„Und die Städte, die ihr den Lewijim geben sollt, sind die sechs Zufluchtsstädte, die ihr geben sollt, damit der Mörder dorthin fliehen kann. Und ausser diesen sollt ihr ihnen zweiundvierzig Städte geben…“ (Bam. 35,6).
Der Mensch ist für jede seiner Handlungen verantwortlich und muss auch für unbeabsichtigte Taten Rechenschaft ablegen. Ist jemandem das Missgeschick widerfahren, dass er einen Menschen unabsichtlich getötet hatte, so muss er sich fragen, weshalb dies gerade ihm geschehen ist?
Auch wenn die g’ttliche Vorsehung (‚Haschgacha Pratit‘) den Tod jenes Menschen bestimmt hat, so hätte dies nicht unbedingt durch ihn geschehen müssen, denn „Harbe Schlichim laMakom“ – G“tt besitzt genügend Boten, um Seinen Willen auszuführen. Die Tatsache, dass gerade er als Mittel zum Zweck auserkoren wurde, beweist eine gewisse Schuld, und diese muss gesühnt werden!
Der des Totschlages Schuldige muss sich in eine der „Are Miklat“, eine der 48 Zufluchtsstädte begeben und dort bleiben bis zum Tod des „Kohen Gadol, der mit dem heiligen Öl gesalbt worden ist“. Verlässt er aber absichtlich die Stadt, so darf ihn der Verwandte des Opfers töten.
Der Zeror haMor erklärt dies anhand des abschließenden Satzes dieser Parscha (35,33-34): „Macht das Land, in dem ihr wohnt, nicht zum Heuchler, denn das Blut macht das Land zum Heuchler… Und verunreinigt das Land nicht in dem ihr wohnt (und) in dem Ich wohne….„. Das Vergießen des Blutes Unschuldiger verunreinigt das ‚Heilige Land‘ und vertreibt die g’ttliche Schechina von dort. Aus diesem Grund wurde auch das‚Bet haMikdasch‘ zerstört¹.
Wie kann sich also jemand, der unschuldiges Blut vergossen hat, frei im Land bewegen? Er hat doch einen Menschen, ein Ebenbild G’ttes umgebracht? Wo bleibt seine Scham? Wie kann er sein bisheriges Leben weiterführen? Was werden die Leute über ihn reden, wenn sie ihn auf der Strasse treffen? Man würde mit dem Finger auf ihn zeigen und einander zuflüstern: „Seht ihr diesen Mann? Er hat einen Menschen umgebracht und läuft frei auf der Strasse herum!“
Wer weiss denn, ob er diese Tat absichtlich verübt hat oder nicht? Ein solcher Mann kann nicht einfach auf der Straße herumlaufen. Er ist von einer Aura der Tum’ah (Unreinheit) umgeben, da er sich irgendwie daran verschuldet hatte, und verunreinigt so das ganze Land. Würde man alle Totschläger ohne ‚Kappara‘ (Sühne) umherlaufen lassen, so würde Erez Jisrael zu einem heuchlerischen Land. Es würde heissen, dass man in diesem Land unschuldiges Blut vergießen darf, ohne jegliche Rechenschaft ablegen zu müssen!
Wie kann dies verhindert werden? Auf welche Art und Weise kann vergossenes Blut gesühnt werden? Ein vorsätzlicher Mord wird durch „Mida keneged Mida“ gesühnt, durch den Tod des Mörders. Ein Totschläger hingegen sühnt seine Tat durch seine „Buscha“ (Scham). Chasal vergleichen nämlich die Beschämung eines Menschen mit Blutvergießen, weil beim Beschämten die rote Farbe (das Blut) aus dem Gesicht weicht und es stattdessen weiße Farbe annimmt².
Mit dem Aufenthalt in der „Ir Miklat“ zeigt der Totschläger seine Reue und Scham. Er traut sich nicht mehr auf die Strasse in seiner gewohnten Umgebung, er schämt sich, vor die Augen seiner Nachbarn zu treten.
Wer aber keine Scham verspürt und sich deshalb absichtlich außerhalb der „Arey Miklat“ zeigt, darf durch den Bluträcher getötet werden. Denn dieser rächt das unschuldig vergossene Blut und verschafft dem Totschläger auf diese Weise die notwendige Sühne für sein Blutvergießen. Daher heisst der Rächer nicht „Nokem haDam – Rächer des Blutes“ sondern „Goel haDam – Erlöser des Blutes“, da er im Grunde genommen kein ‚Rächer‘ ist. Hier wird keine Rache genommen, denn eine solche Untugend ist für den Jehudi verboten! Es ist vielmehr die Rede vom ‚Tilgen der Blutschuld‘, der Reinigung des Totschlägers und des ganzen Landes von unschuldig vergossenem Blut, welches das Kostbarste auf der Welt ist, denn „das Blut ist die Seele des Menschen³“.
Ist aber der ‚Kohen Gadol‘ gestorben, nachdem der Totschläger in der „Ir Miklat“ gewohnt hat, so ist die Blutschuld ebenfalls gesühnt, denn der Kohen Gadol ist in gewisser Hinsicht ebenfalls ‚schuldig‘ am geschehenen Mord. Er, dessen Aufgabe es war, ständig für Frieden und Sühne innerhalb des Klall Jisrael mit Tefila und Korbanot zu sorgen, hätte diese Tat mit seinem Zidkut (Frömmigkeit) verhindern können und müssen!
So berichtet die Gemara von Rabbi Jehoschua ben Levi, der drei Tage lang von Elijahu haNawi nicht besucht wurde, weil in seiner Umgebung – drei Parsaot entfernt (ca. 13 km) – ein Mann von einem Löwen gefressen worden war 4. Der Tod des Kohen Gadol, des ‚Zaddik haDor‘ (Gerechten der Generation), ist eine Sühne für den Totschläger, im Sinn von „Nefesch tachat Nefesch“, eine Seele statt der anderen Seele.
¹ Sifri zur Stelle
² Bava Mezia 58b
³ Wajikra 17,10-14
4 Makkot 11a