Geschichte von Rav Scholom Schwadron
Mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Zeitung Zürich
Wir haben alle schon vom Zaddik Rav Jecheskel Abramsky, das Andenken des Gerechten zum Segen, gehört. Er fuhr von Russland nach London, war dort Rav und kam später nach Jeruschalaim; von dort erstrahlte sein Licht in der ganzen Welt.
Folgende Geschichte habe ich von ihm persönlich gehört.
Rav Jecheskel Abramsky wurde aufgrund eines „schweren Vergehens“ nach Sibirien geschickt: er lernte und lehrte Tora zu der Zeit, als Bolschewiken das Land regierten. Das Urteil wurde gefällt und seine Strafe war, einige Jahre in Sibirien zu verbringen. Es ist bekannt, dass nur wenige der Zwangsarbeiter wieder lebendig aus Sibirien zurückkamen. Die meisten starben durch die schreckliche Kälte, die dort herrschte.
Reb Jecheskel erzählte mir: „Am ersten Morgen, nachdem ich dort angekommen war, wurde uns befohlen, unsere Schuhe und Socken auszuziehen und uns draußen im Schnee in einer Reihe aufzustellen. Es herrschte draußen eine schreckliche Kälte: Minus fünfzig Grad Celsius! Und dann wurde uns gesagt, dass wir nun eine Strecke von drei Kilometern im Schnee rennen müssen. Und so standen wir barfuß in der Reihe und warteten auf das Zeichen des Kommandanten, dass wir mit dem Rennen beginnen sollen.“
Reb Jecheskel lebte auf einer sehr hohen Stufe in der Emuna (Glauben) und hatte ständig G-tt vor seinen Augen. Er sprach deshalb auch immer persönlich und direkt mit G-tt: „Tatte! Vater!“
„Während diesen Minuten, als ich zum ersten Mal derart der Kälte ausgesetzt war, sprach ich zu G-tt und sagte: „Vater im Himmel! Du hast doch in Deiner Tora gesagt, dass alles vom Himmel bestimmt wird, außer der Erkältung, wovor ein Mensch sich selbst hüten muss und kann. Es ist Dir doch bekannt, dass es hier nicht in meiner Hand liegt, mich selbst vor der Erkältung zu hüten. Deshalb bitte ich Dich, mich doch bitte auch vor der Erkältung zu schützen!“
Reb Jecheskel fragte mich dann: „Hast du gehört, Reb Scholem?“ und fuhr weiter: „Während meines ganzen Aufenthaltes in Sibirien habe ich mich kein einziges Mal erkältet!“
Dann erzählte er noch weitere Details von seinem Aufenthalt in jener Hölle.
„Ich verbrachte eine längere Zeit in Sibirien und plötzlich, an einem Erev Jom Kippur, kam ein bestimmter Kommandant auf mich zu und teilte mir mit: „Du bist frei! Du kannst gehen, wohin du willst!“ Daraufhin reichte er mir ein Zugbillet, mit dem ich in mein weit entferntes Zuhause reisen konnte.
Ich nahm meine Lumpen, die ich noch besaß – Schuhe und Socken hatte ich damals schon nicht mehr – und ging auf die Bahnstation zu, um auf den kommenden Zug zu warten.
