Messilat Jescharim – Frömmigkeit: die Handlung und die Absicht

Datum: | Autor: Rabbi Moshe Chaim Luzatto | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Handlung

Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem für seine Schriften über jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums eines jüdischen Menschen weist, wurde vom Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.

Fortsetzung

Neunzehntes Kapitel – Frömmigkeit: Einzelheiten

Drei Hauptmomente sind bei der Frömmigkeit zu unterscheiden.

1. Die Handlung selbst,

2. die Art und Weise, wie die Handlung ausgeführt wird, und

3. die Absicht.

1) Die Handlungen selbst gliedern sich ihrerseits in zwei Gruppen: die das Verhältnis zwischen G-tt und dem Menschen und die das Verhältnis zwischen den Mitmenschen berühren.

Die erste Gruppe, die Handlungen, zu denen wir G-tt gegenüber verpflichtet sind.

Bei ihnen kommt es darauf an, die Mitzwot in allen ihren Feinheiten, soweit es menschenmöglich ist, auszuüben. Es ist das, was die Weisen: „die letzten Überbleibsel der Mitzwa“ nennen. Sie sagen davon: „die Überbleibsel der Mitzwa halten von dem, der sie übt, die Strafgerichte fern“[1]. Wenn auch die eigentliche Mitzwa ohnedies ausgeführt wird, und man damit seine Pflicht erfüllt hat, so genügt das doch nur für den Durchschnittsmenschen. Doch die Frommen müssen darauf sehen, die Mitzwot in möglichster Vollendung auszuführen, sie dürfen es an nichts fehlen lassen.

Die zweite Gruppe, die Handlungen gegenüber dem Mitmenschen;

Hier gilt das Prinzip des umfassenden Wohltuns. Tue immer Gutes den Menschen, nie etwas Böses, mit deinem Körper, deinem Vermögen, deinem Gemüte!

Mit deinem Körper!

Bemühe dich, jedem Menschen, soweit es dir möglich ist, zu helfen, ihm seine Last zu erleichtern. Nach dem Worte in Pirke Awot[2]: „er trägt gleiche Lasten mit seinem Nächsten.“ Läuft der Andere Gefahr, an seinem Körper Schaden zu nehmen, dann bemühe dich, wenn es in deiner Macht steht, das zu verhindern oder es gut zu machen.

Mit deinem Vermögen!

Unterstütze ihn nach Kräften, bewahre ihn, soweit wie möglich, vor Schaden, vor Allem sorge dafür, dass nicht durch dich einem Einzelnen oder einer Gesamtheit ein Schaden zugefügt wird. Mag auch der Schaden nicht sofort offenkundig sein, sobald es nur dazu kommen kann, räume und schaffe jede Ursache aus dem Wege. Nach dem Spruche: „Das Vermögen deines Nächsten sei dir so teuer, wie das deine.“[3]

Mit deinem Gemüte:

Sei eifrig darauf bedacht, dem Nächsten, soviel an dir liegt, alle erdenkliche Freude zu machen! Mag es sich um eine Ehrenerweisung oder um andere Dinge handeln, worüber der Nächste, wie du annehmen darfst, Freude empfindet, das musst du ihm antun, das ist ein Gebot der Frömmigkeit. Dass du ihm nicht den geringsten Schmerz bereiten darfst, was es auch immer sein mag, das ist selbstverständlich. Hier ist das weite Reich der Liebestaten, deren Bedeutung unsere Weisen so hoch anschlagen, zu denen sie uns so ernstlich verpflichten. Darunter fällt auch die Bemühung um den Frieden, das ist die allumfassende Form des Wohltuns an dem Mitmenschen.

Was wir hier ausgeführt haben, das ist so einfach, dass es wirklich keines Beweises bedarf. Doch wollen wir es immerhin mit Aussprüchen unserer Weisen belegen.

