So wie im Himmel, so auf der Erde – Teil 16 – Adams Sünde

Datum: | Autor: Rabbi Ezriel Tauber SZl | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Adam
Rabbi Ezriel Tauber SZl – L’ilui nischmat Hamechaber
Fortsetzung

Inhalt:

  • Erläuterung der Verse über Adams Sünde
  • Die Versuchung
  • Was wir aus dem Versagen Adams lernen können
  • Eine Richtlinie, um zwischen dem bösen und dem guten Trieb unterscheiden zu können
  • Ein Weg, wie man sich vor Sünde schützen kann
  • Der Unterschied zwischen einem menschlichen und einem g-ttlichen Akt
  • Die Notwendigkeit, wissend zu sein
  • Der Unterschied zwischen den „Pflichten des Körpers“ und den “Pflichten des Herzens “

“Und Haschem/G-tt nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, um auf ihn aufzupassen und ihn zu hüten. Und Haschem/G-tt befahl dem Menschen wie folgt: “Von jedem Baum des Gartens kannst du essen, wie du magst; aber vom Baum der Erkenntnis zwischen Gut und Böse darfst du nicht essen, denn an dem Tag, an dem du davon isst, wirst du sterben“[1]

Es ist ein Fehler zu meinen, dass Adams Sünde einfältig oder ohne Berechnung geschah. Im Gegenteil, er dachte sehr gründlich darüber nach, hatte die tiefsinnigsten Gründe, diese Sünde zu begehen, und wusste genau, was er tat. Ja, Adam hatte nicht nur die bedeutende Gründe, sondern auch die heiligsten gedanklichen Grundsätze, weshalb er von dem Baum ass. Seine Prüfung war eine der schwierigsten, die man sich vorstellen kann, eine bei der wir bis zum heutigen Tag immer wieder versagen.

Das Puzzle zerlegen

Wir haben in der Einleitung dargelegt, dass die Erde ursprünglich ein Spiegelbild des Himmels war. In diese himmlische Erde hinein wurde Adam erschaffen. Er öffnete seine Augen und sah eine Welt, die vor Geistigkeit überströmte; die Erde war so schön wie der Himmel… ausser einem kleinen, aber wichtigen Unterschied: Die Erde hatte das Potenzial, zerstört zu werden.

Wenn der Himmel eine schöne Zeichnung ist, dann ist die Erde genau die gleiche Zeichnung, aber auf der Oberfläche eines Puzzles (wie in der Einleitung beschrieben). Was der irdische Adam zuerst sah, war ein Puzzle in seiner ursprünglichen, noch ganzen, unzerstörten Form. In diesem Stadium war es unmöglich, das Puzzle (die Erde) von seiner ursprünglichen Zeichnung (dem Himmel) zu unterscheiden. Als Puzzle hatte sie jedoch das Potenzial, in ihre Teile zerlegt zu werden. Sie kam sozusagen noch vollständig erhalten in einer “Zellophanverpackung“ daher mit einem “roten Ziehfaden“, auf der die Warnung stand: ZIEHE NICHT DIESEN FADEN, SONST FÄLLT DAS PUZZLE HERAUS UND BRICHT AUSEINANDER.

Dies war die Lage, in der sich Adam befand.

G-tt zeigte ihm die Erde in ihrer Gesamtheit und sagte ihm, dass sie ihm gehöre: Er könne seine Bedürfnisse mit allem darin befriedigen – bis auf eine Ausnahme: Der Baum der Erkenntnis zwischen Gut und Böse. “An dem Tag, an dem du davon isst“, wurde ihm gesagt, “wirst du sterben.“ Mit anderen Worten, G-tt sagte ihm, dass das ganze Puzzle auseinander fallen werde, wenn er von diesem Baum isst. Der Tod würde über die Welt hereinbrechen und die Erde aufhören, eine geordnete Schöpfung zu sein, die die Symmetrie des Himmels spiegelt.

Adam überlegte sich Folgendes: “G-tt warnte mich, von diesem Baum zu essen. Warum tut er das? Das ist wie mit dem “roten Faden“. Wenn ihn jemand irgendwo angebracht hat, dann soll man doch wohl auch daran ziehen “ (Haben Sie schon einmal eine Tafel “Frisch gestrichen“ und dahinter eine frisch gestrichene Wand mit Fingerabdrücken gesehen?)

