Rabbi Ezriel Tauber SZl – L’ilui nischmat Hamechaber
Fortsetzung
Nach der Sintflut
Ein anderes „Luftschloss“, das immer häufiger anzutreffen ist in unserer heutigen Welt, ist „Spiritualität“. Natürlich sind die geistigen Sehnsüchte eines Menschen – sogar die geistige Sehnsucht einer „nicht-religiösen“ Person – für Dinge wie Mystik legitim. Das ist gar keine Frage. Kabbala oder Mystik birgt jedoch Gefahren. Sie zu erlernen, ohne zuerst durch ein Leben gemäß der Tora eine Basis zu schaffen und ohne einen gewissen Grad an geistiger Reife, ist so, als wenn man ein Kind in eine Apotheke, voll mit schädlichen und sogar lebensgefährlichen Medikamenten, ließe. Es wäre eine verantwortungslose Tat, die mehr Schaden als Gutes anrichten würde.
Die Weisen lehren uns, dass das Kind in der Gebärmutter die ganze Tora lernt. Das bedeutet, dass der kleine Fötus der größte Mystiker ist, den wir uns vorstellen können. Bevor er geboren wird, berührt ihn aber ein Engel an den Lippen und er vergisst alles. Warum muss er alles vergessen? Die Antwort ist, damit er sich alles wieder erwerben kann. Er muss alles für sich selbst entdecken.
Der Fötus ist vielleicht ein Mystiker, aber noch lange kein heiliger Mensch. Heiligkeit muss verdient werden.
Wenn ein Mensch mystisches Wissen und Fähigkeiten erwirbt, bevor er durch mühsame Arbeit seinen moralischen, geistigen und intellektuellen Charakter verfeinert, ist das so, als wenn er in den Mutterleib zurückkehren würde – Wissen besitzen, ohne es sich verdient zu haben. Er ist nicht sich selbst. G-tt könnte auch einem Tier mystische Erfahrung zuteil werden lassen, wenn er das wollte. Er gab sie dem Menschen, wenigstens potenziell, damit er sie verdienen und nicht einfach besitzen sollte. Mystische Erfahrung muss verdient werden. Ohne sie sich zu verdienen, baut man Luftschlösser, man ist Noach, der vor allem anderen zuerst einen Weinberg pflanzte.
Was soll jemand tun, der eine starke Neigung zum Mystischen spürt? Muss er sie während vieler Jahre unterdrücken, bis er es wert ist, seinem Herzenswunsch nachzugeben? Chassidismus entstand zum Teil, um dieses Problem zu lösen. Chassidismus ist nicht Kabbala. Idealerweise ist es Kabbala übersetzt in Ideen und Praktiken, die im täglichen Leben ihre Anwendung finden können. Chassidismus lässt einen Mystik spüren, aber in einer alltäglicheren Form. Diejenigen Ausprägungen des Chassidismus, die sich in exzessivem Maß auf die Kabbala stützten, wurden in der Tat bald als außerhalb der Norm angesehen.
Das Problem, auf welches wir achten müssen, sind diejenigen Formen von Spiritualität, die uns ein schnelles Hochgefühl vermitteln.
Warum? Weil menschliche Hochgefühle nicht von Dauer sind, wenn sie nicht erarbeitet wurden. Logischerweise fühlt man sich danach schlechter als vorher und dann können wirkliche Depressionen einsetzen. Einmal deprimiert, reagieren solche Menschen eigenartig auf das Leben. Setzt man einen unschuldigen Menschen, der noch nicht geschult wurde, der noch nicht sein ganzes Leben der Tora gewidmet hat, einer solch hohen Dosis an mystischer Wahrheit aus, wird man ihn innerlich verbrauchen.
Das ist im Grunde, was dem jüdischen Volk und dem goldenen Kalb passierte. Es gab keine größere Manifestation von G-tt in der gesamten Geschichte, keine tiefere mystische Erfahrung als die Offenbarung G-ttes auf dem Berg Sinai. Aber die damaligen Menschen nutzten die Offenbarung nicht richtig. Wir brauchen aber gar nicht weiter zurückzuschauen, als auf die auf der Kabbala basierende Bewegung des falschen Messias Schabtai Zwi. Menschen wurden der Kabbala ausgesetzt, bevor sie dazu bereit waren. Sie wurden damit nicht fertig. Natürlich meinten sie, sie wären in der Lage dazu. Die Absichten von einigen von ihnen waren sicher gut gewesen. Der Verlauf der Geschichte aber zeigte die Tragödie ihrer Bewegung auf. Mystische Erfahrung kann eine ungeheure Kraft in sich bergen, aber wie die Atomenergie wird sie zerstörerisch, wenn sie nicht richtig genutzt wird. Kabbala kann gefährlich sein.
In den letzten Jahren hat das Interesse am Judentum enorm zugenommen.
Dieses Wiederaufleben hat verschiedene Ausprägungen. Viele dieser zurückkehrenden Menschen werden sofort mit dem Problem konfrontiert, das wir gerade geschildert haben: Sie sind noch weit davon entfernt, die Vorbedingungen zum Erlernen der Kabbala, der Mystik zu erfüllen, was sie sich so sehr wünschen. Sie brauchen ganz einfach mehr als ein Kompendium der „Du darfst“ und „Du darfst nicht“. Für sie wären meiner Meinung nach gewisse chassidische Lehren sehr gut. Sie helfen, einen gewissen Grad der Tiefgründigkeit dieses Lebensstils zu verstehen. Aber Chassidismus ist nicht das Gleiche wie Kabbala.
Seien Sie auf jeden Fall vorsichtig, wenn Sie aus der Arche steigen und eine neue Welt vor sich sehen. Was immer Sie sich als Erstes vornehmen zu tun, kann die weitreichendsten Auswirkungen auf Ihre Zukunft haben. Bevor Sie anfangen, einen „Weinberg zu pflanzen“, überlegen Sie, was Sie da tun. Wein ist ja eine ganz angenehme Sache und hat seine Berechtigung. Die Grundnahrungsmittel müssen aber zuerst angebaut werden. Ein Mensch muss zuerst mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, bevor er beginnen kann, Schlösser zu bauen.
Fortsetzung folgt ijH
Zusammengestellt durch Yaakov Astor, Ins Deutsche übersetzt durch David Halonbrenner, überarbeitet durch Rolf Halonbrenner und Clarisse Pifko
Mit ausdrücklicher Erlaubnis des Copyrightinhabers Juefo.com. Das Sefer kann unter info@juefo.com bestellt werden.