Gedanken zu den „Drei Wochen“
„Jerida IeZorech Alija“
Gemäss einer bekannten kalendarischen Regel fällt jeweils der erste und letzte Tag der „Drei Wochen“ – die Fasttage des 17. Tamus und des 9. Aw – auf denselben Wochentag wie der erste Tag, auf den der vergangene Jom Tov Pessach fiel[1].
Im Schulchan Aruch wird dazu der in Bezug des Korban Pessach erwähnte Passuk als ‚Siman‘ (Merkmal) angeführt (Bamidbar 9,11): „al Mazot uMerorim jochaluhu“ – „Zusammen mit Mazzot und Bitterkräutern sollt ihr es verzehren“. Das Maror dient hier als Anspielung auf den 9. Aw, der auf denselben Wochentag wie der Pessach – Mazza – fällt (wie auch der Fasttag des 17. Tamus. Dies kann auch als im Wort „Merorim“ angedeutet verstanden werden, das im Plural steht – zweimal „Bitter“, was aber auch eine Andeutung auf die zweimalige Zerstörung des Bet haMikdasch am 9. Aw! sein könnte).
Doch worin besteht der Zusammenhang zwischen “Pessach” und den “Drei Wochen“?
Rabbi Zadok haKohen Rabinowitz von Lublin sZl. (gest. Lublin 5660/1900) erklärt dies so: „In der ersten Nacht von Pessach ist Jisrael aus Mizrajim gezogen und somit zum Volk G’ttes geworden, wie es heisst (Schemot 6,7): „welaKachti etchem li leAm“ – „Ich werde euch Mir zum Volk nehmen“. Das Hauptziel von ‚Jeziat Mizrajim‘ (Auszug aus Ägypten) war ,Matan Torah‘ (die Offenbarung der Torah), wie Hkb“H es Mosche Rabenu vorausgesagt hatte (3,12): „Wenn du das Volk aus Mizrajim führst, werdet ihr G“tt an diesem Berg dienen“, womit Matan Torah gemeint war. Durch die Torah wurde der Klall Jisrael mit G“tt – einer „Kala“ (Braut) ähnlich – verbunden[2].
Diese Ehe ging bekanntlich am 17. Tamus in die Brüche. Als Mosche Rabenu das Volk mit dem “Goldenen Kalb” sündigen sah, zerbrach er die „Luchot haBrit“, die Bundestafeln, die diesen g‘ttlichen Bund Jisraels mit Haschem wie eine „Ketuba“ (Ehebrief) bezeugten. Mosche wollte damit erreichen, wie der Midrasch ausführt, dass Jisrael hinsichtlich ihres Frevels des Götzendienstes nur als ,Pnuja‘, sozusagen als ‚ledige Frau‘ und nicht als ‚verheiratete Ehefrau‘ gerichtet wurde, die keinen echten “Ehebruch“ begangen hatte[3].
Bemerkenswert ist, dass Hkb“H Mosche Rabenu für das Zerbrechen der Luchot mit keinem Wort tadelte, im Gegenteil, er lobte ihn sogar dafür!
„Haschem sprach damals zu mir: „Haue dir zwei steinerne Tafeln aus gleich den ersten… Ich werde auf sie die Worte schreiben, die auf den ersten Tafeln standen, אַשֶׁר שִׁבַּרְתָּ, die du zerbrochen hast“ (Dewarim 10,2). Das Wort „ascher“ interpretieren Chasal als יִישַׁר: Haschem sagte: „Jischar Kochacho (möge deine Kraft gestärkt werden) sche‘schibarta – „Ich danke dir, dass du sie zerbrochen hast!“[4]
Mosche Rabenu hat mit seiner Tat unwissentlich den Willen von Hkb“H erfüllt, der diese Ereignisse bereits vorausgesehen hatte und dies auch so wollte[5]. Haschem bezweckte mit dem Zerbrechen der Luchot aber noch etwas Zusätzliches und Tiefgreifendes: „Die ,Schewirat haLuchot‘ war eine Vorbereitung für den Erhalt der Torah schebe‘al Peh (mündliche Lehre)“. Sie war eine ‚Jerida leZorech Alija‘, ein Niedergang, der für den künftigen Aufstieg und Aufbau nötig war.
„Trauere nicht darüber“, tröstete Haschem Mosche, „denn die ersten Luchot besaßen nur die „zehn Gebote“.
Mit den zweiten Luchot gebe Ich dir auch Halachot, Midraschim und Agadot“[6].
Das Licht der “mündlichen Lehre“ wurde dem Volk Jisrael erst mit den ‚Luchot Schnijot‘ gegeben, ein bemerkenswerter Umstand, der vielleicht durch den folgenden Ausspruch Chasals zu verstehen ist: „En Adam omed al Diwre Torah, ela im ken nichschal bahen“ – „Kein Mensch kann die Worte der Torah erfassen, nur dann, wenn er über sie gestrauchelt ist“[7].
Im täglichen Leben geht der von seiner Umwelt und Jezer haRa (Trieb zum Bösen) geblendete und abgelenkte Mensch immer wieder an zahlreichen Schätze vorbei, ohne dass er das vor ihm liegende Glück bemerkt. Es bedarf daher einer besonderen himmlischen Güte, um ihm einen Stoß zu geben und ihn straucheln zu lassen.
Dem nur den am Boden liegenden Menschen kommen sogleich verschiedene Gedanken auf, die sich alle um diesen Sturz ranken.
