Wochenabschnitt Ki Tissa – Der Irrtum des Volkes über die Beziehung G-tt und Mensch

Datum: | Autor: Rav Schimschon Raphael Hirsch | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Mensch

לב (א) וַיַּרְא הָעָם כִּי בֹשֵׁשׁ מֹשֶׁה לָרֶדֶת מִן הָהָר וַיִּקָּהֵל הָעָם עַל אַהֲרֹן וַיֹּאמְרוּ אֵלָיו קוּם עֲשֵׂה לָנוּ אֱלֹקִים אֲשֶׁר יֵלְכוּ לְפָנֵינוּ כִּי זֶה מֹשֶׁה הָאִישׁ אֲשֶׁר הֶעֱלָנוּ מֵאֶרֶץ מִצְרַיִם לֹא יָדַעְנוּ מֶה הָיָה לוֹ.

Kap. 32,1: Als das Volk sah, dass Mosche ihre Erwartung, vom Berg herabzukommen, nicht erfüllte, versammelte sich das Volk über Ahron, und sie sprachen zu ihm: Auf, mache uns Götter, die vor uns hergehen sollen; denn dieser Mann Mosche, der uns aus dem Land Mizrajim heraufgeführt (hat), wir wissen nicht, was ihm geschehen ist.

וַיַּקְהֵל עַל: וַיִּקָּהֵל הָעָם עַל אַהֲרֹן heisst in Massenversammlungen über jemanden kommen, ihn überwältigen.

Wir finden dies noch zweimal bei Mosche und Ahron. Beide Male leisteten Mosche und Ahron nicht einmal durch Gegenrede Widerstand. Dass Ahron das עֵגֶל nur der Gewalt nachgebend machte, sagt schon die Formulierung in Passuk 35:עַל אֲשֶׁר עָשׂוּ אֶת הָעֵגֶל אֲשֶׁר עָשָׂה אַהֲרֹן, G-tt traf mit plötzlichem Tod das Volk, weil sie das Kalb gemacht hatten, welches Ahron gemacht hatte. Auch wenn Ahron das Gold ins Feuer warf und technisch das Kalb goss, so waren doch sie es, die es in Wirklichkeit machten und wurden dafür mit Tod bestraft!

עֲשֵׂה לָנוּ אֱלֹקִים אֲשֶׁר יֵלְכוּ לְפָנֵינוּ כִּי זֶה מֹשֶׁה הָאִישׁ וְגוֹ: Der Zweck אֲשֶׁר יֵלְכוּ לְפָנֵינוּ, und das Motiv כִּי זֶה מֹשֶׁה הָאִישׁ zeigen deutlich, dass sie keine Abgötterei im gewöhnlichen Sinne, nicht einen Abfall von G-tt wollten. Nicht G-tt, sondern Mosche sollte ersetzt werden. Nur an die Stelle von Mosche sollte das von Ahron zu Machende treten.

Sie wollten von Ahron einen nicht mehr verlierbaren Mosche.

Aber dass sie überhaupt das Vertrauen in die Zukunft an das Dasein eines Mosche knüpften, dass sie den Wahn hatten, dass der Mensch sich einen Mosche machen könnte, steht in diametralem Gegensatz zur fundamentalen jüdischen Wahrheit über die gegenseitigen Beziehungen von G-tt und Mensch.

Die beiden einander ergänzenden Pessukim לֹא תַעֲשׂוּן אִתִּי und מִזְבַּח אֲדָמָה תַּעֲשֶׂה לִּי[1] haben schon unmittelbar nach der Offenbarung am Sinai aufklärend und warnend die Differenz zwischen der G-ttlich jüdischen und der heidnisch nichtjüdischen Anschauung, in Bezug auf die Beziehung von Mensch zu G-tt, aufgezeigt.

