„Schoftim weSchotrim titen Lecha bechol Sche’arecha…. – Richter und Aufseher / Ausführungsbeamte sollst du dir setzen in allen deinen Toren….“
Bekannt ist die Erklärung des Rabbi Chajim Vital sZl., der diesen Passuk auf die „Tore des Menschen“ bezieht, der streng auf seine fünf Sinnesorgane achten und sie kontrollieren muss, damit sie sich nur gemäss dem Willen der Tora verhalten. Daher ist der Passuk in der Einzahlform gefasst „titen Lecha – du sollst dir setzen“, da er sich an jeden Einzelnen von Jisrael wendet [1].
Rabbi Aharon von Karlin sZl. macht auf den Targum Unkelos aufmerksam, der ansonsten das Wort „Schotrim“ mit „Sarkaja“ (Beamte) übersetzt [2], hier jedoch das Wort „Pur’anin“ verwendet, was Bestrafer bedeutet, Personen die das Volk zwingen, den Verordnungen der Richter nachzukommen. „Um sich und seine eigene Tore selbst unter Kontrolle halten zu können“, führt der ‚Bet Aharon‘ aus, „muss man sich manchmal die g’ttliche Strafe in Erinnerung rufen, die man bei Selbstverschulden erleiden muss“. Demgemäss interpretiert er auch den Rest des erwähnten Passuk: „Ascher Haschem Elokecha noten Lecha liSchwatecha – [in deinen Toren], die Haschem dein G’tt dir für deine Stämme gibt“: Wie kannst du das Amt des Richters und des Aufsehers über die Tore deines Körpers wirkungsvoll ausführen? „liSchwatecha“ Indem du die Furcht vor G’ttes Strafe benutzt, um über deine menschliche Empfindungen und Reize regieren zu können [das Wort „Schewet-Stamm“ kommt vom Ausdruck Schewet-Stock/Regierungsstab].
Ferner rät uns die Tora, erklärt der ‚Zeror haMor‘: „Weschaftu et ha’Am Mischpat Zedek – und sie sollen das Volk nach gerechtem Gericht richten“. Wer sich selbst ständig kontrolliert, richtet auch seine Mitmenschen gerecht und beurteilt sie nicht nach seinem Gutdünken und aufgrund falscher Vorurteile. Daher sagen Chasal: „Keschot azmecha, we’achar kach keschot acherim“, zuerst richte dich selbst und danach richte andere[3]. Erst wenn man sich selbst zu richten und verurteilen versteht, kann man sich der Beurteilung – und allenfalls der Verurteilung – anderer zuwenden!
Vielleicht dürfte auf diese Weise der Sinn der drei Sanhedrijot gedeutet werden, die es im „Bet haMikdasch“ gab: Beim ‚Har haBajit‘ (Tempelberg), in der ‚Esrat Naschim‘ (Vorhof) und in der neben dem Misbeach befindlichen ‚Lischkat haGasit‘ (Quaderkammer), wo das „Grosse Sanhedrin“ sass [4].
Das Bet haMikdasch symbolisiert den Höhepunkt der Awodat Haschem und Jir’at Schamajim des zum „Kodesch Kodschim“ emporstrebenden Jehudi, dessen Ziel es ist, wie das Allerheiligste selber als Ruheort der heiligen Schechina dienen zu können. Um bis zu dieser Stufe aufzusteigen, muss er daher immer wieder über sich selbst die Funktion des „Schofet und Schoter“ (Richter und Polizist) ausüben und seine Taten wie vor dem Tribunal des Sanhedrin stehend kontrollieren und richtig beurteilen. Diese Regel muss jeweils vor jeder auszuführenden Tat beachtet werden, wenn der Mensch sich noch auf dem „Har haBajit“, auf dem Weg zum Bet haMikdasch befindet, also noch lange vor der Tat. Er muss über diese nachdenken, auch wenn er nicht unmittelbar vor deren Ausführung steht. Es ist immer gut, sich Gedanken über alle möglichen Mizwot und Lebenssituationen zu machen und sich darauf vorzubereiten, damit man nicht einst plötzlich vor einer Aufgabe steht und keine Ahnung hat, wie man sie bewältigen soll.
Danach muss besagte Regel in der „Asara“, dem Vorhof des Bet haMikdasch, also unmittelbar vor Verrichtung der Tat bedacht werden. Und diese Kontrolle muss bis ans Ende durchgezogen werden, also auch während der Tat selbst, im Bet haMikdasch innen beim ‚Misbeach‘ stehend, damit es dem ‚Jezer haRa‘ nicht doch noch zum Schluss gelingt Einfluss zu gewinnen.
Der ‚Schem miSchmuel‘ von Sochatschov sZl. wundert sich jedoch, wie eine solche „Selbstbeurteilung“ möglich sei, wir der Mensch sozusagen als sein eigener Richter fungieren könne. Der Mensch steht sich doch selbst am nächsten, und ist daher voller Selbstinteresse (Negiot), wie kann er sich dann „richtig“ beurteilen und richten?
Er antwortet, dass er dies tatsächlich nicht kann! Es obliegt ihm aber auch gar nicht die Aufgabe, sich selbst zu richten, sondern er muss sich nur kontrollieren und beurteilen. Da er aber nur an seine eigene Vorteile und Interessen denkt, kann er daher nie sicher sein, dass er tatsächlich ein „Zadik“ ist. Deshalb befürchten die Zadikim immer, dass sie noch nicht in Ordnung sind, und sie korrigieren ständig auch Kleinigkeiten und kleinste Feinheiten ihrer Taten und Leistungen. Ein definitives Urteil über seine Leistungen und geistigen Madrega kann er nicht fällen. Diese Aufgabe kann nur vom „Obersten aller Richter“ exakt und gerecht ausgeführt werden.
Dennoch ist diese Selbstkontrolle und Beurteilung des Menschen ein äusserst wichtiger Massstab seines Aufstiegs im G’ttesdienst. Dafür ist uns der „Monat Elul“ als anregendes Beispiel gegeben worden, damit auch die gewöhnlichen Menschen, die sich nicht während des ganzen Jahres hindurch immer selbst kontrollierten, dies zumindest jetzt ausführt, bevor man zum richtigen Gericht am ‚Rosch haSchana‘ schreitet. Deshalb wird die ‚Parschat Schoftim‘ jedes Jahr zu Beginn des Monates Elul geleint, um uns auf die Aufgabe von „Schoftim und Schotrim titen lecha bechol Sche‘arecha“ zu ermahnen, dass wir zumindest jetzt unsere eigenen Tore richten und dementsprechend korrigieren.
Quellennachweis:
- [1] siehe Nachal Kdumim (Chid“o), wie auch im Sefer Schlo“h Hak.
- [2] siehe Dewarim 20,8
- [3] Baba Batra 60b
- [4] Mischna Sanhedrin 86b und Massechet Midot 5,4