„Weshalb bin ich hingefallen? Wo waren meine Augen? Warum hat mir G‘tt dies beschert?“ Und da erblickt er ganz plötzlich etwas Glänzendes auf dem Boden. Sogleich hat er seine Schmerzen vergessen, seine Klage verwandelt sich in Neugier, und ehe er sich versieht, beginnt er rund um dieses glitzernde Ding zu graben. Er wühlt im Boden, bis er schließlich eine alte Truhe ausgräbt, deren Griff aus dem Boden ragte und die er im ersten Augenblick als glitzernden Stein betrachtet hatte. Vorsichtig öffnet er die Truhe und der Anblick verschlägt ihm die Sprache. Er hat einen unermesslichen Schatz gefunden! Jetzt freut er sich sogar über seinen Sturz, denn ohne diesen hätte er die Truhe nie entdeckt.
So verhielt es sich auch bei den ‚Luchot haBrit‘. Die unermessliche Tiefe und gewaltige Lehre der „Torah scheBichtaw“ (schriftlichen Lehre) hätte Jisrael nie ohne das Licht der „mündlichen Lehre“ erfassen können. Hkb“H musste sie jedoch darauf aufmerksam machen, damit sie diesen wahren ‘Ozar‘, diesen geistigen Schatz, entdecken, und zwar durch ihren geistigen Niederfall und ihre Sünde beim ‚Egel haSahaw‘.
Es ist die Sucht und Vergötterung des Materiellen, das unter sich das verborgene Licht der Torah – den unermesslichen Reichtum der jüdischen Nation – begräbt und der Erkenntnis der Menschen entzieht!
Die Zerstörung des „Bet haMikdasch“ und die Galut-Leiden sollten uns daher, so wie eine „Jerida leZorech Alija“, wie der Niedergang zum Zweck des Wiederaufstiegs, das verloren gegangene Glück, die Heiligkeit und Besonderheit des G‘tteshauses, das Chaschiwut und die Wichtigkeit des Bet haMikdasch und Erez Jisrael besser verstehen und begreifen lassen. Wir sollen uns dadurch auf den Erhalt des dritten und künftigen Bet haMikdasch und der Rückkehr ins heilige Land vorbereiten.
Deshalb heisst der Schabbat vor Tisch‘a beAw „Schabbat Chason“ (Schabbat des Sehens), wie in den Sefarim haKedoschim erklärt wird, weil nur durch diese Trauertage, durch diesen gewaltigen geistigen Niedergang, das Licht des Moschiach — der am Tisch‘a beAw geboren wird[8] – aufleuchtet und damit die Erkenntnis der Wahrheit und der künftigen Erlösung erkennbar wird und zu sehen ist.
Die G‘ttliche Antwort
Jirmijahu haNawi fragte (9,11): „Wer ist der weise Mann, der dies versteht: ‚Weswegen ist das Land verloren gegangen?‘“
Diese Frage, so die Erklärung von Raw in der Gemara, wurde allen Chachamim und Newi‘im (Propheten) gestellt, doch niemand vermochte sie zu beantworten. Bis Haschem selbst ihnen die Antwort gab (9,12): „Wajomer Haschem: Al oswam et Torati“ – „Weil sie meine Torah verlassen haben, die Ich ihnen gegeben habe“. Nicht, dass sie damals keine Torah lernten, gibt Raw zu verstehen, sondern sie machten keine Beracha vor dem Lernen[9]. „Das Torah-Lernen war ihnen nicht so wichtig, als dass sie es für nötig gefunden hätten, vor dem Lernen einen Segensspruch (Birkat haTorah) zu sagen“, kommentiert Rabenu Jona die Worte von Raw[10].
Der damaligen Generation fehlte damit die Erkenntnis der Wahrheit, der tiefere Einblick in die Torah, die g‘ttliche Weisheit und das Begreifen des Zwecks ihres Daseins auf Erden.
Hier fehlte die Ernsthaftigkeit bei der Erfüllung der Aufgabe als jüdisches Volk, als durch ‚Jeziat Mizrajim‘ und ‚Matan Torah‘ auserwähltes Volk G‘ttes. Folglich musste es straucheln! Die g‘ttliche Gnade ließ es über sein Glück fallen, damit es dieses besser erkennen, schätzen lernt und danach sorgfältiger behüten wird.
Erst wenn der Mensch seinen Schatz selbst entdeckt und aus eigenem Antrieb erworben und sich angeeignet hat, sieht er die Torah mit anderen Augen und lernt sie derart lieben, dass er sie nie mehr aus den Händen lässt, und wie ein Kleinod schützt, hegt und pflegt.
Es ist daher die Aufgabe der „Drei Wochen“ und insbesondere von Tisch’a be’Aw, uns zum Bündnis der Torah, zu den „Luchot haBrit“ zurückzuführen, dem eigentlichen Ziel von ‚Jeziat Mizrajim‘. Dies ist der Grund, führt der zu Beginn erwähnte Rabbi Zadok aus, weshalb der Anfang und das Ende der Trauerwochen – die „Jemej ben haMezarim“ – jeweils auf den Wochentag vom diesjährigen Tag von Pessach – „Jeziat Mizraji“m – fallen[11].
- Schulchan Aruch Orach Chajim 428,2 und Remo O“Ch 476,2 ↑
- Die Bezeichnung von קיחה („welaKachti“) – „nehmen“, wird auch für die „Kiduschin“, den Erwerb (Kinjan) einer Frau, verwendet. Siehe Gemara Kiduschin 4b, gemäss Dewarim 24,1. ↑
- Midrasch Schmot Rabba 43,1 und 46,1 ↑
- Schabbat 87a ↑
- Schabbat und Midrasch Schmot Rabba 46,3 ↑
- Midrasch ibid. 46,1 und 47,7 ↑
- Gittin 43a ↑
- Jeruschalmi Berachot 2,4 und Midrasch Ejcha Rabbati 1,51 ↑
- Nedarim 91b ↑
- Chidusche haRa“n zur Stelle ↑
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Pri Zadik zu Parschat Pinchas 9 ↑