der „Keduscha“, Heiligkeit aufzeigen, wozu die Tora das Volk Jisrael aufruft. Diese Keduscha begnügt sich nicht mit Reinheit der Handlung und Lauterkeit der Gesinnung in jeder Lebensbetätigung. Sie reicht viel weiter. Sie basiert im Übersinnlichen. Sie bezweckt zwar niemals eine Weltabgewandtheit oder gar eine Abtötung der im Menschen verankerten irdischen Triebe, aber sie verlangt wohl die höchstmögliche Veredlung der sinnlichen Empfindungen. Daher bedingt sie auch Beschränkung der Einfluss-Sphären sinnlicher Reize. Den Gegensatz zum „Z’niut“ bildet das „P’ritzut“.
Dieses Wort bedeutet nicht in erster Linie „Ausgelassenheit“ oder „Entartung“, sondern besagt vor allem, dass die Schranken, welche das Z’niut dem Einfluss der Sinnesreize gezogen hat, durchbrochen sind. Das Judentum betrachtet nun das Öffentliche Auftreten der Frau überall da, wo ihr Aktionsradius, sei es durch Handlungen oder Beratungen, sich auch über Männer erstreckt, als eine Durchbrechung der Schranken, die ihr Z’niut in dieser Hinsicht zu ziehen hat. Eine alte Traditionsquelle hebt schon dieses Postulat als etwas Gegebenes hervor, und in der Gemara werden verschiedene Belegstellen, die dieses beleuchten, angeführt.
5. Es gibt noch eine näher zu klärende Frage in Bezug auf die Gleichbewertung und Gleichberechtigung der Frau, die unter den heutigen Verhältnissen eine von den aktuellsten geworden ist.
Diese Frage betrifft die Beschäftigung der jüdischen Frau mit der Toralehre. Da Talmud Tora eine – und zwar allerwichtigste – Pflicht ist, berühren sich hier die Gebiete des Rechtes und der Pflicht für die jüdische Frau auf das innigste. Nach dem traditionellen Grundsatz, dass Frauen nur befreit sind von solchen Pflichten der Tora, die an einen bestimmten Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitraum zur Ausführung gelangen, wären die Frauen gleich den Männern verpflichtet, sich mit Talmud Tora zu befassen. Denn von der Beschäftigung mit dem Torawort heißt es, dass sie zu jeder Zeit stattfinden soll. Wenn nun die Frauen in Bezug auf diese Pflicht dennoch tatsächlich mit den Männern nicht gleichgestellt sind, so erklärt sich das von selbst, wenn man erstens den Grund, weshalb die Frau von an bestimmte Zeiten gebundene Torapflichten befreit ist, in Betracht zieht und sich dazu die Tragweite der Talmud Tora-Pflicht vor Augen hält.
Der Grund der besagten Befreiung liegt nämlich in der bedeutungsvollen Tatsache, dass das Tora-Judentum das eheliche Haus und die Erziehung der Kinder als das eigenste Lebensgebiet der jüdischen Frau betrachtet.
Diesem hohen Wirkungskreise, der ihrer Hut anvertraut ist, sollen ihre Gedanken und ihre Kräfte so intensiv geweiht sein, dass sich durch keine andere Pflicht gebunden sein darf, auf die sie sich an einem bestimmten Zeitpunkt derartig zu konzentrieren hätte, dass dadurch ihr eigenstes Lebensgebiet beeinträchtigt werden könnte. Sollte nun die Frau verpflichtet sein, sich, analog dem Manne, mit Talmud Tora zu befassen, so hätte sie nicht etwa die Wahl, zu irgend einer Zeit auch diese Pflicht zu erfüllen, sondern sie müsste sich „die ganze Zeit“ damit beschäftigen, und zwar in einen solchen Masse, dass keine Gewähr dafür bestünde, dass sie ihren eigensten Pflichten in ihrem Hause noch nach Gebühr obliegen könnte.
Denn die Ansprüche, die die Beschäftigung mit der Toralehre von jeher an den Jüdischen Mann gestellt hat, sind nicht erfüllt, wenn nur „Zeit-Brosamen“ dafür abfallen, womit man sich in unseren Tagen auch in den toraliebenden Kreisen im allgemeinen begnügt oder begnügen muss. Die Talmud Tora-Pflicht fordert uneingeschränkte Beschäftigung stunden und Stunden am Tage und in der Nacht. Von solcher Pflicht ist die Frau befreit. Dass aber die Frauen Pflichten und Lehren der Tora gründlich kennen lernen sollen, geht aus der Tora selbst hervor, und zwar da, wo es heißt: „Sammle die Männer, die Frauen nebst Kindern – … damit sie hören und lernen, den Ewigen zu fürchten, so dass sie alle Worte der Lehre genau beobachten“.
Es gibt nun aber in Bezug auf die Vaterpflicht, seine Tochter in Tora Unterricht genießen zu lassen, eine merkwürdig formulierte Meinungsverschiedenheit zwischen zwei unserer sehr bekannten Lehrer.
Der eine meint, aus einer uralten Überlieferung sei diese Vaterpflicht deutlich herzuleiten. Der andere bezeichnet es geradezu als etwas Verwerfliches, wenn der Vater solches tun oder veranlassen würde. Es kann sich hier natürlich unmöglich darum handeln, den Torainhalt in Bezug auf Pflichten und Lehre beizubringen, sondern es ist hier von der tiefschürfenden Beschäftigung mit Talmud Tora die Rede, so wie es für den Sohn durch den Vater ermöglicht werden soll. Die in den Begründungstiefen sich weit verzweigende Materie der mündlichen Lehre soll das Mädchen nicht gezwungen werden, zu verarbeiten.
Dass hier von einer Minderbewertung der Frau im allgemeinen nicht im entferntesten die Rede sein kann, geht aus den ältesten Traditionen hervor, die lehren und deren Ergebnis auch kodifiziert ist, dass die Frau, obgleich sie frei gestellt ist von der Pflicht, sich mit der Tora zu beschäftigen, sich sogar „Verdienste“ erwirbt, wenn sie sich dennoch damit befasst. Sie darf, wenn sie dazu in der Lage ist und aus innerstem Tora-Wissensdrang ihrer Natur zumuten will, mit dem Manne nach der Krone der Tora streben. Unsere klassische und mittelalterliche Geschichte hat bekannte Namen von Frauen aufzuweisen, die sich als Toragrössen ein Ruhmesblatt in den jüdischen Annalen geschaffen haben.
Seit unserer „neuen“ Geschichte ist aber das Torawissen der Männer sogar in den toraliebenden Kreisen immer mehr abgeschwächt.
Es ist heutzutage in vielen Kulturzentren so gering geworden, dass die Frage berechtigt erscheint, ob es nicht an der Zeit ist, dass jüdische Frauen überall, wo es not tut, aus freien Stücken, ohne sich um die Torakrone bewerben zu wollen, sich ein Torawissen aneignen, das ihrem eigensten Lebensgebiet, dem ehelichen Haus samt der Erziehung ihrer Kinder, einen neuen alt-jüdischen Glanz verleihen kann. Wie lautete es am Sinai? „So sollst du sagen dem Hause Jakows“ Was sagt dazu die Überlieferung? „Das Haus Jakows sind die jüdischen Frauen.“
[1] Jitro