Feinfühligkeit und Liebe – Grundlagen der jüdischen Familie

Datum: | Autor: Rav Igal Polischuck | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Feinfühligkeit
Dem ersten Anschein nach könnte man meinen, dass die Vorbereitung auf das Familienleben ein Thema für die ist, die noch keine Familie aufgebaut haben; In der Tat betreffen viele Aspekte auch die, die bereits eine Familie gegründet haben.

In der Tora steht geschrieben, dass Mann und Frau zu einem Fleisch werden. Erstens ist das Fleisch das, was am schwersten zu vereinen ist, denn jeder Mensch hat seine eigenen Begierden. In Mischlei steht geschrieben, dass Begierden der Grund für Trennung sind. Zweitens, „ein Fleisch“ bedeutet auch eine Seele. Die Tatsache, dass die Tora nur über Fleisch spricht, schließt die Notwendigkeit der Seelenvereinigung nicht aus. Die aktuelle Frage für jeden von uns lautet: Wie können wir das erreichen? Jeder Mensch hat sein eigenes Inventar an Erziehung, Gewohnheiten sowie Vorstellungen über seinen künftigen Ehepartner und Familienleben. Wie können zwei unterschiedliche Persönlichkeiten sich seelisch zu einer Einheit vereinen? Wäre hinter der Familienbildung nicht ein großartiger Plan unseres Schöpfers, wäre dies überhaupt nicht machbar.

Ich kannte mal eine Familie. Eine wunderbare Familie von Gerei Tzedek (Proselyten), die ihren Weg zur Tora gefunden haben, als sie schon ein erwachsenes Paar waren. Von Geburt an hatten sie keine jüdischen Wurzeln. Eines Tages „beschwerte“ sich der Mann bei mir über seine Frau: „Ich kenne meine Frau seit vielen Jahren … aber seit sie Jüdisch geworden ist, ist es viel schwieriger geworden mit ihr zu leben.“ Diese Worte blieben mir im Gedächtnis. Diese Gerim kannten sich schon lange zuvor und trotzdem nachdem sie die Tora für sich entdeckt haben und eine jüdische Seele bekommen haben, fällt es ihnen viel schwer Harmonie in der Ehe und eine seelische Einheit zu erlangen als zuvor.

In der Tora steht geschrieben, dass Haschem die Frau aus dem Körperteil erschuf, dass er von Adam genommen hatte, und dass er sie dann zu ihm brachte. Die größten Kabbala-Gelehrten erklären, dass dies nicht nur den ersten Menschen, sondern uns alle betrifft. Unsere zweite Hälfte, die von Oben bestimmt wird, ist ein Teil von uns, ein Teil unserer Seele. Aus diesem Pasuk lernen wir, dass der Allmächtige uns die Basis für ein erfolgreiches Eheleben gegeben hat. Dabei handelt es sich um Eheleute, die komplett nach der Tora leben. Natürlich können auch Probleme und Hürden auftauchen, die das Paar davon abhalten sich komplett zu vereinen. Es gibt kaum Ehen ohne Probleme in der Beziehung. Aber die Kenntnis und das Bewusstsein dessen, dass der Schidduch min Haschamaim geführt wird, gibt uns die Kraft an sich zu arbeiten, und jegliche Eheprobleme zu überwinden.

Jetzt stellt sich die Frage, wie genau man denn vorgehen soll, um Eheprobleme zu beseitigen; was man denn tun sollte, um die Hürden zu entfernen, die der Einigung unserer Seelen im Weg stehen. Selbstverständlich liegt der Anfang dieser Arbeit vor der Ehe. Aber auch die, die bereits verheiratet sind, können daran arbeiten.

Wenn die Waldkiefer im Wald unter anderen Bäumen wächst, wächst sie gerade. Wächst sie aber alleine, abgeschottet, so wächst sie schief, obwohl sie viel mehr Platz hat. Diese Parabel verbildlicht das Hauptproblem in der Ehe. Es handelt sich um das Empfinden „der Mittelpunkt der Erde“ zu sein. Heutzutage wachsen Kinder mit dieser Wahrnehmung auf. Man hält es für wichtig, jedem Kind ein eigenes Zimmer zu geben. Ich will nur kurz ergänzen, dass keines meiner Kinder ein Einzelzimmer hatte. Wachsen Kinder in Einzelzimmern auf, so sind sie nicht gezwungen mit ihren Geschwistern und Eltern zu kommunizieren. Jeder lebt für sich. Jeder kann sich von anderen in „seinem“ Raum distanzieren. Wenn aber der Mensch, wie die Waldkiefer, unter anderen Menschen aufwächst, wird er gezwungen sich darüber Gedanken zu machen, wie man sich am besten mit den Mitmenschen verständigt und eine Beziehung aufbaut.