Die Schüler des R. Sakkai fragten einst ihren Lehrer[4]: „Welches Verdienst hat dir beigestanden, dass du so alt geworden?“ Er antwortete: „Ich habe die Stelle, an der ich betete, vor jeder Verunreinigung bewahrt, meinem Nächsten nie einen Spitznamen gegeben und habe nie einen Kiddusch versäumt. Ich hatte eine alte Mutter, und sie verkaufte einmal ihre Haube und brachte mir Wein zum Kiddusch.“ Da haben wir ein Beispiel für die Frömmigkeit, die sich in der sorgsamen Erfüllung einer Mitzwa betätigt. Von Rechtswegen brauchte er sich keinen Wein zum Kiddusch zu besorgen, da er so wenig besaß, dass seine Mutter ihre Haube verkaufen musste. So war es ein Ausfluss seiner Frömmigkeit. — Und was den anderen Punkt betrifft, die Wahrung der Ehre des Nächsten, so handelt es sich dort darum, dass er ihm auch nicht einen harmlosen Beinamen anhing, wie das Tossafot dort erklärt. —

Ebenso musste sich R. Chunna Bast an sein Gewand binden, weil er seinen Gürtel verkauft hatte, um sich Wein zum Kiddusch zu besorgen[5]. Die Schüler des R. Eleasar ben Schamua fragten ebenfalls ihren Lehrer[6] „Welches Verdienst hat dir beigestanden, dass du so alt geworden?“ und er antwortete; „Nie habe ich ein Bethaus als Durchgang benutzt und bin nie über die Köpfe des heiligen Volkes (der Schüler, wenn sie im Lehrhaus saßen) hinweggeschritten.“ Hier wird die Bedeutung geschildert, die die ehrfürchtige Scheu gegenüber dem Bethaus hat und die Rücksichtnahme auf die Ehre des Mitmenschen. Er wollte nicht über ihren Sitz hinwegsteigen, damit es nicht den Anschein hätte, als missachtete er sie.

Die Schüler des R. Pereda fragten ihren Lehrer[7]:

„Welches Verdienst hat dir beigestanden, dass du so alt geworden?“ Er antwortete: „Immer war ich der Erste am Platze beim Besuche des Lehrhauses, nie bin ich vor einem Kohen zur Tora getreten, und nie habe ich von einem Tiere gegessen, von dem die vorgeschriebenen Abgaben noch nicht abgehoben waren.“ Dieselbe Frage legten R. Nechunja seine Schüler vor, und er antwortete[8]: „Nie habe ich auf Kosten eines Anderen mir Ehre erweisen lassen, und nie folgte mir auf mein Lager der Fluch meines Nächsten.“ Der Ausspruch wird näher erklärt durch die Handlungsweise R. Chunnas. Dieser trug einmal einen Spaten auf der Schulter. Da kam R. Chana, der Sohn Chanilais, hinzu und nahm ihm den Spaten ab. Er aber sprach zu ihm: „Wenn du das in deiner Stadt zu tun pflegst, dann nehme ich es an. Wenn aber nicht, dann ist es mir nicht lieb, dass du dich erniedrigst, damit ich Ehren davontrage.“

Wir sehen also: Obwohl die Wendung: sich durch die Erniedrigung des Nächsten Ehre verschaffen, an sich nur bedeutet: darauf ausgehen, den Andern verächtlich zu machen, um dadurch größere Ehren zu erwerben, so muss der Fromme doch noch weiter gehen. Er darf eine Ehre, die mit einer Erniedrigung des Nächsten verbunden ist, gar nicht annehmen, auch wenn dieser sich selber anbietet und damit durchaus einverstanden ist.

Ein ähnlicher Ausspruch: R. Sera sagte[9]:

„Nie habe ich den Haustyrannen gespielt; nie mir den Vortritt genommen vor Einem, der grösser war als ich, an unreinem Orte nicht über Heiliges nachgedacht, bin nicht vier Ellen ohne Tora und Tefillin gegangen, habe nicht im Lehrhaus geschlafen noch geschlummert, freute mich nie, wenn einem Anderen etwas missglückte, nannte nie meinen Nächsten mit seinem Spitznamen.“ Hier haben wir all die oben erwähnten Momente der Frömmigkeit vereinigt.

Ferner heißt es[10]: R. Jehuda sagt: „Wer fromm sein will, soll alle Vorschriften der Brachot erfüllen“, Andere meinen: „er erfülle alle Bestimmungen, die das jüdische Zivilrecht vorschreibt“, wieder Andere: „er tue all das, was in den Sprüchen der Väter steht.“ Die erste Meinung denkt an das Verhältnis zwischen G-tt und dem Menschen, die zweite an das zwischen den Mitmenschen. In den Sprüchen der Väter endlich ist Alles enthalten.

Die Liebestaten nun sind von der größten Bedeutung für die Tugend der Frömmigkeit.

