Rabbi Ezriel Tauber SZl – L’ilui nischmat Hamechaber
Fortsetzung
Inhalt:
- Erläuterung des Vorfalls zwischen Kain und Abel
- Die Bedeutung ihrer Namen
- Egoismus versus Bescheidenheit
- Kapitalismus versus Sozialismus
- Abrahams Synthese
Jedes Detail, das in diesen frühen Kapiteln erwähnt wurde, ist von monumentaler Bedeutung. Die Tora beinhaltet die Geschichte der frühen Zivilisation, weil in ihr die Ursachen für alle unsere heutigen Erfahrungen zu finden sind — für die guten und die schlechten. Ja, es wird schon in den Namen des ersten Mörders und seines Opfers auf die psychologische Grundstruktur eines Mordes angespielt.
Kain
Kains Name beschreibt nicht nur die Gründe seiner Mutter, ihn so zu nennen, sondern auch seinen zentralen Charakterzug.
Und Adam wohnte seiner Frau Chava bei, und sie wurde schwanger und gebar Kain und sprach: “Ich habe einen Sohn mit Haschem bekommen.“[1]
Kaniti (“Ich habe bekommen“) ist dem Wort “Kain“ ähnlich. Der Hauptcharakterzug Kains war der Instinkt, etwas zu erwerben, etwas zu bekommen. Das kann gut sein, denn der Mensch muss sich bemühen, um etwas zu erwerben. Er erhält es nicht einfach als Geschenk. Der positive Zweck von Kains Erwerber-Instinkt war, ihn dazu zu benutzen, G-ttes Partner im Schöpfungsprozess zu werden. G-tt möchte, dass die Menschen sich anstrengen, um sich ihren Anteil an der Perfektion der Schöpfung zu erwerben. Dies war das höhere Ziel von G-tt, als Er Kain einen nach Erwerb strebenden Instinkt gab. Er wurde mit der Fähigkeit ausgestattet, die Initiative zu ergreifen, um etwas zu erwerben – mit anderen Worten, er wurde mit einem gewissen Maß an Egoismus ausgestattet, der in der richtigen Dosierung gut und nötig ist. Die Tatsache, dass er ihn missbrauchte, macht diese Charaktereigenschaft nicht grundlegend schlecht.
Abel
Abel, was hebräisch Hevel ausgesprochen wird, bedeutet im Gegensatz dazu “Luft“. Während Kain den Instinkt, sich etwas anzueignen, darstellt – der im positiven Sinn der Instinkts des Selbst ist, wie im berühmten Aphorismus von Hillel: “Wenn ich nicht für mich selbst bin, wer ist es dann?“, steht Abel für das Gegenteil: Luft, das Nichts, Leere oder für den zweiten Teil von Hillels Aphorismus: “Jedoch wenn ich nur für mich selbst da bin, wer bin ich,?“
Kain wurde zuerst geboren, denn ein Gefühl für das Selbst ist die vordringlichste Eigenschaft, die ein Mensch besitzen muss, um auf der Welt erfolgreich zu sein. Ohne ein Selbst kann der Mensch nicht mehr als ein Empfänger sein – kein Initiant oder Schöpfer. Abels Name jedoch Iehrt uns, dass das Gefühl für unser Selbst nicht zu Egoismus führen darf, sondern durch Bescheidenheit gemäßigt werden muss.
Was zu einem Mord führt
Wir können erkennen, wie diese Unterschiede in der Persönlichkeit direkt zu dem Mord führten.
Abel wurde ein Schafhirt und Kain ein Ackerbauer. Nach geraumer Zeit brachte Kain G-tt ein Opfer von den Früchten des Ackers dar. Und Abel brachte auch von den Erstgeborenen und den besten Stücken seiner Schafe dar. G-tt freute sich über Abel und sein Geschenk, aber über Kain und sein Geschenk freute er sich nicht. Kain wurde sehr böse und sein Gesicht verfinsterte sich.[2]
Wenn man egozentrisch ist, gibt man nur unwillig etwas von seinem Besitztum her – und wenn man es dennoch tut, hasst man es, das Beste davon zu geben. So war Kain. Kains Geschenk war nicht willkommen, denn er brachte nicht das Beste seiner Erzeugnisse; er brachte zweitklassige Ware. Sein Egoismus erlaubte es ihm nicht, aus vollem Herzen zu schenken.
