שַׁלֵּחַ תְּשַׁלַּח אֶת הָאֵם וְאֶת הַבָּנִים תִּקַּח לָךְ לְמַעַן יִיטַב לָךְ וְהַאֲרַכְתָּ יָמִים – „Schicke die Mutter weg, und die Kinder nehme dir, damit es dir wohl ergehe“ (22,7).
Im Midrasch werden für die Erfüllung der Mizwa von „Schiluach haKen“, dem Wegschicken der Vogelmutter, besondere Belohnungen angegeben: „Hast du keine Kinder, so wirst du Kinder haben; hast du die Vogelmutter weggeschickt, so wirst du einen jüdischen Knecht wegschicken [d.h. du wirst zu Reichtum gelangen und dir Knechte leisten können]. Hast du die Mizwa erfüllt, so bringst du damit das Kommen von Elijahu haNawi und dem Moschiach näher“[1].
Weshalb werden gerade diese Dinge als Lohn versprochen und welcher Zusammenhang besteht zwischen ihnen und dieser Mizwa?
Auch gibt diese Belohnung ein Rätsel auf, da es für die Erfüllung der Mizwot bekanntlich keine wirkliche Belohnung in dieser Welt gibt?[2]
Bekanntlich besteht unsere Aufgabe im Monat Elul in der Verwirklichung von [3]אֲ’נִי לְ’דוֹדִי וְ’דוֹדִי לִ’י, dessen Anfangsbuchstaben “Elul” ergeben. Die Frage ist nur, wie wir dieses Ziel von „Ani leDodi“ – also die Rückkehr zu Hkb“H – erreichen.
Mosche Rabenu sagte zum Klall Jisrael (Dewarim 5,5): „Ich stehe zwischen Hkb“H und Euch“, was von Rabbi Mosche Polier sZl. von Kobryn (Belarus) so interpretiert wird: „Ich – der Stolz eines Menschen – steht wie eine eiserne Mauer zwischen G’tt und dem Menschen. Haschem sagt: „Ich und er können nicht zusammen auf dieser Welt wohnen“[4].
Stolz und Hochmut sind eine unüberwindliche Barriere, die nicht nur den Weg zur Erlangung der Keduscha (Heiligkeit) versperrt, vielmehr wird auch der ganze Lebensweg dieser Person gestört.
Beziehungen mit Geschäftspartnern, Bekannten oder Verwandten werden schwer belastet, die Erziehung der Kinder kann nicht erfolgreich sein, das Privatleben ist mit schweren Krisen durchzogen. Auch sein Torah-Lernen, der Kijum haMizwot (Erfüllung der Gebote), selbst seine Tefilot, Ma’assim Towim (gute Taten) und Verdienste in Sachen ‘Zorche Zibbur’ (Tätigkeiten für das Wohl der Gemeinde), werden durch seinen dummen Stolz behindert, der alle seine Leistungen abwertet und sie zu zerbrechen droht. Sogar die lang ersehnte Ge’ula des Klall Jisrael wird dadurch behindert!
Deshalb ist es ‘Minhag Jisrael’, im Monat Elul Schofar zu blasen, um die vom Menschen selber um sich herum errichteten eisernen Mauern niederzureissen, wie einst Jehoschua bin Nun die Mauern der Stadt Jericho durch das Schofar einstürzen ließ. Die Schofartöne sollen den Stolz des Menschen zerbrechen, so dass seine Verbindung zu Hkb“H wiederhergestellt wird.
Dies geschieht mit dem Bewusstsein, dass „Ani“ – der Stolz, „leDodi“ – nur G’tt alleine gehört, und nicht dem Menschen, wie es heisst:
אָשִׁירָה לַה‘ כִּי גָאֹה גָּאָה – „Ich lobe Haschem, denn Er ist hocherhoben“[5], „ה‘ מָלָךְ גֵּאוּת לָבֵשׁ – „Haschem ist mit Stolz (Erhabenheit) bekleidet“[6]. Alles gehört Hkb“H, Er steht über allem, denn alles ist von Ihm erschaffen und von ihm den Menschen zugeteilt worden. Folglich hat nur Er das „Recht”, sich über andere zu erheben und sich im „Kleid des Stolzes und der Erhabenheit” zu zeigen. Sobald dem Menschen diese Grundregel klar geworden ist, „weDodi li“ – ist man wieder mit der g’ttlichen Schechina verbunden.
In diesem Sinne werden auch die anderen in den Psukim gefundenen Andeutungen zum Monat Elul klar: וּמָל ה‘ אֱלֹקֶיךָ אֶ’ת לְ’בָבְךָ וְ’אֶת לְ’בַב זַרְעֶךָ – „Haschem Dein G’tt wird dein Herz beschneiden und das Herz deiner Nachkommen[7]. Mit der Beschneidung des Herzens ist die Entfernung des im Herzen aufkommenden Stolz gemeint, die wie eine „Orlah“ (Vorhaut) das Herz verdeckt und der Verbindung zu G’tt im Weg steht.
