Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem für seine Schriften über jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk “Messilat Jescharim” («Der Pfad der Aufrechten»), welches den Weg des geistigen Wachstums eines jüdischen Menschen weist, wurde vom Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.
Fortsetzung
Zwanzigstes Kapitel – Das rechte Abwägen in der Frömmigkeit
Wir haben noch einen überaus wichtigen Punkt zu erörtern. Bei der Frömmigkeit gilt es: Abwägen, und das ist die schwerste Arbeit, will man die Tugend der Frömmigkeit üben. Es handelt sich da um besonders feine Unterschiede. Der Jezer findet da leicht eine Pforte, wo er durchschlüpfen kann. Daher ist die Sache hier besonders gefährlich, denn der Jezer kann da vor manchem Guten abschrecken, als wäre es bedenklich, und manches Schlechte als empfehlenswert hinstellen, als wäre es die größte Mizwa.
Zum Ziele gelangt man bei diesem „Abwägen“ nur, wenn drei Momente berücksichtigt werden.
Das Herz muss völlig uninteressiert sein, sein Streben darf nur darauf gehen, G-tt eine Freude zu bereiten. Man hat jede Handlung sorgfältigst zu prüfen und muss darauf bedacht sein, dass sie auf diesen Endzweck hinzielt. Trifft das aber zu, muss man sich auf G-tt verlassen! Dann gilt das Wort: „Heil dem Manne, der seine Macht in Dir fühlt…“[1] G-tt versagt das Glück denen nicht, die in Unschuld wandeln. Doch, wenn eine von diesen Bedingungen fehlt, dann kann man nicht das höchste Ziel erreichen, man wird leicht straucheln und fallen.
Wenn die Absicht nicht von erwählter Reinheit ist, wenn man dort, wo es möglich war, es an der sorgfältigen Prüfung hat fehlen lassen, und man endlich nicht auf G-tt sein Vertrauen gesetzt, dann ist es schwer, einen Fehltritt zu vermeiden. Doch, wenn man auf die drei Momente genügend geachtet hat, auf die vollkommen reine Absicht, auf die sorgfältige Prüfung und auf das G-ttvertrauen, dann wird man ohne Zweifel sicher gehen, man bleibt von jeder Schuld verschont. Wie das Channa in ihrem, von prophetischem Geiste erfüllten, Gebet ausspricht: „Er achtet auf die Schritte Seiner Frommen.“[2] Und David sagt: „Er verlässt Seine Frommen nicht, immer bleiben sie behütet.“[3]
Vor Allem hat man zu beachten, dass man in Fragen der Frömmigkeit nicht nach dem ersten Augenschein urteilen darf, sondern sorgfältig prüfen muss, welche Folgen eine Handlung haben könnte.
Manchmal erscheint die Handlung selbst gut, und um der schlimmen Folgen willen muss sie unterlassen werden, sodass man, wenn man sie vollführt, keinen Akt der Frömmigkeit, sondern eine Sünde begeht. Wie war es doch mit Gedalja?
Es war seine übergroße Frömmigkeit, die ihn dazu veranlasste, dem Jochanan zu sagen: es ist nicht wahr, was du mir von Jischmael erzählst. Er wollte dem Jischmael keine schlechten Motive unterschieben oder wollte üble Nachrede nicht anhören. Und was waren die Folgen? Er selbst fiel, Jisrael wurde völlig zerstreut, und der letzte glimmende Funke erlosch. Sodass die Schrift den Tod der Männer, die mit ihm fielen, ihm selbst zuschreibt, wie das die Weisen zur Stelle bemerken.[4]
Ebenso war die Veranlassung zur Zerstörung des zweiten Tempels ein Akt der Frömmigkeit, die nicht richtig abgewogen war.[5] Ein gewisser Bar Kamza ging zum römischen Kaiser und denunzierte aus persönlichem Hass die Führer des Volkes. Um dem Kaiser einen Beweis für ihre Unbotmäßigkeit zu bringen, wollte er in dessen Namen ein Opfer darbringen, die Juden würden dies Opfer ablehnen. Er brachte nun dem Opfertier einen unscheinbaren Fehler bei, der nur nach den Bestimmungen der jüdischen Opfergesetze das Tier zum Opfer untauglich machte. Trotzdem wollten die Weisen das Opfer darbringen lassen.