Wenn man andererseits zu zurückhaltend ist, fehlt einem die Initiative.
Deshalb steht geschrieben, dass Abel “auch” sein Geschenk brachte: Er brachte es erst, als er sah, dass sein Bruder eines darbrachte. Als er es aber brachte, machte es ihm nichts aus, das Beste aus seinem Besitz zu opfern, da sein Ego ihn in keiner Weise antrieb, selbstsüchtig zu sein.
Jeder erfolgreiche Mensch muss eine Kombination dieser Eigenschaften von Kain und Abel haben. Auf der einen Seite muss ein Mensch genügend Selbstbewusstsein haben, um die Notwendigkeit zu erkennen, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen, um Verantwortung zu übernehmen. Auf der anderen Seite muss ein Mensch wahre Bescheidenheit besitzen.
Die Tragödie zwischen Kain und Abel nahm ihren Lauf, weil jeder für sich allein unvollständig und nicht fähig war, vom anderen zu lernen. Kain als Egozentriker war bis zum Exzess auf sich selbst fixiert, während Abel derart zurückhaltend und bescheiden war, dass es schon an Wirkungslosigkeit grenzte. Die Unfähigkeit, von einander zu lernen, führte zu ihrem Untergang. Jeder für sich allein war unvollständig und damit beschworen sie die Katastrophe herauf.
Die Psychologie der Schuldzuweisung
Kain war außer sich, als sein Geschenk nicht angenommen wurde wie dasjenige seines Bruders, weil er sich überlegte: “Ist es nicht genug, dass ich dir, G-tt, ein Geschenk brachte? Ist es nicht genug, dass ich dich anerkenne?“ Er war der Meinung, er sei so großartig, dass es genüge, wenn er bloß seine Pflicht G-tt gegenüber erledige. Sein Ego ließ ihn nicht einsehen, dass er G-tt mit einer nur halb ausgeführten Arbeit keinen Gefallen tat.
Und dies führt uns zu einer sehr interessanten und wichtigen psychologischen Einsicht. Als Kain sah, dass G-tt keinen Gefallen an seinen Taten fand, hätte er idealerweise daraus schließen müssen: “Ich muss mich bessern.“ Aber was tut er stattdessen? Er sucht nach Ausreden. Er will die Schuld jemand anderem zuschieben.
Dies ist der Untergang der Menschheit.
Es ist eine Sache, einen Fehler zu machen. Es ist jedoch eine andere, den Fehler zu verschlimmern, weil man es versäumt, ihn zu korrigieren. Was hielt Kain davon ab, seine Fehler wieder gutzumachen? Sein Ego.
“Ich? Kain, der Sohn Adams? Ich sollte so behandelt werden? Ich kann keine Fehler haben. Wenn mein Bruder nicht versucht hätte, mit dem Besten aus seiner Herde anzugeben, hätte ich jetzt keine Probleme. Abel – er ist es, der mir das Leben schwer macht.”
So tötete er Abel. Er dachte, dass er damit den Ursprung seiner Probleme beseitigen würde. In Wirklichkeit machte er sie damit nur noch viel schlimmer. Das Versagen, uns im innersten Kern zu verbessern, ist selbst eine Sünde und führt zu einem Teufelskreis von Versagen, Schuld und Bösem.
Das Versagen von Kain und Abel ist eine menschliche Tragödie, aus der die nachfolgende Menschheit noch immer lernen muss.
Die Welt wird immer noch von egoistischen Mördern und sich selbst verleugnenden Opfern geplagt. Was aber vielleicht noch tragischer ist als alle individuellen Kain-und-Abel-Morde und -Zusammenstöße, die die Menschheit die Geschichte hindurch geplagt haben, ist die Verkörperung von Kain-Abel-Persönlichkeiten in einer viel größeren Dimension: in zwei der größten Ideologiebewegungen, die die Zivilisation gekannt hat.
Die zwei Ideologien
Adam wurde alleine erschaffen. Er öffnete seine Augen und sah eine ganze Welt vor sich. Kain war Adams Erstgeborener. Er öffnete seine Augen und sah, dass die ganze Welt seinem Vater gehörte. Natürlich dachte er, er werde sie eines Tages ganz von seinem Vater erben.