Wenn ein Mensch, der alleine, „in seinem Zimmer“ aufgewachsen ist, anfängt, eine Familie aufzubauen, ändert sich seine Perspektive nicht. Er wird seinen Raum und Privatsphäre einfordern. Dieser Ansatz widerspricht allem, was wir bisher gesagt haben. Wenn jeder Ehepartner sein eigenes Zimmer hat, ist es das Ende der Familie. Es geht darum, in sich Mechanismen aufzubauen um den Egozentrismus zu überwinden und zu lernen eine Beziehung zu den Menschen aufzubauen, die uns am Herzen liegen.

Die Charaktereigenschaft der Feinfühligkeit

Feinfühligkeit ist nicht nur eine respektvolle Einstellung und Sorge um die Mitmenschen, Rücksicht auf ihre Bitten und Bedürfnisse. Es ist vielmehr ein Verständnis ihrer Empfindungen, das heißt ein Verständnis davon, wie unsere Worte und Taten aufgenommen werden. Zudem ist Feinfühligkeit eine taktvolle Haltung gegenüber den Schwachstellen anderer Menschen; die Fähigkeit, solche Probleme mit eigener Geduld auszugleichen. Einige besitzen diese Eigenschaften von Geburt aus – dies ist ein großes Geschenk. Die Mehrheit allerdings muss diese Eigenschaft noch in sich entwickeln. Feinfühligkeit ist ein notwendiger Bestandteil, um die Beziehungen in der Familie aufzubauen. In einer Familie mit mehreren Kindern aufzuwachsen, hilft einem, diese Eigenschaft zu entwickeln.

Ein anderer Ort, an dem der Mensch es lernen kann, wie man Beziehungen zu den nahestehenden Menschen aufbaut, ist das Wohnheim. In einem Wohnheim lernt man, das nicht zu tun, was andere stört und noch mehr, wie man den Mitmenschen hilft. Das habe ich auch am Beispiel meiner Kinder beobachten können. Für einen meiner Söhne, der zu jener Zeit im Wohnheim der Jeschiwa wohnte, war es total selbstverständlich, seinem Mitbewohner, der sich zu einem Schidduch eilig vorbereitete, vorzuschlagen sein Hemd zu bügeln.

Ein guter Ehemann wird erst in einer Mehrkindfamilie und dann in der Jeschiwa erzogen. In der Jeschiwa lernt man nicht nur im Beit Midrasch. Eine gute Jeschiwa ist der Ort, an dem man Tora, Musar und die Lehren unserer Weisen nicht nur als „Theorie“ erwirbt. Es ist auch der Ort, an dem junge Männer all dies „praktisch“ beim Leben im Wohnheim anwenden können. Genau da erlebt der künftige Ehemann die Grundlagen der menschlichen Beziehungen auf dem richtigen Level, sodass er nach der Eheschließung das Potential für die Beziehung in der Ehe, das der Schöpfer in ihn gepflanzt hat, komplett realisieren kann.

Eine Sache muss zunächst klargestellt werden. Es geht hier nicht um eine Sackgassensituation nach dem Motto: wir wohnen im Wohnheim, daher müssen wir uns ertragen und lernen hier zu überleben. Es geht hier vielmehr darum eine aufrichtige Beziehung mit Menschen, mit denen wir die Tora gemeinsam haben, aufzubauen. Dies ist viel schwieriger, als einfach jemanden zu ertragen, der in der Nähe wohnt, denn es braucht viel mehr Zeit und Wissen.

Was soll man tun, wenn man nicht in einer großen jüdischen Familie aufgewachsen ist? Wenn man nicht einer Jeschiwa gelernt hat? Ich zum Beispiel bin ein Einzelkind und habe so gut wie gar nicht in einem Wohnheim gewohnt. Man muss wissen, dass der Allmächtige uns hilft, das zu erlangen, was uns fehlt. Alles, was an uns liegt – ist es wahrhaftig zu wollen!

