Jährliche ‘Kabbalat Torah’
Die nachstehenden Schilderungen über die Entstehung und Verfassung verschiedener ‘Sifre Kodesch’, sind nur einige Beispiele von vielen Ereignissen und Beweggründen, wie Sefarim und ‘Chidusche Torah’ entstanden und der Welt offenbart wurden. Aber auch diese wenigen Einblicke dürften genügen, um uns am Tag von “Matan Torah“ (Übergabe der Torah) einige Gedanken über unser eigenes Torahlernen zu machen.
Bekannt ist die Frage der Ba’ale haTosfot, weshalb Hkb“H die Bne Jisrael zur Annahme der Torah unter Bedrohung ihres Lebens zwingen musste, obwohl sie dem bereits mit „Na’aseh weNischma“ zugestimmt hatten[1]. Die Entstehung vieler wichtiger Chidusche Torah wie die Kommentare der Ba’ale haTosfot, die Teschuwot (Responsen) des Mahara“m von Rothenburg, die sie sogar im Angesicht des Todes und unter schweren Leiden in der Gefangenschaft verfassten, zeigen uns, dass der „Limud haTorah“ in jeder Lage nicht nur möglich ist und verlangt wird, sondern der Jehudi sich in allen seinen Nöten in die Welt der Torah flüchten kann, seinen Verstand von allem ihn belastenden und störenden Problemen “ausschalten” kann, und dann sogar gewaltige Chidusche Torah, für deren Erfassung scharfsinniges Nachdenken und einen ruhigen Geist benötigt werden, verfassen kann.
Die Verfasser mancher Werke lehren uns, dass die Kraft der Torah den Menschen von schweren Krankheiten heilen und ihn aus Todesgefahr retten kann.
Auch bei „Matan Torah“ wurden nicht nur alle Kranken geheilt[2], zudem fand bei den Bne Jisrael eine “Techijat haMetim” (Auferstehung der Toten) statt. Als sie nämlich die Stimme G’ttes vernahmen, entwichen ihre Neschamot (Seelen) aus ihren Körpern, doch sogleich wurden sie von Haschem wiederbelebt[3].
Deshalb wurde Jisrael mit am Berg Sinai zur Annahme der Torah gezwungen, dass sie diese nicht nur in ruhigen Lebenslagen und befolgen, sondern sich ihr immer und in jeder Lage völlig hingeben. Und manchmal hilft gerade dieser ‘Sechut’ (Verdienst), der selbst in einer solchen Situation gelernte Torah und die dabei verfasste ‘Chidusche Torah’, oder auch nur die “Kabbalat haTorah“, das “Auf-sich-nehmen”, mehr Torah zu lernen oder gewisse Mizwot besser zu beachten, um sich und seine Familie aus Not und Leid zu retten.
Aus diesem Grund nennen wir diesen Tag „Kabbalat haTorah“, denn außer der Einhaltung der alten „Schiure Torah“ wird von uns jedes Jahr eine frische „Kabbala“ verlangt, um mehr oder besser und intensiver – ohne Störung und Ablenkung – zu lernen. Man muss über sich selbst den Berg Sinai halten und sich über seine Lernbereitschaft hinaus (Na’aseh weNischma) zur „Kabbalat haTorah“ – zum vermehrten, besseren und ungestörten Lernen – zwingen!
Das Volk des Buches
Nicht umsonst wird das jüdische Volk “das Volk des Buches“ genannt. Mit dem Erhalt der Torah am Berg Sinai vor genau 3331 Jahren wurde mit der Niederschrift des ersten für jeden Menschen bestimmten Buches begonnen. Auch wenn es ältere Dokumente als die Torah geben soll, wie z.B. gewisse Papyrusrollen aus dem alten Ägypten oder Tontafeln uralten Sprachen, so waren sie jedoch nicht für das allgemeine Volk geschrieben worden und diesem auch nicht zugänglich. Sie waren nur gewissen Kasten, wie der Priesterklasse oder den Herrschern vorbehalten. Zudem war das einfache Volk dem Lesen und Schreiben unkundig, wie dies in Westeuropa sogar bis ins späte Mittelalter der übliche Zustand war.
Im jüdischen Volk hingegen wird seit jeher darauf geachtet, bereits den kleinen Kindern zumindest das Lesen des ”Alef-Bet” beizubringen, um mit ihnen so bald wie möglich mit dem Lernen der heiligen Torah – aus der Torah selbst – zu beginnen. So ist es jedem von uns möglich, selber aus der Quelle zu schöpfen ohne auf irgendwelche Übersetzer und Interpreten angewiesen zu sein, was den Vorteil hat, immer direkt mit G’ttes Worte verbunden zu sein.
