Rabbi Matisjohu Salomon ist Maschgiach Ruchani (geistiger Aufseher) der berühmten Jeschiwa „Beth Medrasch Govoha“ in Lakewood, New Jersey. Er ist ein Schüler von Rabbi Elijahu Lopian SZL.
Fortsetzung. Kapitel 4.
Ehre und Respekt
Wir haben schon die Vorrangstellung warmer und echter Ausdrücke der Liebe in der Beziehung zwischen Eltern und Kind besprochen. Diese sind die wichtigsten Linien der Kommunikation mit dem Kind. Sie bringen es dazu, für Disziplin empfänglich zu sein, für den Unterricht und die Lehren der Eltern, da es weiss, dass es gut und nützlich ist. Deshalb ist es auch bereit, es zu akzeptieren, auch wenn der Prozess des Chinuch nicht angenehm ist.
Bevor wir über den eigentlichen Ablauf von Chinuch sprechen, müssen wir ein anderes fundamentales Prinzip begründen, eine weitere Bedingung für einen bedeutungsvollen und erfolgreichen Ablauf des Chinuch. Das ist das Konzept von Kawod, Ehre und Mora, Furcht.
Es gibt zwei Mizwot in der Tora in Bezug auf das Verhältnis zwischen Eltern und einem Kind.
Die eine ist die Mizwa von Kibud Aw wa’Em, Eltern ehren und respektieren (Schemot 20:12), und die andere ist Isch Imo we’Awiw tira‘u, Eltern fürchten (Wajikra 19:3). Die Tora befiehlt uns, dass wir unsere Eltern ehren und fürchten sollen. Einige Gesetze werden von diesen Mizwot abgeleitet. Wir müssen aufstehen, wenn unsere Eltern das Zimmer betreten. Wir dürfen ihnen nicht widersprechen. Wir dürfen nicht auf ihrem Platz sitzen. Und viele andere.
Die Tora gab uns diese Mizwot aus einem Grund, doch einige Eltern – ob nun aus Bescheidenheit oder vielleicht aus einem irrigen Konzept moderner Erziehung, beschließen, auf ihr Vorrecht als Eltern zu verzichten. Sie bestehen nicht darauf, dass ihre Kinder für sie aufstehen. Sie verlangen nicht, dass ihre Kinder respektvoll zu ihnen sprechen. Sie versuchen, Freunde und Kumpel ihrer Kinder zu sein, und die strengen Regeln von Respekt und Ehre passen nicht genau in ihren Plan.
Das ist ein ernsthafter Fehler. Wir wissen alle, dass der Zweck der Mizwot, unsere Eltern zu ehren und zu fürchten, ist, uns Hakarat hatow zu lehren, Wertschätzung und Dankbarkeit. Doch es gibt auch einen anderen Zweck, einen sehr wichtigen Zweck. Es ist ein kritisches Element im Chinuch von Kindern.
Respekt und Einfluss
Was ist das Konzept von Kawod in der Tora? Weshalb müssen wir bestimmten Dingen und bestimmten Menschen Respekt zeigen? Was haben sie davon, dass sie unseren Respekt erhalten? Wozu brauchen sie ihn?
Die Antwort ist, dass sie ihn wirklich nicht brauchen. Niemand braucht Kawod im echten, wesentlichen Sinn. Menschen, die sich nach Kawod sehnen, rennen einer Illusion nach. Weshalb sollen wir dann unseren Eltern und Rabbinern und älteren Leuten Kawod geben, wenn sie ihn nicht brauchen?
Weil wir es brauchen. Wir müssen anderen für unseren eigenen Nutzen Kawod erweisen. Es besteht eine direkte Beziehung zwischen Kawod und Haschpa’ah. Je mehr wir andere Menschen ehren und respektieren, von denen wir lernen müssen und die uns eine Inspiration sein sollen, desto mehr werden wir empfänglich sein für das, was sie uns zu geben haben. Wir müssen die Tora respektieren, denn wir benötigen ihren Einfluss auf unser Leben. Wir müssen das Bet Hamikdasch respektieren, da wir es brauchen, um uns mit seiner Heiligkeit zu inspirieren. Wir müssen unsere Rabbiner respektieren, denn wir müssen von ihnen geführt werden. Wir müssen unsere Eltern respektieren, denn wir müssen von ihrem liebevollen und hingebungsvollen Chinuch geformt werden.
Es ist also eine Dummheit, wenn Eltern auf ihr Recht verzichten, von ihren Kindern mit Ehre und Respekt behandelt zu werden.
Zwar haben Eltern das Recht, mochel zu sein, auf ihr Recht und ihre Privilegien zu verzichten, doch sie sollen lang und gründlich darüber nachdenken, bevor sie es tun.
Lohnt sich der Preis, den sie zahlen werden, wirklich, da sie den Einfluss auf ihre Kinder verlieren? Manchmal finden wir bei sehr besonderen Menschen, dass sie auf ihre Rechte auf Ehre und Respekt verzichten. Doch das sind ausserordentliche Fälle. Normalerweise sind diese Menschen so speziell, dass sie durch ihren Verzicht so viel Respekt erhalten, dass ihr Einfluss sich vergrößert statt sich zu vermindern. Doch bei den meisten Menschen ist es nicht der Fall.
Wenn Sie zulassen, dass Sie mit weniger als dem vollen Respekt behandelt werden, so wird auch Ihr Einfluss weniger werden. Wollen Sie das für Ihre Kinder?
Dies bedeutet natürlich nicht, dass Eltern ins andere Extrem gehen sollen. Sie sollen keine drakonische Bedingungen in ihrem Haus einführen. In England existierte früher eine Erziehungsform, die ‘Victorianische Disziplin’ genannt wurde. Sie wurde nach der alten Königin Victoria benannt, die mehr als sechzig Jahre mit eiserner Hand regierte. Während der viktorianischen Periode durften Kinder am Tisch ihren Mund nicht öffnen, um zu sprechen. Sie mussten eintausend Mal ‘Bitte’ und ‘Danke’ sagen. Sie mussten sich unzähligen Regeln strengster Etikette unterwerfen. Kurz gesagt, die Kinder wurden unterdrückt und zerdrückt.
Das ist nicht unser Ziel mit der Mizwa von ‚Kibud Av wa’Em’. Das macht ein Kind zu einem wahrhaften Gefangenen. Doch das Kind wird in einem gewissen Mass profitieren, wenn man angemessenen Respekt von ihm verlangt. Zumindest soll es für seine Eltern aufstehen, wenn diese an den Schabbat-Tisch kommen, oder das erste Mal das Zimmer betreten, wenn nicht jedes Mal danach.
Die äußerlichen Ausdrücke von Respekt für die Eltern werden schließlich einen echten Respekt im Herzen des Kindes hervorrufen und es empfänglich für den Chinuch seiner Eltern machen.
In unserer Generation sind viele Menschen sogar stolz darauf, dass sie nicht auf dem Kawod bestehen, zu dem sie berechtigt sind. Sie sehen sich als aufgeklärt und fortschrittlich. Doch hat uns die Tora diese Mizwot ohne Grund gegeben? Waren sie nur für rückständige, nicht aufgeklärte Menschen? Sicherlich nicht. Sie wurden zum Nutzen des Kindes gegeben. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil in seinem persönlichen Wachstum und wenn wir auf unsere Rechte auf Kawod verzichten, so klopfen wir uns vielleicht auf den Rücken, doch unsere Kinder werden unter den Folgen leiden.