Adam dachte weiter:

“Was könnte der Vorteil sein, diesen Faden zu ziehen? Wenn ich ihn ziehe (also: wenn ich vom verbotenen Baum esse), wird die Erde chaotisch werden. Dies muss aber genau das sein, was G-tt will, denn wenn ich das Potenzial besitze, das Chaos zu erschaffen, muss ich auch das Potenzial haben, die Ordnung wiederherzustellen. Wenn ich die Ordnung wiederherstelle – wenn ich also das Puzzle wieder selbst zusammensetze – werde ich zu G-ttes Partner im Schöpfungsprozess. G-tt muss deshalb wollen, dass ich sündige, damit ich die Gelegenheit erhalte, Teschuwa zu machen, meine Fehler zu korrigieren und die Schöpfung durch meine Anstrengungen wieder aufzubauen.“

Adam hatte völlig Recht, als er dachte, dass G-tt ganz bewusst den “roten Faden“ – also das Potenzial für Sünde und Zerstörung – in den Garten Eden platziert hatte. Weil G-tt ihm aber verboten hatte daran zu ziehen (also: vom Baum der Erkenntnis zu essen), hätte er auf keinen Fall daran ziehen dürfen. Warum hat G-tt den Faden dann aber überhaupt erschaffen? “Dies ist allein G-ttes Angelegenheit, nicht meine“, hätte sich Adam sagen sollen.

Obwohl Adams Gedanken eine nachvollziehbare Logik zu Grunde lag, hätte er sich ihrer entziehen sollen.

Seine Prüfung war, die menschlichen Gedanken dem Wort G-ttes unterzuordnen. Nur so hätte er alles erreicht, sogar eine Partnerschaft mit G-tt. Er hat sich mit seiner Klugheit. Nur selbst geschadet. Das ist eine wichtige Lehre für uns.

Der böse Trieb vor und hinter uns

Jeder von uns ist ein Stück von Adam. Und jedem von uns wurde ein Stück des grossen Schöpfungspuzzles zugeteilt, um es wieder an seinen richtigen Ort zurückzulegen. Wir sind hier, um unseren Teil wieder dort hinzubringen, wo er hingehört, und ein würdiger Partner G-ttes im Schöpfungsprozess zu werden. Auf diese Art nehmen wir an der großartigen Wiederherstellung der Welt in ihrer ursprünglichen Erhabenheit teil.

Dies geschieht jedoch nur durch die Befolgung von G-ttes Willen. Die tiefsinnigsten Berechnungen, Philosophien und Begründungen sind bedeutungslos verglichen mit G-ttes Wort. Wenn sie dem direkten Befehl G-ttes widersprechen, muss der Mensch dies akzeptieren und sein Urteil dem g-ttlichen unterordnen.

Dies stellt meiner Meinung nach eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit dar.

Es ist nicht nur eine Herausforderung für Menschen, die die Tora nur am Rand beachten. Sogar der gesetzestreue Jude, der im Prinzip nichts anderes möchte, als sich G-tt zu unterwerfen, muss aufpassen, dass er sich nicht selber die Tagesordnung vorgibt.

Jeden Tag bitten wir G-tt in unseren Gebeten, dass er uns vor dem „Jezer Hara [bösen Trieb] vor und hinter uns“ beschützt. Der böse Trieb vor uns bedeutet offensichtliches Fehlverhalten; er ist der Trieb, Dinge zu tun, die ganz klar falsch sind. Was aber ist der böse Trieb “hinter uns“? Er ist der Trieb, Dinge zu tun, die nicht ganz so eindeutig falsch sind. Wir müssen vor beidem auf der Hut sein.

Das Urteil eines jeden von uns ist so subjektiv, dass wir nicht einmal sicher sein können, ob unsere sogenannt guten Wünsche wirklich in Ordnung sind. Ein Mensch kann sogar aus den falschen Gründen heraus wünschen, gesetzestreuer zu leben. Natürlich sollte man oft die Gesetzestreue intensivieren, unsere angeborene Subjektivität jedoch kann uns sogar dazu bringen, im Übermaß fromm und religiös zu handeln.

Gibt es eine Möglichkeit, für sich selber zu bestimmen, ob das Begehren, das man spürt, aus dem guten oder dem bösen Trieb stammt?

