Unsere Weisen nennen das Schawuot-fest «עצרת», «Schlussfest».
Der Ramban erklärt, dass der Grund, warum Schawuot «Schlussfest» genannt wird, ist, weil es den Abschluss vom Pessach bildet. Nun muss man sich fragen, was Schawuot, der Tag, an welchem Haschem uns die Tora gab, mit Pessach, der Zeit, in der uns Haschem aus Ägypten ausziehen liess, miteinander zu tun haben.
Rabeinu Bechaje in “Chowat Hallewawot” schreibt, dass wenn ein König seinem Volk Gutes erweist, so stellt er dadurch das Volk unter seine Macht und hindert es daran, seinem Willen zu widersprechen. Genauso G-tt, der König der Könige. Durch die Güte, die er allen Erschaffenen erweist, bringt er sie unter seine Macht und hindert sie daran, Seinem Willen zu widersprechen. Als Haschem uns aus Ägypten ausziehen liess, erwies Er uns dadurch noch mehr Güte als allen anderen Geschöpfen; dadurch kamen wir unter Seine Macht und wurden zu Seinem Volk. Deshalb konnte uns Haschem jetzt, nachdem wir unter seine Macht kamen und Haschem verpflichtet wurden, die Tora und Mitzwot geben. Doch da sich Jisrael in der neunundvierzigsten Stufe der Unreinheit befanden, war es ihnen unmöglich, in diesem geistigen Zustand die Tora zu empfangen. Sie mussten sich also auf Matan Tora („das Geben der Tora“) vorbereiten.[1]
Schauen wir uns einen der Aspekte dieser Vorbereitung an.
„Und Jisrael lagerte (Einzahl) dort dem Berg gegenüber“ (Schmot 19,2). Raschi zur Stelle erklärt: wie ein Mann, einmütig; aber an allen anderen Lagerplätzen war Murren und Streit. Das bedeutet, dass die Einigkeit im Volk Jisrael eine Vorbedingung für den Empfang der Tora war. Man muss verstehen, warum es so ist.
In der Einleitung zum Sefer Scharei Joscher von Rav Schimon Schkop SZL, Magid Schiur in der Telser Jeschiwa, steht, dass G-tt in den Mensch die Selbstliebe einpflanzte. Diese ist notwendig und G-ttgewollt. Gleichzeitig ist jedoch die Selbstliebe der Grund für das ichbezogene Verlangen nach Reichtum. Hätte der Mensch einen vollkommenen Glauben an G-tt, würde er verstehen, dass der Reichtum G-ttes ist, und auch das, was dem Mensch zu gehören scheint, ihm nicht wirklich gehört. Doch wenn beim Mensch die Selbstliebe einen grösseren Stellenwert hat, als der Glaube an G-tt, kann er schliesslich zur vollkommenen G-ttesleugnung kommen, G-tt bewahre.
Auf den ersten Blick steht sogar die G-ttgewollte Selbstliebe im Widerspruch zur ebenfalls geforderten Liebe Anderer. Wir müssen hier einen Zwischenweg finden. Rav Schimon Schkop erklärt, dass dies von der Breite der Definition des „ich“ abhängt. Wenn der Mensch auf dem Weg der Tora geht, und sein ganzes Verlangen ist danach, den G-ttlichen Willen zu vollbringen, dann wird dieser Wunsch zum zentralen Gegenstand seiner Selbstliebe und zum Kernstück seines “ich”.
Geistige Realität ist, dass die Vollbringung des G-ttlichen Willens durch den Verbund aller Jehudim geschieht.
Als Gleichnis kann man die Arbeit einer Fabrik nehmen. Das fertige Produkt ist das Ergebnis der gemeinsamen Tätigkeit aller Fabrikmitarbeiter; wenn man allerdings die Tätigkeit eines Einzelnen für sich, ohne ihre Verbindung zur Arbeit anderer Fabrikmitarbeiter betrachtet, so ist diese eigentlich praktisch sinnlos. Genauso verhält es sich mit der Verwirklichung des “ich” eines jüdischen Menschen im Rahmen der jüdischen Geistesnation. Jeder jüdische Mensch ist ein Organ des Körpers von Volk Jisrael und nur als solches bedeutsam. Ein solches „ich“ muss unweigerlich das ganze Volk Jisrael miteinschliessen. Wenn das «ich» so definiert ist, dann steht die Selbstliebe nicht nur in keinem Widerspruch zur Liebe Anderer, sondern umgekehrt, die Selbstliebe bringt den Menschen dazu, das ganze Volk Jisrael zu lieben.
Die Ausführung des Willens des Schöpfers erfolgt durch das Lernen und Ausführen der Tora, in welcher Haschem seinen Willen ausdrücklich kundtat. Jemand, der Tora erwerben möchte, muss hierbei den Weg gehen, den unsere Weisen in Pirkei Awot (Kapitel 6) aufzeigten; es gibt keinen anderen. Sie zählten achtundvierzig Sachen auf, die zum Erwerb der Tora (Kinjan Hatora) führen. Die achtundvierzig Sachen teilen sich in zwei Kategorien auf: die Voraussetzungen für das Verstehen der Tora, und die Eigenschaften, die den Mensch befähigen, die Tora in sich aufzunehmen. Diese Eigenschaften sind genau das, was notwendig ist, damit die Selbstliebe richtig definiert ist und in keinem Widerspruch mehr zur Liebe Anderer steht.
Diese Eigenschaften sind für den Kinjan ha-Tora unabdingbar.
Nun lassen sich die vorerwähnten Worte von Raschi gut verstehen. Raschi schreibt, dass ganz Jisrael einmütig waren. D.h., alle bildeten eine Vereinigung, deren Inhalt war, dass alle das gleiche Streben hatten, den Willen des Schöpfers auszuführen. Dies war Vorbedingung für Matan Tora.
Bekannt ist, dass der wirkende Einfluss, welcher bei Matan Tora am Berg Sinai von Haschem auf das jüdische Volk herabkam, jedes Jahr am Schawuot erneuert wird und wir jedes Jahr die Tora aufs Neue bekommen. Deshalb jetzt vor Schawuot müssen wir sich auch zum Geben der Tora vorbereiten, unser «ich» richtig definieren und uns untereinander verbinden.
-
Rabbi Jerucham Lewowitz SZL, der Mirrer Maschgiach, im Sefer “Schwiwe Daat” ↑