Messilat Jescharim – Frömmigkeit: Absicht

Datum: | Autor: Rabbi Moshe Chaim Luzatto | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Absicht

Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem für seine Schriften über jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk “Messilat Jescharim” («Der Pfad der Aufrechten»), welches den Weg des geistigen Wachstums eines jüdischen Menschen weist, wurde vom Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.

Fortsetzung

Neunzehntes Kapitel – Frömmigkeit: Einzelheiten, 4. Teil

Wir haben über die beiden Hauptmomente bei der Frömmigkeit gesprochen, über die Handlung und über die Art und Weise, wie die Handlung ausgeführt wird.

Das dritte Hauptmoment war die Absicht.

Wir haben nun schon über die verschiedenen Abstufungen gesprochen, ob etwas in reiner oder nicht in reiner Absicht geschieht. Sicherlich, wer bei seiner religiösen Pflichterfüllung die Absicht hat, seine Seele vor dem Schöpfer zu läutern, damit sie einst vor Seinem Antlitz im Kreise der Guten und Frommen weilen, und all das Liebliche um G-tt schauen dürfe, und ihre Wonne finden in Seiner Halle — von dem können wir nicht sagen, dass er eine schlechte Absicht hat. Aber wir können auch nicht sagen, dass sie die beste ist. Denn, solange man noch an das eigene Glück denkt, haftet an der religiösen Pflichterfüllung immer etwas vom Eigennutz.

Die echt reine Absicht, wie sie sich bei den Frommen findet, die sich keiner Mühe und Anstrengung scheuen, um sich zu ihr empor zu schwingen, ist jedoch anders. Da dient man dem Herrn, gelobt sei Er, nur, damit Seine Herrlichkeit erhöht und erweitert werde. Sie ist eine Folge der gesteigerten Liebe zu G-tt, wenn man sehnsüchtig danach strebt, dass G-ttes Ehre erhöht werde und Schmerz empfindet, wenn sie gemindert wird. Dann kennt man für den Dienst G-ttes nur das eine Ziel: Wenigstens, soweit es von mir abhängt, soll G-ttes Herrlichkeit erhöht sein.

Den Mensch erfüllt dann die Sehnsucht, dass auch alle anderen Menschen so denken sollen. Dann seufzt man schmerzerfüllt darüber, dass die anderen, vor allem aber auch man selbst es daran hat fehlen lassen. Ist es doch schwer, sich jederzeit von Sünden frei zu halten. Manchmal ist ein Versehen daran schuld, mal ein unüberwindliches Hindernis, oder die Schwäche der eigenen Natur. Nach dem Worte der Schrift: „Es gibt keinen Menschen auf Erden, der nur das Gute täte und nicht (niemals) sündigte.“[1]

Im Tanna Dewe Elijahu[2] wird das näher ausgeführt.

Es heißt dort: Jeder Weise in Jisrael, in dem das rechte Wort der Tora lebt, der um die entweihte Ehre G-ttes und Jisraels seufzt und der das sehnsüchtige Verlangen und die Hoffnung hegt auf die Wiederherstellung der Herrlichkeit Jeruschlajims und des Tempels, dass das Heil in Bälde hervorsprieße und die Verbannten heimgeführt werden — in dieses weisen Worten webt der Geist G-ttes. Wir sehen: das ist die vornehmste Gesinnung, der jede Spur von Eigennutz fernliegt, die nur auf die Ehre G-ttes und auf die Heiligung Seines gelobten Namens gerichtet ist. Denn Sein Name wird durch Seine Geschöpfe geheiligt, wenn sie Seinen Willen vollführen. Darum heißt es: „Wer ist fromm? Wer eine fromme Gesinnung gegen seinen Schöpfer hegt.“

Der Fromme in diesem Sinne, darf sich nicht damit begnügen, alle Mitzwot in der von uns geschilderten vornehmen Gesinnung auszuführen. Er muss immer den Schmerz darüber in sich lebendig erhalten, dass Jisrael verbannt und der Tempel zerstört ist und dadurch, wenn man das Wort aussprechen darf, auch die Herrlichkeit G-ttes gemindert wird; er muss sich nach der Erlösung sehnen, weil durch sie auch die Herrlichkeit G-ttes erhöht wird. Wie es in der obenerwähnten Stelle hieß: Er hegt das sehnsüchtige Verlangen und die Hoffnung auf die Wiederherstellung der Herrlichkeit Jeruschalajims usw. Er bete beständig für die Erlösung Jisraels, für die Wiedererhöhung der Ehre G-ttes.