Normalerweise macht es einem der gute Trieb nicht einfach; er “drängt‘“ uns kaum, wenn überhaupt. Zum Beispiel sagt einem der böse Trieb anfangs: “Nimm dir keine Zeit, Tora zu lernen. Verpflichte dich nicht weiter zur Gesetzeseinhaltung.‘“ Und so weiter. Aber man siegt. Man erzielt einen wichtigen Durchbruch. Darauf ändert der böse Trieb seine Strategie: “Übernimm mehr Pflichten. Tu mehr. Werde religiöser!“ Er drängt einen in das andere Extrem.

Eine allgemeine Regel lautet, dass der gute Trieb uns nicht drängt. Sein Weg ist normalerweise nicht der einfache Weg. Es kann im Moment richtig sein, die ganze Zeit zu lernen, aber vielleicht auch nicht. Vielleicht wäre es richtig, seine Gesetzestreue zu intensivieren oder sie einer nicht nach den Gesetzen lebenden Person zu empfehlen, vielleicht aber auch nicht.

Wie kann ein Mensch, der vor einer wichtigen Entscheidung steht, die objektive Wahrheit erkennen?

Die Antwort lautet: “Schaffe dir deinen eigenen Rabbiner.“ Die Tora ist der Führer zu G-ttes Wissen. Deshalb ist ein richtiger Toragelehrter die wichtigste Person auf der ganzen Welt. Eine solche Person besitzt nicht nur akademisches Wissen, sondern kennt auch die menschlichen Triebe, insbesondere den guten Trieb – den Jezer Hatov – und den schlechten Trieb – den Jezer Hara. Niemand anders kennt sich im Wesen der menschlichen Persönlichkeit besser aus als ein wahrer Toragelehrter.

In jeder Lebenslage muss man danach streben, das objektive Urteil einer dritten Partei einzuholen. Theoretisch könnte das irgend jemand sein, der einen gut kennt. Es gibt jedoch niemanden, der besser in Objektivität und in den Argumenten des Jezer Hara geschult ist, als ein richtiger Toragelehrter. Deshalb hat jeder von uns die Pflicht, solche Berater aufzusuchen und sich ihnen zu öffnen, damit wir nicht uns selber überlassen bleiben, was fast unweigerlich zu einer Vormachtstellung der verführerischen Argumente des Jezer Hara führt, sei es des Jezer Hara “vor uns“ oder “hinter uns“.

Und die Welt zerbrach

G-tt schuf den Baum der Erkenntnis. Wäre Adam nicht gesagt worden, er dürfe von dem Baum nicht essen, dann hätte er selber begreifen sollen, dass das Wissen, das der Baum verlieh, nicht das Wichtigste für ihn war. Das Allerwichtigste war, sich dem Urteil G-ttes zu unterwerfen. Aber dies tat er nicht. Das war sein Fehler. Und diesen selben Fehler haben wir seither immer wieder begangen.

Adam hatte natürlich einen guten Grund – so wie wir, wenn wir unsere Unvereinbarkeit mit dem G-ttlichen Willen zu begründen suchen. Er hatte in der Tat den einleuchtendsten und heiligsten Grund. Er sah eine schöne Welt und einen Baum der Erkenntnis, der ihm ermöglicht hätte, Partner in G-ttes Schöpfungsprozess zu werden. Adam überlegte: “Ich weiss, dass ich Zerstörung in die Welt bringe, wenn ich davon esse, aber schlussendlich wird es mir möglich sein, sie wieder aufzubauen, und so werde ich das höchste Ziel der Schöpfung erfüllen: G-ttes Partner zu werden.

Adams Gedankengänge waren fehlerlos – bis auf eine Ausnahme.

G-tt sagte: “Iss nicht von diesem Baum!“ Seine Prüfung war, seine heiligen Überlegungen aufzugeben, denn verglichen mit den G-ttlichen bedeuten sie nichts. Wissen ist nur eine Hilfestellung zum Willen. Und deshalb gibt es nichts Höheres und nichts Heiligeres als den Willen des Schöpfers. Gemäss der weit verbreiteten Lehre des Ari s.A. wäre es Adam ab Beginn des Sabbats ohnehin erlaubt gewesen, von diesem Baum zu essen, wenn er sich nur an jenem verhängnisvollen Freitagnachmittag der Schöpfung hätte zurückhalten können. Er hielt sich aber nicht zurück. Er aß zu früh davon.

Und die Welt zerbrach. Das Puzzle zerfiel in seine Einzelteile.

Noch heute sammeln wir die einzelnen Stücke ein.

  1. Bereschit 2, 15-17

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