Dies dürfte wohl auch der Grund sein, weshalb das Verfassen von ”Sefarim” sich im jüdischen Volk schon in sehr frühen Jahren eingebürgert hatte.
Seit “Chassimat haTalmud“, dem Abschluss der Niederschrift der “Torah sche’be’al Peh“ (mündlichen Lehre), war man wegen der menschlichen Vergesslichkeit einerseits – und der vielen Verfolgungen und Vertreibungen – genötigt, immer mehr Überlieferungen und Informationen auf Papier festzuhalten, damit diese erstens auch der in der weiten Welt zerstreuten Judenheit zugänglich waren, und zweitens auch den künftigen Generationen erhalten blieben.
Die Schreibtätigkeit in Form der ersten Responsen (Sche’elot weTschuwot), ersten halachischen Kodex-Werken und der Niederschrift von Erklärungen zum Tna“ch und Talmud Bawli begann daher schon im Zeitalter der “Geonim” (4349-4798 / 589-1038) und nahm im Lauf der Jahre und Generationen immer mehr zu. Waren die ersten Werke wegen der hohen Kosten für Pergament und Tinte, wie auch aufgrund des höheren Wissensstand der damaligen Gesellschaft eher kurz gefasst, so nahm der Umfang der Bücher, wie auch die Zahl der veröffentlichten Sefarim mit der Erfindung des viel billigeren Papiers und noch mehr durch die Erfindung des Buchdruckes konstant zu.
Dennoch kann die Situation überhaupt nicht mit der heutigen verglichen werden, wo das Verfassen eines Sefer für viele Leute sehr einfach ist.
Dies ist jedoch nicht immer von Vorteil, wie bereits der jüdische Arzt und Philosoph Rabbi Josef Schlomo Delmedigo (gest. Prag 5416/1655), der Jescha“r von Kandia (Kreta), sich über die negative Seite der Erfindung des Buchdrucks ereiferte und in der Einleitung seines Sefer Nowlot Chochma (Basel 5391) schrieb: „Das ganze Volk spricht über den Vorteils des Buchdrucks, aber in Wirklichkeit haben wir schwer darunter zu leiden. Denn früher erwarben sich die Käufer nur die guten Bücher, da der Kauf eines Buches sehr teuer war. Sie unterschieden zwischen guter und schlechter Ware… Doch heute meint jeder Schreiberling sich mit dem Verfassen eines Buches brüsten zu müssen[4], damit man ihn als großen Mann betrachte, während er in Wirklichkeit kein Gelehrter ist, und nicht einmal das Können eines Schreinerlehrlings besitzt…”
Aber auch bei den Talmide Chachamim entstand mit dem Buchdruck ein Problem, dass manchmal gewisse Dinge voreilig in den Druck gebracht wurden, die nicht reiflich genug überlegt wurden.
Deshalb betont Rabbi Jakov Jehoschua Falk sZl., der Frankfurter Raw und Verfasser des Pne Jehoschua (gest. 5516/1756), in seiner Einleitung: „Im Himmel kann bezeugt werden, dass ich mich nicht mit der Verfassung beeilte, sondern die ‘Chiduschim’ nur nach langem, intensivem Studium niederschrieb. Meistens dauerte dies mehr als einen oder zwei Tage, manchmal lernte ich eine einzige “Sugja” einen ganzen Monat lang!“
Der ‘Pne Jehoschua’ war weit davon entfernt, sich mit seiner Hassmadat haTorah und seinem “Liegen im Lernen“ zu brüsten, er wollte jedoch damit seinen Lesern zu verstehen geben, dass man seine Erklärungen nicht auf die leichte Schulter nehmen solle, sondern sich darin vertiefen solle, denn sie sind erst nach vielem Nachdenken und mit grosser Mühe entstanden.
Und einer der größten Posskim aller Generationen, Rabbi Schabtai Kohen sZl., der berühmte Scha“ch (Sifseh Kohen zum Schulchan Aruch, gest. 5423/1662 in Holleschau) bezeugt in seiner Einleitung: „Viele Jahre ist kaum Schlaf über meine Augen gekommen… So habe ich jedes meiner Worte mit der Waage abgewogen, alle Gedankenzüge etliche Male auf jegliche Weise durchdacht, nicht ein oder zweimal, sondern 101 Mal! Wer sich nicht in meiner Nähe befand, kann unmöglich glauben, welche Mühen ich beim Suchen und Studium der Quellen im Meer des Talmuds und den Posskim durchgegangen bin…“
In Gefangenschaft
Kamen zahlreiche Werke der ‘Gedole haDor’ nur durch außergewöhnliche Bemühungen und Fleiss zustande, so entstanden andere auf tragische Weise, im Schatten von Verfolgungen und körperlichen Leiden.