Ebenso enthält das am Purim verlangte וּמִשְׁלוֹחַ מָנוֹת אִ’ישׁ לְ’רֵעֵהוּ וּ’מַתָּנוֹת לָ’אֶבְיוֹנִים – „Das Senden von Speisen an andere und Spenden an die Armen“[8], eine Andeutung auf den „Elul“. Dies ist ein weiterer Schritt in der Bekämpfung und der Beseitigung des Stolzes, indem der Mensch lernt, etwas von sich wegzugeben und sich um das Wohl anderer zu kümmern. Nur auf diese Weise besitzt der Jehudi die Möglichkeit, die Aufgabe von „Ani leDodi“ zu meistern und sich G’tt zu nähern. Nur dann kann sich die im Elul und Tischri täglich gesagte Bitte von Dawid haMelech erfüllen, der sagte: ‚ל’וּ’לֵ’א הֶאֱמַנְתִּי לִרְאוֹת בְּטוּב ה – „Wenn ich nicht vertraute, die Güte von Haschem zu sehen“[9]. Denn wer im Elul seinen Stolz bekämpft, kann sicher sein, dass „weDodi li“ – er an der g’ttlichen Güte teilhaben wird.
Die im Monat Elul in der Torah geleinten Parschijot enthalten bekanntlich die zur Vorbereitung der nahenden Jamim haNora’im (hohen Feiertage) nötigen Themen[10].
So lehrt die Torah den Jehudi, mit der Mizwa von „Schiluach haKen“ seinen Stolz zu bändigen. Obwohl sich die Vogelmutter in seiner Gewalt befindet und er von ihr einen Nutzen haben könnte, verlangt die Torah von ihm, sie wegzuschicken. Der Nutzen der Allgemeinheit hat Vorrang vor seinem eigenen Nutzen, da die Vogelmutter die Welt mit weiteren Vögeln bereichert.
Dieses Prinzip gilt in allen Bereichen des täglichen Lebens: Es ist dem Menschen zwar erlaubt, sich mit irdischen oder geistigen Gütern zu bereichern, jedoch nicht auf Kosten anderer. Das Vorrecht des eigenen Lebensunterhalt – „Chajecha Kodmin“ – bezieht sich nur auf die Grundexistenz, die hier mit den Vogeleiern dargestellt wird. Eine Bereicherung durch das zusätzliche Wegnehmen der Vogelmutter ist jedoch nicht erlaubt, weil sie auf Kosten anderer geschieht, die noch von der Vogelmutter profitieren könnten.
Sie werden somit unnötigerweise benachteiligt!
Anderen Leuten einen Gefallen erweisen, sie in Torah und Kijum haMizwot zu unterweisen oder für sie zu dawenen, ist ein Zeugnis der menschlichen Fähigkeit, sein eigenes Ego und Selbstinteresse auf die Seite zu schieben und sich um das Wohl anderer zu kümmern. Aber auch diese gewaltigen Leistungen müssen frei von jeglichen Hintergedanken sein. Es soll ihm nicht etwa um die Steigerung seines Ansehens in den Augen der Mitmenschen gehen! Somit symbolisiert die Mizwa von „Schiluach haKen“ mit dem Wegschicken der Vogelmutter den Verzicht und die Negierung des Eigeninteresses, des Stolzes, des „Ich“.
Wer nun seinen Stolz aus dem Weg räumt, kann seine Kinder richtig erziehen, da sein Egoismus ihm nicht im Wege steht. Daher verstehen Chasal den Passsuk „we’et haBanim tikach lach” – „und die Kinder nehme dir“, als eine sich von selbst erfüllende Beracha und nicht als eigentliche Belohnung: „Wer keine Kinder hatte, wird durch diese Mizwa den Verdienst haben, Kinder zu bekommen“.
Da nur bescheidene Menschen die Aufgabe der richtigen und erfolgreichen Erziehung von Kindern erfüllen können, wird ihnen ganz sicher von Hkb“H der kostbare “Besitz” jüdischen Kindern gerne anvertraut werden.
Ebenso sollten eigentlich nur bescheidene Menschen von G’tt mit Reichtum versorgt werden, weil nur diese die vertrauensvolle Aufgabe, das ihnen anvertraute Vermögen nur für Torah und Mizwot zu verwenden, in der Tat umsetzen können. Solche Leute bringen auch tatsächlich das Kommen von Elijahu und Moschiach näher, die Frieden und Achdut (Eintracht) auf der gesamten Welt und in Jisrael selber, wie auch zwischen Hkb“H und Jisrael bringen werden – „weHeschiw Lew Banim al Awotam”[11] (Elijahu wird das Herz der Söhne ihren Vätern zurückbringen), indem sie den zerstörerischen Stolz, den ‘Jezer haRa‘ (Amalek/Koach haTum’ah) der Menschen auf der ganzen Welt vernichten und ausrotten werden.
- Midrasch Dewarim Rabba 6,6 ↑
- Kiduschin 39b ↑
- Schir haSchirim 6,3 ↑
- Sota 5a ↑
- Schmot 15,2 ↑
- Tehilim 93,1 ↑
- Dewarim 30,6 ↑
- Esther 9,22 ↑
- Tehilim 27,13 ↑
- Chidusche haRim u.a. ↑
-
Mal’achi 3,24 ↑