Dann plötzlich kam Abel hinzu.
“Wer bist du?“, fragte Kain.
“Ich bin dein Bruder. Wir müssen uns die Welt teilen.“
“Auf keinen Fall. Mein Vater erhielt die ganze Welt und ich werde die ganze Welt von ihm erhalten. Es gibt nichts zu teilen. In Wirklichkeit gehörst du mir. Wenn du versuchst, mir irgendeinen Teil der Welt wegzunehmen, töte ich dich.“
Kain war der erste Kapitalist.
Die halbe Welt war nicht genug. Keinen einzigen Grashalm wollte er mit irgend jemand darin teilen, nicht einmal mit seinem Bruder. Es genügte ihm nicht, mehr zu haben, als er brauchte, mehr, als er je gebrauchen könnte. Er wollte alles, was er nur haben konnte. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ein anderes menschliches Wesen etwas besitzen sollte, von dem er meinte, es gehöre ihm – und er glaubte, alles gehöre ihm! Kain war ein klassischer Kapitalist, wie er im Buch steht, innerlich getrieben, alles zu erwerben und zu besitzen, was er nur kann.
Abel dagegen führte das Argument gegen seinen Bruder an, dass die Welt groß genug sei, um sie zwischen ihnen aufzuteilen. Als Zweitgeborener erhob er keinen Anspruch darauf, alles zu besitzen. Seine Begründung klingt selbstlos, aber das war sie in Wirklichkeit nicht unbedingt. Seine zweitrangige Position und sein Mangel an Eigeninitiative waren es gewesen, die ihn seine Philosophie hatten entwickeln lassen, dass alles gleichmäßig geteilt werden müsse, und nicht eigentlich seine idealistische Grundhaltung.
Er war der erste Kommunist.
Der Konflikt zwischen Kapitalisten und Kommunisten (den wir gleich im Detail erläutern werden) war mit dem Tod Abels nicht beendet. In der Folge gedieh die Philosophie von Kain und wurde die dominierende Philosophie der nächsten zehn Generationen bis zur Zeit der Sintflut. “Die ganze Welt gehört mir“, und “Ausschau halten nach der Nummer Eins“, konnte man in den Rathäusern hören und in den lokalen Boulevardzeitungen lesen. Die hässliche Seite des Erwerber-Instinkts, der Trieb nach persönlicher Macht auf Kosten anderer, dominierte die ganze Menschheit. Niemand respektierte den Besitz des anderen. Jeder dachte, er hätte das Recht, alles an sich zu reißen, was er nur konnte. Es war eine Welt voller Diebstahl, Raub und Ehebruch und manchem mehr.
Nach der Sintflut mussten die Menschen die Sache doch noch einmal überdenken. Der Kapitalismus war ganz offensichtlich falsch. Sonst hätte G-tt die Zivilisation nicht zerstört, so wie er das getan hatte. Abel muss Recht gehabt haben. G-tt muss sich also selbstlosen Kommunismus wünschen.
Konsequenterweise praktizierte die Welt während der nächsten zehn Generationen eine Form von Kommunismus.
Der Höhepunkt dieser frühen Form der kommunistischen Politik wurde mit dem Turm von Babel erreicht, als die gesamte Menschheit unter einem gemeinsamen Banner vereint wurde. Der Turm wurde zu dem, was in modernen Zeiten ein Staat genannt wird. Er wurde das Zentrum aller persönlichen Anstrengungen, für das man sogar seine Individualität aufgab, um das Fortbestehen des Staates zu sichern.
Wir können natürlich annehmen, dass das kommunistische Ideal damals genau so schönfärberisch vorgetragen wurde wie im 20. Jahrhundert. Ein Kommunist wird immer seine Philosophie, seine Ideologie gegenüber der Welt vertreten wollen. Er betont dauernd noble Ideale wie Gleichheit, Kameradschaft, Ausmerzung der Armut, das wahre Gute für die Menschheit. Und doch wurden schlussendlich mehr Menschen – Millionen nur schon im letzten Jahrhundert – im Namen des Sozialismus/Kommunismus getötet.
Warum?
Weil sie einem falschen G-tt dienen: dem Staat.