Ich saß dort eine gewisse Zeit und wartete. Dann sah ich plötzlich von weitem, wie der oberste Offizier des Lagers auf mich zukommt. Er schaute sich um und vergewisserte sich, dass niemand ihn sehen konnte. Dann neigte er sich zu mir und flüsterte in mein Ohr: „Sind Sie der Rav?“ Er sah sich nochmals um und nachdem ich seine Frage bejahte, bat er mich, ihm meine Fahrkarte zu zeigen, die man mir soeben gegeben hatte. Ich fürchtete, dass er mir die Karte nun wegnehmen würde und mein Herz begann laut zu schlagen: „Wer weiß? Vielleicht will er mich nicht gehen lassen?“ Jedoch beschloss ich, mich nicht vor ihm zu fürchten und nahm meine Reisekarte heraus. Er schaute sie an und teilte mir mit: „Rabbi, soll ich ihnen etwas sagen? Wenn Sie mit dieser Karte reisen, werden Sie sicher nicht lebendig nachhause kommen. Denn sie gaben Ihnen eine Karte für einen Wagen, der nicht geheizt ist. Sie würden mit Sicherheit erfrieren und man würde ihren Körper aus dem Wagen werfen!“
Schrecklich, was ich hören musste! Jehudim auf der ganzen Welt unternahmen alles Mögliche und sandten Briefe und Boten an die Regierung, um den Rabbiner Abramsky aus dem Lager zu befreien. Am Ende hatten sie keine andere Wahl und mussten mich freilassen. Sie wollten mich jedoch auf eine andere Art loswerden, damit sie sagen können: „Wir haben ihn befreit, er starb aber auf seiner Rückreise.“
Der Offizier schaute sich nun ein drittes Mal um und danach holte er aus seiner Manteltasche eine andere Fahrkarte und steckte sie mir in die Hand: „Hier nehmen Sie diese Karte für einen Wagen mit Heizung. Kommen Sie gesund zuhause an!“
Dann fügte er hinzu: „Ich bin auch ein Jude! Ich bitte Sie um Verzeihung für all das Leid, das ich Ihnen zugefügt habe!“
Er war wirklich ein großer Übeltäter und hat mich sehr geplagt. Vielleicht hat er am Erev Jom Kippur Teschuva-Gedanken gehabt, denn schließlich hatte er doch ein kleines Stückchen jüdisches Herz.
Ich konnte bald den Zug besteigen und sah während der Fahrt wirklich immer wieder, wie sie aus dem anderen Wagen leblose Körper warfen! Mit G-ttes Hilfe erreichte ich jedoch mein Ziel. Als der Zug an einem Dorf halt machte, in dem Juden wohnten, war es schon Abend und die Sonne war schon fast untergegangen. Ich schleppte mich nun mit meinen Lumpen auf das Dorf zu. Die Sonne ging schon unter, als ich das Dorf erreichte. Ich konnte also keine Seuda Hamafseket einnehmen. Und so ging ich gleich ins Beit Haknesset und fastete den ganzen Jom Kippur.“
Den wichtigsten Teil der Geschichte haben wir aber noch nicht gehört!
Nachdem Reb Jecheskel mir noch einige schreckliche Dinge über jene Zeit erzählt hatte, wie die bolschewistische Regierung noch auf anderen Wegen versucht hatte, ihn umzubringen, fügte er hinzu:
„Auf meinem Weg nach Litauen erreichte ich die Stadt Odessa und nahm von dort aus den Zug nach Warschau. Dort traf ich Reb Elchonon Wassermann, das Andenken des Gerechten zum Segen, den Schüler von Chafez Chaim und verständlicherweise umarmten und freuten wir uns über meine Befreiung.
Dann enthüllte mir Reb Elchonon: „Sie wurden am Erev Jom Kippur, am Morgen aus Sibirien entlassen. Richtig?“
Ich war ganz verwundert. Woher wusste er das? „Ja, richtig!“ antwortete ich und fragte ihn ganz offen: „Aber woher wissen Sie das? Sogar bei mir zuhause haben meine Familienmitglieder noch nichts von meiner Befreiung erfahren!“
„Sie fragen, woher mir das bekannt ist, so werde ich es Ihnen sagen.“
„Am Erev Jom Kippur, um ca. zehn Uhr frühmorgens, trat ich mit meinem Rebbe, dem Chafez Chaim aus dem Beit Haknesset, wo wir gedawent haben. Als wir den Pfad herunter schritten, hielt der Chafez Chaim plötzlich inne und rief fröhlich aus: „Siehe, die Bolschewiken haben nicht gewonnen, denn man konnte Rav Abramsky aus Sibirien befreien!“