Doch R. Secharja, der Sohn des Awkilas, trat dem entgegen:
Man würde sagen: Tiere mit einem Fehler dürften dargebracht werden. Da wollten die Weisen den Denunzianten unschädlich machen. Auch dem widersetzte sich R. Secharja. Man würde sagen: wer einem Opfertier einen Fehler beibringt, ist des Todes. Unterdes ging der Verbrecher hin, brachte seine Denunziation an, der römische Feldherr kam und zerstörte Jerusalem. Darum pflegte Rabbi Jochanan zu sagen: Die Frömmigkeit des R. Secharja hat unseren Tempel zerstört, ließ unser Heiligtum in Flammen aufgehen und hat uns unter die Nationen zerstreut. Da haben wir ein Beispiel, dass man vom Standpunkt der Frömmigkeit eine Handlung nicht an und für sich beurteilen darf, dass man vielmehr nach Menschenmöglichkeit die Sache nach allen Seiten hin wenden muss, bis man zu dem richtigen Urteil gelangt, ob es besser ist die Sache auszuführen oder sie zu unterlassen.
Die Tora hat z. B. geboten: „Zurechtweisen sollst du deinen Nächsten“![6] Es kommt nun oft vor, dass man ein Vergehen an einem Ort und zu einer Zeit rügt, wo die Mahnung doch kein Gehör findet, ja dazu Veranlassung gibt, dass die Ermahnten nun im Trotz noch weiter gehen, den Namen G-ttes entweihen und zu ihrem Vergehen das Verbrechen fügen. In solchen Fällen heißt uns die rechte Frömmigkeit: schweigen. Wie es die Weisen in dem Satze aussprechen: „Wie es eine Mizwa ist, wenn man Gehör findet, zu reden, eine ebenso große Mitzwa ist es, im entgegengesetzten Falle nicht zu reden“.[7]
Es ist zweifellos in der Ordnung, wenn man zur Ausübung einer Mizwa eilt und sich bemüht, dabei selbst mittätig zu sein.
Doch oft kann daraus ein Streit entstehen, durch den die Mizwa viel mehr verächtlich gemacht und der g-ttliche Name viel mehr entweiht wird, als er durch die Ausübung hätte geehrt werden können. In solchen Fällen ist es Pflicht des Frommen, die Ausübung der Mizwa zu unterlassen und sich nicht um sie zu bemühen. So sagen die Weisen von den Leviten:[8] Sie wussten, dass es ein besonders verdienstliches Werk sei, die heilige Lade zu tragen. Sie ließen daher Tisch, Leuchter und Altäre stehen und liefen alle der Lade nach, um sich ein besonderes Verdienst zu erwerben. So kam es denn zum Streit. Der eine sagte: ich will tragen, der andere sagte: ich will tragen. Dabei gingen sie denn leichtsinnig mit der heiligen Lade um und wurden von der g-ttlichen Herrlichkeit gestraft.
Man soll im Angesichte des Ewigen die Gebote in allen ihren Einzelheiten ausüben, da soll man sich nicht fürchten und sich nicht schämen. Wie es in Tehillim heißt: Ich rede von deinen Satzungen vor Königen und schäme mich nicht.[9] Und wie es in der Mischna steht: „Sei dreist wie ein Panther, wenn es gilt den Willen deines Vaters im Himmel zu vollführen.[10] Und doch! Auch hier gibt es Unterschiede, auch hier heißt es: prüfen. Denn das Erwähnte gilt nur von den eigentlichen Geboten, zu deren Ausübung wir in jedem Falle verpflichtet sind. Da sei man hart wie Kiesel.
Doch die fromme Betätigung, die über das Maß des durchaus Gebotenen hinausgeht, unterlasse man lieber, wenn sie bei dem gemeinen Manne ein Lächeln oder spöttische Bemerkungen hervorrufen könnte.