Ba’ale haTosfot
Einer alten Überlieferungen zufolge, entstanden die langen und tiefsinnigen Kommentare der Ba’ale haTosfot zur “Massechet Baba Kamma” (7. Perek), als sie in einem Verliess schmachteten, in der Nacht vor ihrer Hinrichtung ‘al Kidusch Haschem’!
Mahara“m von Rothenburg
Bekannt ist das traurige Schicksal des Mahara“m von Rothenburg (ob der Tauber), der sechs Jahre lang in Gefangenschaft in Wasserburg und im Turm von Ensisheim (Elsass) festgehalten wurde, wo er auch verschied (19. Ijar 5053/1293). Dennoch unterließ er es nicht, selbst in dieser Situation seine Schüler weiterhin in der Torah zu unterrichten. In Ensisheim war es hauptsächlich Rabbi Schimschon bar Zadok der ihn dort bedienen durfte und danach, in einem kleinen Büchlein namens Taschbe“z Katan 590 Minhagim und halachische Entscheide seines Rebben aufschrieb, die er dort von ihm hörte.
Obwohl der Mahara“m im Gefängnis fast kein Pergament besaß, gelang es ihm dennoch die an ihn gerichteten Fragen zu beantworten. So schreibt er in einer seiner Briefe: „Ich habe kein Pergament zum antworten…”, und fasste sich daher kurz[5].
Wie es scheint, wurde ihm der Aufenthalt danach wenigstens soweit erleichtert, dass man es ihm gestattete, einige Sefarim und mehr Pergament zu erhalten.
Dadurch konnte er seine Schreibtätigkeit wieder aufnehmen und verfasste im Gefängnis einige seiner Sefarim. So entstanden unter anderem die Scha’alot weTschuwot des Mahara“m, viele hundert Responsen in denen er wichtige halachische Entscheide trifft, die grosse Rabbanim von überall her an ihn richteten.
In einem Brief beschreibt er seine verzweifelte Situation so: „Weder der Kommentar der Tosafisten zur Massechet Gitin befindet sich in meiner Hand, noch die Werke der Posskim aus dem Süden, deshalb muss ich die Frage so entscheiden, wie man es mir vom Himmel zeigte. Falls aber die Ba’ale haTosfot oder die Posskim anderer Meinung als ich sind, so ist meine Ansicht nichtig ihnen gegenüber. Denn was weiss schon ein Armer wie ich, der in der Finsternis, im Schatten des Todes sitzt, bereits dreieinhalb Jahren ohne Ordnung im Leben, der Arme, der vergessen von allem Guten ist, eine Türschwelle, auf die getreten wird, der früher Meier ben Rabbi Baruch genannt wurde“[6].
In seinem Kommentar zu ‘Mischnajot Ohalot’ hält er seinen Dank an Hkb“H fest, dass er es ihn ermöglicht hatte, diesen Kommentar im Turm von Ensisheim fertigzustellen: „In der Dunkelheit waren mir Seine Worte (die Torah) Licht zu meinen Füssen, Haschem hat mich nicht verlassen…”[7]
Es wird sogar von einer ‘Sefer Torah’ berichtet, die der Mahara“m in seinem Verließ geschrieben haben soll und aus ihr jeweils für sich die ‘Keriat haTorah’ leinte.
Rabbi Secharja al-Dhahiri sZl.