Wird doch das hebräische Wort für Frömmigkeit von dem Wort für Liebe abgeleitet (חסידות von חסד)! Und unsere Weisen sagen: „Auf drei Dingen besteht die Welt, eins davon sind die Liebestaten.“[11] Ebenso werden sie von den Weisen unter die Dinge gezählt, deren Früchte man in dieser Welt genießt, während der Stamm für das Jenseits bleibt[12]. Andere Stellen sind: Rabbi Simlai sagt[13]: „die Tora beginnt und endet mit einer Liebestat.“

Rabbi sagt[14]: „Wer die folgenden drei Tugenden besitzt, wer barmherzig und schamhaft ist und Werke der Liebe übt, ist sicher ein Nachkomme unseres Stammvaters Abraham.“ R.Elieser sagt[15]: „Werke der Liebe üben bedeutet mehr als Almosen geben.“ Ferner heißt es[16]: „In drei Punkten steht die Liebestat höher als das Almosen. Bei dem Almosen ist nur das Vermögen, bei der Liebestat auch die eigene Person beteilig. Das Almosen ist nur für den Armen, die Liebestat auch für den Reichen. Das Almosen nur für den Lebenden, die Liebestat auch für den Toten.“

Ferner:

„Er gibt dir Erbarmen und erbarmt sich deiner.[17]“ Dies Schriftwort will besagen: „Wer sich des Mitmenschen erbarmt, der findet auch bei G-tt Erbarmen.[18]“ Das ist auch nur natürlich. G-tt „misst doch Maß gegen Maß[19]”. Und wer nun selbst Erbarmen hat und Liebe übt gegen den Mitmenschen, der findet auch bei G-tt die Liebe, die voll Erbarmen die Sünden vergibt. Diese Vergebung erhält er gewissermaßen als sein gutes Recht, es ist ja „Maß gegen Maß.“ Wie unsere Weisen so schön das bekannte Schriftwort deuten: „Wem vergibt er die Schuld? Dem, der selbst die Missetat verzeiht[20]!“

Wer sich aber nicht überwinden, wer nicht Liebe üben will, dem geschieht eben nur sein Recht, wenn auch mit ihm nach strengem Recht verfahren wird. Und gibt es wohl Einen in der weiten Welt, der vor G-tt bestehen kann, wenn Er mit ihm nach strengem Rechte verfährt. Der König David betete doch: „Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht, denn es lebt Keiner, der vor Dir gerecht sein könnte.[21]“ Wer aber Liebe übt, der empfängt auch Liebe, je mehr er übt, je mehr er empfängt. Und David durfte sich dieser schönen Tugend rühmen, dass er sich bemühte, auch seinen Feinden Gutes zu tun. Darum sagt er: „Ich aber — als sie krank waren, legte ein Trauergewand an, kasteite mich in Fasten.[22]“ Ferner: „Wenn ich je Böses dem angetan, der mir freundlich gewesen, ich, der ich doch den gerettet, der mich ohne Ursache befehdet[23]!“

Ebensowenig wie einem Menschen darf man einem Tier Schmerzen bereiten, man soll es schonen und mit ihm Erbarmen haben. So heißt es: „Der Gerechte weiß, wie seinem Vieh zu Mute ist[24].“ Nach Einigen ist diese Rücksichtnahme auf das Tier schon von der Tora vorgeschrieben[25], zum mindesten haben sie die Weisen geboten.

Mit einem Wort:

Mitleid und Güte muss dem Frommen stets im Herzen wurzeln, und ständig sei sein Augenmerk darauf gerichtet, dem Mitmenschen Freude zu machen und alles zu vermeiden, was ihm den geringsten Schmerz bereiten könnte.

Fortsetzung folgt ijH

Übersetzt von Dr. J. Wohlgemuth (1906)

  1. Suka 38a
  2. Pirke Awot 6,6
  3. Pirke Awot 2,12
  4. Megilla 27,2
  5. ibid.
  6. ibid.
  7. ibid.
  8. Megilla 28,1
  9. Megilla 28,1
  10. Bawa Kama 30,1
  11. Pirke Awot 1,2
  12. Pea 1,1
  13. Sota 14,1
  14. Jewamot 79,1 und Bejza 32,2
  15. Suka 49,2
  16. ibid.
  17. Dewarim 13,18
  18. Schabbat 151,2
  19. Sanhedrin 90,1
  20. Rosch Haschana 17,1 nach Micha 7,18
  21. Tehillim 143,2
  22. Tehillim 35,13
  23. Tehillim 7,5
  24. Mischlej 12,10
  25. Schabbat 128,2

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