Wenn aber einer spricht:

Wer bin ich und was bin ich, dass ich beten dürfte für die Verbannten und für Jeruschalajim?! dann kann er die Antwort sich selber geben. Sie steht im Talmud: Deshalb wurde die Menschheit nur in einem einzigen Wesen erschaffen, damit ein Jeder sagen solle: „Um meinetwillen wurde die Welt erschaffen.“[3] Es bereitet G-tt eine Freude, wenn Seine Kinder darum bitten und beten. Und ob auch ihre Bitte nicht erfüllt wird, weil die Zeit noch nicht gekommen oder was auch immer der Grund sein mag, sie haben das Ihrige getan, und G-tt freut sich darüber.

Weil man es daran fehlen ließ, zürnt der Prophet: „Er sah, dass niemand da war, Er war erstaunt, dass keiner betete“.[4] Ferner: „Ich blickte auf, da war Keiner, der half. Ich war erstaunt, Keiner sprang bei“.[5] Und bei Jeremia: „Zion, um das sich niemand kümmert!“[6] Aus diesen Worten leiten unsere Weisen das formelle Gebot ab, um Zion zu sorgen.[7] Wir sind also dazu verpflichtet und können uns nicht damit entschuldigen, dass unsere Kraft zu gering sei. Auf dergleichen findet das Wort Anwendung: „An dir ist es nicht, die Arbeit zu vollenden, aber du hast auch nicht die Freiheit, dich ihr zu entziehen“.[8]

Eine andere Stelle in Jeschaja lautet:

„Da war niemand, der sie geleitete von allen Söhnen, die sie geboren, niemand, der sie bei der Hand ergriff von allen Söhnen, die sie großgezogen“.[9] Ferner „Alles Fleisch ist Gras und all seine Liebe wie die Blume des Feldes“.[10] Und unsere Weisen bemerken: „Alle Liebe, die sie üben, wenden sie auf sich, auf ihren eigenen Vorteil und ihren eigenen Nutzen,[11] sie haben nicht jene vollkommen reine, edle Gesinnung, sie beten nicht um die Erhöhung der G-ttlichen Ehre, um die Erlösung Jisraels. Die Ehre des Höchsten kann ja eine Steigerung nur erfahren, wenn Jisrael erlöst wird, wenn Jisrael mehr Anerkennung gewinnt. Das eine hängt vom andern ab. Wie es in der obenerwähnten Stelle des Tanna Dewe Elijahu hieß, dass der Weise um die entweihte Ehre G-ttes und Jisraels seufzt.

So handelt es sich hier um zwei Momente: Zuerst um die völlig reine Absicht bei der Erfüllung jeder religiösen Pflicht, dass sie geübt werde, nur um G-ttes Ehre zu erhöhen, indem man Ihm eine Freude bereiten will. Zweitens um die schmerzliche Sehnsucht nach der Erhöhung dieser Ehre, dass sie zur Vollendung gelange durch die Erhöhung der Ehre Jisraels und seines Glückes.

Noch ein anderer wichtiger Punkt muss für die Absicht des Frommen bestimmend sein: das Wohl der Zeitgenossen.