Ein paar praktische Ratschläge, die jedem von uns helfen werden die Feinfühligkeit zu entwickeln:

  1. Bringen Sie sich selbst bei, immer darauf zu achten, was Sie stört, nervt, kränkt und schmerzt. All diese Faktoren, Handlungen, Ereignisse, die uns behindern, müssen wir im Hinterkopf behalten, wenn wir mit anderen interagieren. Das, was uns beleidigt, sollten wir anderen auch nicht zufügen. Oft transformiert der Mensch seine eigenen negativen Erfahrungen zum Schlechten anderen gegenüber. Wir müssen lernen anders zu handeln. Und zwar das Schlechte in das Gute zu verwandeln, die eigenen schlechten Erfahrungen zu Gunsten anderer umzuwandeln.
  2. Achten Sie darauf, was genau in Ihren Worten und Handlungen andere verletzt. Es kann sein, dass bestimmte Worte oder Taten einen selbst nicht kränken würden, aber jemand anderes davon beleidigt ist. Warum ist dies geschehen? Was genau hat die Person verletzt? Dies muss man tagtäglich analysieren. Vor der Hochzeit, und umso mehr, nachher.

Für diese spirituelle Arbeit, die jeder braucht, vor der Eheschließung genauso wie danach, gab uns der Schöpfer ein gutes Hilfsmittel. Eine große Kraft, ein starkes Gefühl, ohne dessen man kein wahres jüdisches Haus aufbauen kann. Auf Deutsch nennt man es „Liebe“. Ich rede hier nicht über romantische Verliebtheit. Im Talmud steht geschrieben, dass „Liebe das Fleisch wegstößt“. Was bedeutet dies? Das bedeutet, dass jeder Mensch viele Faktoren besitzt, die dem Aufbau einer Familie, einer Einheit, über die die Tora spricht, im Wege stehen. Charaktereigenschaften oder Gewohnheiten. Wenn aber zwei Menschen sich wirklich lieben, können sie all dies verzeihen. Liebe hat die Kraft die Wahrnehmung dieser Schwachstellen zu ändern. Liebe ist die große Kraft, die Haschem uns gab, um eine Familie aufzubauen. Empfinden der junge Mann und die junge Frau keine gegenseitige Anziehungskraft, braucht man sie nicht zu überreden den Schidduch zu beenden. Gibt es keine Anziehung, so werden alle anderen Faktoren, die auf den ersten Blick zeigen, dass diese Mann und Frau perfekt zusammen passen, zweitrangig. Ohne dieses Gefühl zu heiraten wird eine Zwangsehe. Manchmal scheinen zwei Menschen aufgrund von äußeren Merkmalen und Charakter zueinander gut zu passen. Wenn aber kein Wunsch besteht, zusammen zu sein, soll man auch nicht versuchen, eine Familie aufzubauen. Dies wird kein Aufbau, sondern eine Zerstörung der potentiellen Familie.

Ohne Liebe kann man kein jüdisches Zuhause aufbauen

Man kann so feinfühlig (ist man ehrlich zu sich selbst, merkt man wahrscheinlich trotzdem, dass man noch daran arbeiten muss) sein, wie man will. Ohne Liebe kann man kein jüdisches Zuhause aufbauen. Ohne Liebe, trotz all der guten Eigenschaften, haben wir nicht genug Kraft den Mitmenschen zu helfen und zu vergeben. Oftmals hat man ohne Liebe nicht genug Kraft ein vollwertiges Haus aufzubauen, auch wenn man sich lange und bewusst für die Beziehung in der Ehe vorbereitet hatte.

Es gibt ein berühmtes Beispiel von Rav Eliahu Dessler. Was bedeutet es „Fisch zu lieben“? Wer Fisch liebt, liebt das Gericht Fisch auf seinem Teller. Kaum einer meint damit, den Fisch so zu lieben, dass man etwas Gutes für den Fisch tun möchte. Man meint eher, dass man es mag mit Hilfe des Fisches sich etwas Gutes zu tun. Wenn einer der beiden Ehepartner auf Kosten des anderen leben will, zerstört es die Ehe. Wahre Ehe ist nicht den Anderen zu nutzen, sondern stets daran zu denken, was man dem Anderen zugunsten tun kann. Daran zu denken, wie man mithilfe des Ehepartners besser leben kann, ist laut der Tora keine Liebe.

Die hebräische Wurzel von Liebe ist „geben“. Wahre Liebe zu empfinden, bedeutet es das Gefühl zu empfinden konstant dem Ehepartner zu geben und zu verzeihen. Dann wird diese Kraft, die Haschem uns gab, uns helfen ein wahres jüdisches Zuhause aufzubauen.

Vorbereitet von Rav Arye Katz; übersetzt von Orli Krief

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