Und ist es nicht interessant, dass der Kommunismus fast immer Hand in Hand mit Atheismus geht? Der Grund ist meiner Meinung nach, dass der Mensch jemandem dienen muss, der grösser ist als er. Wenn dieser jemand nicht G-tt ist, dann muss er jemandem wie dem Staat oder dem Turm dienen, das heißt, seine Ego-Energien dafür einsetzen. Der Niedergang des kommunistischen Staates kommt daher, dass der kommunistische Mensch nach dem Ebenbild des Staates geschaffen wurde, und nicht nach G-ttes Ebenbild, und der Staat ist ein Kollektiv, das den individualisierten Einzelmenschen nicht dulden kann. G-ttes Ebenbild beinhaltet dagegen gleichzeitig das Individuum und das Kollektiv, einer und viele.
Während Kommunismus und Atheismus meistens Hand in Hand gehen, ist dies in kapitalistischen Ländern interessanterweise nicht so: Kapitalismus ruft nicht zwingend totalen Atheismus hervor. Der Grund dafür ist, dass das Geld dem Kapitalisten G-tt ersetzt. Schließlich steht auf jedem Dollarschein (und nur auf dem Dollar) “In G-d we trust.“ (Wir glauben an G-tt.) Der Dollarschein ist G-tt! Der Kapitalist braucht daher keine andere Ideologie. Geld schafft sich seine eigene Moral. Betrug wird toleriert (wenn nicht befürwortet), wenn man zeigen kann, dass dadurch unter dem Strich mehr herausschaut, und man ihn beschönigen kann, weil er den Geschäftsgang fördert. Ein Glaube an den wahren G-tt existiert im Herzen des Kapitalisten aber nicht mehr. Sein Glaube an G-tt ist nur ein Lippenbekenntnis. Sein wahrer G-tt ist der allmächtige, heilige Dollar.
Der Kommunismus, Abels Philosophie, siegte in der Zeit des Turms von Babel.
Die Welt war vereinigt. Das Problem war nur, dass sie für den falschen Zweck vereinigt war: G-tt zu bekämpfen; sozusagen in den Himmel hinaufzusteigen, G-tt zu entthronen und sich an seiner Stelle einen Namen zu machen. G-ttes Antwort darauf war, ihre Einheit durch die Trennung in verschiedene Sprachen zu zerbrechen. Das Gleiche haben wir auch in unserer Zeit erlebt. Als die Sowjetunion auseinanderbrach, kämpften plötzlich unzählige ethnische Gruppen für ihre Unabhängigkeit. Keine verstand sich mit der anderen. Genau das Gleiche war auch mit der Generation, die den Turm zu Bawel gebaut hatte, passiert.
Awraham, der um diese Zeit geboren wurde, stand zwischen den Fronten. Kains Philosophie hatte sich als falsch herausgestellt. Und dann hatte sich Abels Philosophie als falsch herausgestellt. Was war nun der richtige Weg? Awraham merkte schließlich, dass eine Kombination der beiden Wege der richtige war.
G-tt schuf die Welt mit einem einzigen Menschen, und deshalb sagt der Talmud:
“Jeder ist verpflichtet zu sagen, für mich wurde die ganze Welt erschaffen.“ Auf der anderen Seite leben wir in einer Welt mit anderen Menschen zusammen und deshalb ist Bescheidenheit eine absolute Notwendigkeit. Wir können nicht so egoistisch sein und auf anderen herumtrampeln. Wir dürfen unsere ethischen Grundsätze nicht aufgeben, weil wir den Erfolg eines anderen fürchten. Wir müssen Reichtum, Ruhm und Ehre teilen und einsehen, dass uns dadurch nichts weggenommen wird. Wir müssen den Verdienst anderer anerkennen und nicht fälschlicherweise als den unseren ausgeben.
Selbstsucht und Bescheidenheit sind die Marksteine der Persönlichkeit, der ganzen Gesellschaft. Alles andere ist bruchstückhaft und führt zu nichts Gutem. Hoffentlich werden wir alle eines Tages aus dem tragischen Versagen von Kain und Abel lernen und danach streben, mehr wie Awraham zu sein, der eine Synthese dieser beiden Grundhaltungen zustande brachte.