Gewidmet der Jeschiwo in Montreux
Die Übersetzung des Wortes „Jeschiwa“ bereitet wohl zunächst eine Enttäuschung. Wenn auch die deutsche Sprache in dem Begriff der „Sitzung“ eine ähnliche Bildung hat, welche die geduldige, ruhige Beratung schwerwiegender Fragen durch denselben Wortstamm bezeichnet, so erscheint doch beim ersten Blick der Name nüchtern und ohne Schwung. Allerdings hatten auch die alten babylonischen Hochschulen, wie mir scheint, einen Parallelbegriff in der Bezeichnung כלה „Kalla“ für ihre alljährlichen Versammlungen. Nur bedeutet Kalle nicht Zusammenfassung aller Wissenschaften, sondern Zusammenfassung aller Gelehrten, denn in den Monaten Elul und Adar jedes Jahres kam nach Sura und Pumpedisa, den Orten der Mesifta, die gesamte Gelehrtenwelt des Landes, um die gemeinsame Massechta zu besprechen. Alle Wissenschaften umfassen zu wollen, erscheint dem Juden eine Anmassung zu sein. Aber der Stolz der Mesifta war es, in der Zusammenarbeit und der Mitwirkung aller Kenner von Fern und Nah ihre Aufgabe durchführen zu können.
Aber auch das schlichte Wort Jeschiwa ist mit Bedacht gewählt. Wenn auch die Wortform “Jeschiwa” vergleichsweise neu ist, als “Moschaw” kennt es die Tora schon an verschiedenen Orten. Spricht doch der Tehilimsänger von Moschaw Sekenim, von der Versammlung der Gelehrten[1]. Joschaw bedeutet: irgendwo für die Dauer Heimat und Ruhe finden, im Gegensatz zu „gur“, dem flüchtigen Aufenthalt. Es wird zum Beispiel unserem Stammvater zum Vorwurf gemacht, wenn es heißt וַיֵּשֶׁב יַעֲקֹב בְּאֶרֶץ מְגוּרֵי אָבִיו daß er vorzeitig ein Streben nach Ruhe und Frieden, nach Glück und Entspannung geltend gemacht habe. Als Josefs Brüder nach Ägypten kamen, entschuldigen sie sich bei Pharao: „nur zu vorübergehendem Aufenthalt sind wir hierher gekommen; nun wir einmal gekommen sind, möchten wir schon dauernd Unterschlupf im Lande Goschen finden.“
Für unser Volk wird es immer als Verheißung ausgesprochen:
Du wirst das Land Kanaan in Besitz nehmen, וְיָשַׁבְתָּ בָּהּ und darin beheimatet werden für die Dauer. In diesem Sinn ist „joschaw“ eines der Verben, das einen Idealzustand malt, wonach jeder Mensch auf Erden strebt, und seine Verwirklichung gilt als höchstes Glück.
So nur ist es zu verstehen, wenn der Passuk in Tehilim diejenigen selig preist אַשְׁרֵי יוֹשְׁבֵי בֵיתֶךָ, die in Deinem Haus, o G-tt, ihre Heimat finden, die dort zu Hause sind. Darum bittet der königliche Sänger, daß שִׁבְתִּי בְּבֵית ה‘ כָּל יְמֵי חַיַּי daß er alle Tage seines Lebens Heimatgefühl haben möchte im Hause G-ttes. Diese Stellen lassen sich noch beliebig vermehren.
Ich glaube, unsere Weisen haben den Namen “Jeschiwa” gewählt, um zum Ausdruck zu bringen, daß hier die Heimat der jüdischen Seele ist. Alle Unruhe der Welt verstummt, aller Zwiespalt unserer inneren Natur, die immer zwischen Himmel und Erde auf und nieder schwankt, die bald sich mit allen Fesseln und Ketten in die Niederungen der Erde gezogen fühlt und bald in kühnem Fluge ins Geisterreich sich emporschwingen will. Hier findet sie die Atmosphäre, in welcher der Sturm der Seele sich besänftigt, wo man das beglückende Gefühl des endlichen Zuhauseseins hat.
Die Jeschiwa ist den Juden geistige Heimat.
Als Jakob nach Ägypten herunterzog, schickte er den Jehuda vor sich her, wie der Midrasch erzählt, um dort eine Jeschiwa für ihn einzurichten, einen Fleck Erde, wo er mitten in der götzendienerischen Welt seine irdisch-über-irdische Heimat behalten kann. Und so hat in all seinen Galutwanderungen das jüdische Volk das furchtbare Los der Heimatlosigkeit durch die Schaffung der Jeschiwot erst zu überwinden gewußt.
Diese Stimmung der Jeschiwot ist etwas Einzigartiges, der Außenstehende kennt sie nicht. Man muß in ihr stehen, sie mitatmen, wenn man sie empfinden soll. Sie ist nicht, wie die Luft der Prophetenschule, von der im Buche Samuel berichtet wird, voll hinreißendem Schwung und feuriger Begeisterung, daß sie selbst die feindlichen Boten des Königs und diesen selbst mit ihrer Ekstase entzündet, daß auch Saul unter die Propheten ist, sie kennt auch nichts von all den irdischen Motiven, den praktischen Gesichtspunkten, die unsere profanen Hochschulen erfüllen, wo der Ehrgeiz, die Lebensnotwendigkeiten, das Streben nach beruflicher Ertüchtigung unvermeidlich die Reinheit der geistigen Atmosphäre trüben.
Es ist eine Welt höchster Geistigkeit, aber tiefster Seelenruhe,
stärkster Spannung und doch vollster Freiheit, zartester religiöser Weihe und doch schärfster kritischer Forschung, die Gemüt und Herz ebenso wie den Verstand erfüllen und befriedigen, in welcher alle unsere Seelenkräfte in reiner Harmonie spielen können. Es ist die höchste seelische Befriedigung, die in dem Wort joschaw, in dem Wort Jeschiwa ihren Ausdruck gefunden hat.
Nur wer die Luft dieser Jeschiwa eingeatmet hat, kennt das Judentum als Himmel und Erde verbindende Kraft. Überall, wo man eine neue Jeschiwa gründet, ist es daher eine unsägliche Bereicherung und Beglückung der ganzen jüdischen Welt dieses Kreises.
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Tehilim 107,32 ↑