Man gibt ja nur Anlass, dass die Anderen sich versündigen und Strafe erleiden. Darum ziemt es in solchen Fällen dem Frommen, dergleichen zu unterlassen. Nach dem Worte Michas: „Bescheidentlich wandle vor deinem G-tte!“[11] Es gibt viele durch ihre Frömmigkeit berühmte Männer, die, wenn sie sich unter einfachen Leuten bewegten, jede sie auszeichnende fromme Betätigung unterließen, um sich nicht lächerlich zu machen. Mit einem Wort: Was an einem Gebot wesentlich ist, das muss man ausüben, mag spotten, wer da will. Doch ist etwas unwesentlich und kann es Anlass zu Scherz und Spott geben, dann tue man es nicht!
So sehen wir: Wer sich in echter Frömmigkeit betätigen will, muss alle seine Handlungen abwägen. Er muss die Folgen und die Verhältnisse je nach Zeit und Ort, nach den Personen und der Gesellschaft berücksichtigen. Wenn der g-ttliche Name in höherem Masse geheiligt, wenn G-tt eine größere Freude bereitet wird durch die Unterlassung der Handlung, dann muss sie eben unterbleiben. Oder, wenn eine Handlung beim ersten Anblick gut, in ihren Folgen und Mitteln aber zu verwerfen, eine andere aber beim ersten Anblick zu tadeln, durch das, was sich aus ihr ergibt, aber zu loben ist, so richtet sich alles nach dem endgültigen Ergebnis, nach der rechten Frucht, die die Handlung zeitigt.
Letzten Endes hängt das Alles von einem rechten Empfinden und von einem klaren Denken ab.
Die Einzelheiten sind unmöglich anzugeben. Dafür sind sie zu zahlreich. „G-tt gibt die Weisheit, von Ihm kommt Erkenntnis und Einsicht“.[12] Am Schlusse folge noch ein instruktives Beispiel:[13] R. Tarfon hatte sich in der Praxis nach der erschwerenden Ansicht der Schule Schammais gerichtet und sich zum Lesen des Schema auf dem Wege niedergelegt. Er geriet dadurch in Lebensgefahr und meinte später, er hätte mit Recht sein Leben verwirkt, weil er die Entscheidung der Schule Hillels übertreten. Und dabei hatte er sich doch der Erschwerung unterzogen. Es hat mit dieser Sache eben folgende Bewandtnis.
Der Streit zwischen den Schulen Schammais und Hillels war für Jisrael verhängnisvoll. Er hatte immer größere Dimensionen angenommen, bis endlich die Entscheidung fiel, man solle in der Praxis sich immer nach der Ansicht der Schule Hillels richten. Die Zukunft der Lehre hing also davon ab, dass dieser Beschluss für alle Zeiten in ungeschwächter Kraft aufrecht erhalten bliebe, damit es nicht G-tt behüte zu einer Trennung in der Auffassung der Lehre käme. Darum ist es nach der Anschauung dieser Mischna, die von R. Tarfon erzählt, viel mehr ein Beweis von Frömmigkeit, wenn man an der Entscheidung der Schule Hillels festhält, obwohl sie eine Erleichterung bietet, als wenn man eine Erschwerung auf sich nimmt und dabei der Schule Schammais folgt. Das kann uns ein Fingerzeig sein, wie wir den echten und rechten Weg finden, um das zu tun, was in den Augen G-ttes das Rechte ist.
- Tehillim 84,6 & 84,12 ↑
- Schmuel 2,9 ↑
- Tehilim 37,28 ↑
- Nidda 61a nach Jeruschalmi 41,9 ↑
- Gittin 56a ↑
- Wajikra 19,17 ↑
- Jewamot 65b ↑
- Bamidbar Rabba 5 ↑
- Tehilim 119,46 ↑
- Pirke Awot 5,28 ↑
- Micha 6,8 ↑
- Mischlej 2,6 ↑
-
Brachot 10b ↑