Jeder Fromme muss bei seinen frommen Werken auf das Wohl seiner Zeitgenossen bedacht sein, dass sie um seinetwillen von G-tt mit Gütern bedacht werden und geschützt bleiben. Das ist der Sinn des Schriftwortes: „Preiset den Frommen, er ist gütig, die Früchte seiner Handlungen genießen sie“.[12] Alle Zeitgenossen genießen eben seine Früchte. Und die Weisen deuten die Anweisung, die Mosche den Kundschaftern gab, dass sie sich im Lande umsehen sollten, ob dort Bäume wären, sie sollten sich überzeugen, ob dort Männer wären, die ihren Mitbürgern Schirm und Schutz böten, wie die Bäume.[13] Es ist aber der Wunsch G-ttes, dass die Frommen in Jisrael für alle Anderen, die auf einer niederen Stufe stehen, durch ihr Verdienst Sühne erwirken. Wie das in dem obenerwähnten Midrasch, in der symbolischen Ausdeutung des Lulawgesetzes, geschildert war.

G-tt wünscht ja nicht den Untergang der Frevler.

Vielmehr liegt den Frommen die Pflicht ob, alles zu tun, um durch ihr Verdienst Jenen Sühne zu erwirken. Dieser Pflicht werden sie gerecht, wenn sie mit dem Dienste G-ttes solche Gedanken verbinden und sie im Gebete direkt aussprechen. Wenn sie für ihre Zeitgenossen beten, dass G-tt dem Versöhnung schenke, der der Sühne bedarf, den in Reue zurückführe, der bereuen muss, wenn sie als Fürsprecher auftreten für ihre ganze Zeit.

Die Weisen bemerken auch zum Passuk in Daniel: „Ich durfte auf deine Worte hin kommen“,[14] dass der Engel Gawriel erst dann wieder in das Allerheiligste treten durfte, als er für Jisrael Fürsprache getan.[15] Und zu Gideon wäre deshalb gesprochen worden: „Zieh hin in dieser deiner Kraft“[16] weil er als Fürsprecher für Jisrael aufgetreten. Denn G-tt hat nur den lieb, der Jisrael liebt. Und mit je heißerer Liebe wird man selbst umfangen. Das sind die rechten Hirten in Jisrael, an denen G-tt so sehr Gefallen hat. Sie opfern sich für ihre Herde, und sorgen und mühen sich, mit allen Mitteln ihr Wohl und Glück zu fördern. Sie treten allzeit in den Riss, um für sie zu beten, die schweren Verhängnisse abzuwenden und ihnen die Tora des Segens zu öffnen. Wie ein Vater den am meisten liebt, den er seinem Sohne in treuer Liebe zugetan weiß.

Das lehrt uns die Erfahrung.

Das ist auch der Sinn jener Stelle im Talmud,[17] in der der Hohepriester verantwortlich gemacht wird für die fahrlässigen Tötungen, die sich ereignen. Er hätte das Erbarmen G-ttes für seine Zeitgenossen herabflehen sollen, und er hat es nicht getan. Das der Sinn der Erzählung: Ein Löwe hatte drei Meilen von dem Wohnsitz R. Joschuas, des Sohnes Levis, entfernt einen Menschen gefressen, da erschien Elijahu drei Tage hindurch nicht dem R. Joschua.[18] Hierin ist es klipp und klar ausgesprochen, dass den Frommen die Pflicht obliegt, für ihre Zeitgenossen zu beten und um sie zu sorgen.

So haben wir die Hauptmomente bei der Frömmigkeit erörtert. Die Einzelheiten müssen verständigem Nachdenken und der Reinheit des Fühlens überlassen bleiben. Sie werden schon entscheiden, wie man, diesen Grundzügen folgend, jederzeit den rechten Weg einschlage.

Fortsetzung folgt ijH

  1. Kohelet 7,20
  2. Ed Friedmann S. 19
  3. Nach Sanhedrin 37a
  4. Jeschaja 59,16
  5. Jeschaja 63,4
  6. Jirmijahu 30,17
  7. Sukka 41,1
  8. Pirke Awot 2,21
  9. Jeschaja 51,18
  10. Jeschaja 40,6
  11. Jalkut zu Mischlej 14,34
  12. Jeschaja 3,10
  13. Bawa Basra 15 nach Bamidbar 13,20
  14. Daniel 10,12
  15. En Jaakow Joma Per. 8
  16. Jalkut zu Schoftim 6,14
  17. Makkot 11,1
  18. Makkot 11,1

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