Die Mehrheit jüdischer Gemeinden (sowohl die aus Europa stammenden Aschkenasim, als auch die aus östlichen Ländern stammenden Sfaradim) pflegt nach dem Anzünden der Chanuka-Lichter den alten Pijut “Ma’os Zur” zu singen (lediglich bei den jemenitischen Juden gibt es diesen Brauch nicht).
Einige singen jeweils nur die erste Strophe, die Mehrheit pflegt alle sechs Absätze zu singen.
Man geht davon aus, dass dieser Pijjut im 13. Jahrhundert in Deutschland geschrieben wurde; einer Zeit, die wegen der christlichen Kreuzzüge von schweren Verlusten geprägt war. Die Anfangsbuchstaben der ersten fünf Strophen enthalten den Namen des Autors מרדכי (Mordechai; dieser poetische Kunstgriff wird als Akrostichon bezeichnet). Vermutlich war dies der herausragende Toragelehrte und Pajtan Raw Mordechai Ben Hillel aus Nürnberg. Er hat auf diese Weise seinen Namen – wie damals üblich – in einer Reihe weiterer Pijjutim und Elegien (Kinot) einfliessen lassen.
Raw Mordechai Ben Hillel war ein Schüler des Maaram aus Rotenburg, der führenden Persönlichkeit dieser Generation, und verfasste auf dessen Rat einen Kommentar zum halachischen Kodex von Rif (Rabbi Jitzchak ben Jaakow Alfasi). In diesem Kommentar, der “Sefer Mordechai” (oder einfach “Mordechi” oder “das Buch Mordechais”) genannt wird, sind zahlreiche Besonderheiten aschkenasischer Gemeinden und Unterschiede der Posskim zwischen den Weisen aus Deutschland (Aschkenas) und Spanien (Sfaradi) festgehalten. Das Buch wurde zu einem der wichtigsten halachischen Nachschlagewerke für alle aschkenasischen Gemeinden. In Beilagen zu klassischen Talmud-Ausgaben ist das “Buch Mordechais” direkt nach dem “Rif Kodex” gedruckt.
Raw Mordechai Ben Hillel hat die poetische Sprache auf so hohem Niveau beherrscht, dass er ein Buch über Schechita (koschere Tiertötung) und koschere Ernährung in Gedichtform verfasst hat. Wie die ganze blühende Gemeinde der Stadt wurde der herausragende Weise und langjährige Rabbiner Nürnbergs 5058 (1298) durch Kreuzritter, es werde ausgelöscht deren Name, getötet. Gemäss einer Überlieferung wurden seine Überreste nach Israel gebracht und dort auf dem Ölberg begraben, in der Grabhöhle des Rabbi Ovadija aus Bartenura.
Einige Wissenschaftler vermuten einen anderen berühmten Pajtan als Autor dieses Pijuts; den in Italien geborenen Raw Mordechai Ben Yizchak haLevi. Dieser lebte in Mainz, einem der damaligen Zentren des Torastudiums.
Das Hauptthema des Pijuts “Ma’os Zur” ist die Hilfe des Allmächtigen, der das Volk Israel über alle Geschichtsepochen hinweg zu seiner Rettung führt.
Der Pijjut beginnt mit einem Gebet, in welchem wir den Schöpfer um den Wiederaufbau des Tempels bitten. In den nachfolgenden fünf Strophen werden fünf wichtige Exile – Galut – thematisiert, die das Jüdische Volk durchlebt hat. Zu Beginn gehen die Juden aus der Ägyptischen Knechtschaft heraus (zweite Strophe), danach erleben sie die siebzigjährige “Gefangenschaft” in Babylon (dritte Strophe). Nachfolgend wähnen sich die Söhne Israels unter Persischer Herrschaft, unter der ihnen in den Tagen des Bösewichts Aman die vollständige Vernichtung drohte (vierte Strophe). Die fünfte Strophe ist den unmittelbaren Begebenheiten von Chanuka gewidmet, als “mit nur einem übrig gebliebenen Öllicht ein Wunder vollbracht wurde,” in dessen Andenken die “Chachamim sieben Tage des Singens und der Danksagung angeordnet haben.”
Schliesslich befasst sich die sechste und letzte Strophe mit dem letzten Exil unter der Herrschaft der geistigen Nachfolger Edoms und Roms und der bevorstehenden Rettung.
Der Pijjut besticht durch eine vollkommene poetische Formgebung. Jeder Absatz ist in zwei gleich lange Hälften aus sechs Silben geteilt, wobei alle Fragmente mittels komplexer und verschiedenartiger Rhythmen verbunden sind.
Wie viele andere Werke jüdischer Pajtane enthält “Ma’os Zur” eine Fülle an bildlichen und direkten Zitaten aus Tora und Tanach, die gekonnt in den Text hineingewoben sind.
1)
Zuflucht, meiner Hilfe Hort, Dir gebühret Lobesgesang,
Gründe des Gebetes-Haus, dass wir Dankesopfer dort bringen.
Wenn die Strafe Du bereitest jedem wütenden Bedränger,
dann vollend ich unter Psalmlied des Altares Weihe.
2)
Elend fühlte meine Seel’, Kummer rieb die Kraft mir auf,
Druck verbitterte mein Leben in Ägyptens harter Knechtschaft.
Doch der Herr mit starker Hand erlöste sein erwähltes Volk,
Pharao sank, sein Heer und Stamm, in die Tiefe wie ein Stein.
3)
Zum Tempel führte mich der Herr, doch blieb mir keine Ruhe dort,
es kam der Feind und trieb mich weg, weil ich den Götzen hab gedient.
Ich trank des Taumelweins Kelch, doch kaum war ich hinweggeführt,
kam Babels Sturz, nach siebzig Jahr erlöste mich Serubabel.
4)
Der Eiche Stamm zu fällen, drohte Agagi, des Hamedatha Sohn,
das ward sein eigener Untergang, sein Hochmut ward hinweggetilgt,
Binjamins Haupt hast Du erhöht, des Feindes Namen ausgelöscht,
der Söhne Schar, sein teurer Schatz, an seinem Galgen aufgeknüpft.
5)
Die Griechen zogen gegen mich in der Chaschmonaim Tagen,
brachen meiner Türme Mauern, entweihten all das heilige Öl,
nur ein übrig Krüglein ward dem rosengleichen Volk zum Wunder,
der Weisen Rat der Tage acht bestimmt zu Lied und Jubel.
6)
Enthülle die Macht Deiner Heiligkeit, bring die endgültige Rettung näher,
Räche das Blut Deiner Diener von den grausamen Verfolgern
denn verzögern tut sich die Zeit unserer Rettung, die bösen Tage nehmen kein Ende
verstosse Esaw, den Roten, in den Schatten der Hölle, richte uns auf der Hirten sieben.
Übersetzung des Pijuts von Rabbiner S. Bamberger SZL
Übersetzung des Artikels von Yehuda Koritschan