Im Sefer haMussar von Rabbi Secharja (Jichje) al-Dhahiri sZl., ein Poet und Lehrmeister des jemenitischen Judentums, wird in der Einleitung berichtet, wie es zur Verfassung seines Werkes kam: „Als der jemenitische Imam die Türken in einem Krieg besiegte (5328/1568), zog er in die Hauptstadt Zaana als Sieger ein. Sofort liess er alle Jehudim in Ketten legen und im Gefängnisturm (Alkazar) werfen, die er als Rebellen beschuldigte, die sich mit dem türkischen Feind verbündet hatten. Viele mussten schwere Arbeiten verrichten, andere mussten furchtbaren Hunger erleiden. Da dachte ich mir, wie kann ich meinen Schmerz und Zorn beruhigen, die armen Leidenden trösten und ermuntern? So schrieb ich diese Worte nieder und nannte es „Sefer haMussar“, damit sich jeder Leser daraus etwas „Mussar“ für die uns geschehenen Nöte entnehmen kann…“
Dawid baMezudah
Ein anderes Sefer, das in einem Gefängnis verfasst wurde, ist das Sefer Dawid baMezudah von Rabbi Dawid Chasan sZl., der als Raw der Stadt Izmir (Türkei) amtierte. Er wurde bei einem Aufenthalt in Wien mit einem ähnlich heißenden Jehudi verwechselt, der von der Polizei wegen des Verdachts, einen Reisepass gefälscht zu haben, gesucht wurde. So wurde Rabbi Dawid gar der Spionage bezichtigt und musste ‘Pessach’ im Gefängnis verbringen. In der Einleitung seines Sefer (Saloniki 5508/1748) berichtet Rabbi Dawid ausführlich:
„Da ich im Gefängnis erkrankte, sandten mir die jüdischen Gemeindevorsteher einen Arzt und dieser befahl, mich ins jüdische Spital einzuweisen, wo ich bis ‘Schawuot’ ausharren musste. Die Reichen der Stadt erwiesen mir gewaltige Gnaden und nahmen alle meine Heilungskosten auf sich. Während diesen Wochen verfasste ich einen Kommentar zu den “Pirke Awot“ – die in diesen Wochen gelernt werden – und genau am Tag. als ich mein Sefer beendete, wurde ich von jeglicher Schuld freigesprochen und konnte meine Reise fortsetzen. Deshalb nannte ich das Sefer «Dawid baMezudah» – Dawid im Gefängnisturm…“
Schem haGedolim
Wie allgemein bekannt verfasste auch der Rabbi Chajim Josef Dawid Asulai sZl., der berühmte Chid“o, bei seiner Einreise in Italien, wo er während 40 Tagen in Quarantäne verbringen musste, sein Monumentalwerk Schem haGedolim (Livorno 1774), eine klassische Enzyklopädie über mehr als 1300 Chachme Jisrael und über 1200 Sefarim – frei aus dem Gedächtnis ohne jegliche Sefarim zur Hand zu haben!
Rad’ziner Rebbe sZl.
Ein weiteres Beispiel für ununterbrochenes Torah-Lernen und die Fähigkeit der wahren ‘Gedole haDor’ (Größten Gelehrten der Generation), in jeder Lage unermüdlich Großes zu schaffen, ist der Kommentar des Rabbi Gerschon Chanoch Henoch Leiner, der Rad’ziner Rebbe sZl., zum Sefer Orchot Chajim. Seinem standhaften und unbeugsamen Charakter zufolge, mit dem er die “Haschkafat haTorah” kompromisslos vertrat, wurde er von seinen Gegnern unter verschiedenen falschen Anschuldigungen vor Gericht gestellt:
„Ich verfasste diesen Kommentar in der Zeit meiner Not”, hält er in seiner Einleitung fest, „denn es haben sich gegen mich meine Feinde erhoben und mich mit falschen Zeugenaussagen beschuldigen lassen…. Acht Monate dauerte die Untersuchung vor Gericht, die Hauptdebatten ereigneten sich während den ‘Jeme Ben haMetzarim’ (den ‘Drei Wochen’), und ich musste damals fast jeden Tag während vieler Stunden vor Gericht Fragen beantworten. Dies machte mir schwer zu schaffen, und es war schwierig, auch in diesen Tagen meine täglichen ‘Schiure-Torah’ einzuhalten. So beschloss ich, mich dem Sefer “Orchot Chajim” (das dem Rabbi Elieser haGadol zugeschrieben wird), zu widmen… Es gelang mir einen Kommentar auf das ganze Werk innerhalb von 12 Tagen zu verfassen! Und gepriesen sei G’tt, da mir geholfen wurde und meine Gerechtigkeit ans Licht kam, am 20. Adar 5644/1884. So bringe ich nun mein “Korban Toda“ (Dankopfer) dar und lasse dieses Werk abdrucken…“
Eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, dass dieses 144 Seiten fassende Sefer in so kurzer Zeit geschrieben wurde und all dies im Umfeld zermürbender und stundenlange Befragungen und der nagenden Ungewissheit vor dem drohenden Unheil!
Der Rebbe ist auch dafür berühmt geworden, dass er unermüdlich für die Wiederherstellung des Tchelet (himmelblaue Farbe für die Zizit) arbeitete und daher „Ba’al haTchelet“ genannt wurde.
Fortsetzung folgt ijH
- Tosfot zu Schabbat 88a ↑
- Mechilta und Raschi zu Schmot 20,15 ↑
- Schabbat 88b ↑
- Er benutzt hier ein schönes Wortspiel mit dem Passuk: ורבים מעמי הארץ מתיהדים und schreibt: ורבים מעמי הארץ מתיהרים. ↑
- Siehe Ba’ale haTosfot (Urbach) Bd.1/S.545 ↑
- Schu“t (Ausgabe Maimon.) Hilchot Ischut 30 ↑
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Perusch Mahara”m zu Ohalot Kap.9, 15,1 und Ende Kap. 4 ↑