Der heidnische Wahn ist:

dass (1) der Mensch sich selbst Götter machen könne: d.h., dass er sich ein Bild, eine Macht, oder einen Menschen, als sein Höchstes bestimmen könne, dass dieses Objekt seiner Verg-tterung dann auch vom allerhöchsten G-tt mit Göttlichkeit bekleidet und zum Träger seines Geschickes werde,

dass (2) der Mensch sich G-tter machen müsse: weil er nur mittels solcher Objekte (seiner Wahl!) überhaupt eine Beziehung zum Allerhöchsten herstellen könne, und dass er nur durch Verehrung dieser Objekte, die Fürsorge und den Schutz des höchsten G-ttes erringen könne, weil der höchste G-tt wolle, dass er diese Objekte, Seine „Diener“, verehre,

dass (3) es bei der Beziehung zwischen Mensch und G-tt in erster Linie um die Gestaltung seines Schicksals gehe: und dass der Mensch durch Verehrung und Besänftigung der G-ttheit einen entscheidenden, auch die G-ttheit zwingenden, Einfluss auf sein Schicksal habe.

Die jüdische Wahrheit über die Beziehungen zwischen Mensch und G-tt ist demgegenüber:

dass (1) der Mensch sich weder G-tter machen kann, noch muss, noch darf, und G-tt von keinerlei physischer Natur ist, und man Ihn deshalb nicht durch irgendein von Menschen erdachtes Vorgehen, „zwingen“ kann, unserem persönlichen Wollen gehorchen zu müssen,

dass (2) G-tt dem Menschen nicht durch Verkörperung des G-ttlichen näherkommt, sondern nur durch „Durchgeistigung“ und „Durchsittlichung“ des menschlichen Wesens und durch Unterordnung aller Lebenstätigkeiten unter G-ttes Diktat,

dass (3) der Mensch nicht auf G-tt einwirken muss, um sich G-ttlichen Schutz und G-ttliche Fürsorge zu sichern, sondern auf sich selbst durch die Gestaltung seiner Taten, dass dieser Gehorsam gegenüber G-tt immer und überall ausreichend ist für das Heil des Menschen. Darüber hinaus braucht es nichts, und dieser Gehorsam kann durch nichts zwischen Himmel und Erde ersetzt werden.

Der Wahn, dass der Mensch nach eigenem Belieben eine G-ttheit schaffen könne, und durch die Verehrung und Besänftigung derselben einen absoluten Einfluss auf die Gestaltung seiner Zukunft ausüben könne, ist eine Gleichstellung des eigenen Ichs mit dem G-ttlichen Willen, ja sogar eine Entgegenstellung. Diese Anschauung ist Heidentum und Götzentum. Das hatte schon der Prophet Schmuel zu König Schaul gesagt:“… siehe, gehorchen ist mehr als gute Opfer, aufmerken mehr als fette Widder, denn Zaubereisünde ist Ungehorsam, Eigenmacht und Orakelwerk jedes eigenwillige Vorgehen“[2].

Jene, die sprachen: „Auf, mache uns Götter, die vor uns hergehen sollen, denn dieser Mann Mosche, der uns aus Mizrajim geführt, wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist“, sie waren im Wahn dieses heidnischen Subjektivismus befangen.

Die heidnische Vorstellung über die Beziehung zwischen G-tt und Mosche

Sie sahen in Mosche nicht das von G-tt gewählte und gesandte Werkzeug Seines Willens, sondern ein göttlich gewordenes Menschenwesen, das nun den göttlichen Willen bestimme, und dessen Dasein den Schutz der G-ttheit sichere. Es war nicht G-tt, der sie durch Mosche aus Mizrajim geführt hatte, sondern es war Mosche, der auf der ganzen Linie G-tt zur Vollbringung der Erlösung gebracht hatte. Sie sahen auch nicht in der Erfüllung der Gesetze (מִשְׁפָּטִים), die Mosche ihnen übergeben hatte, die einzige Ursache für G-ttlichen Schutz und die G-ttesnähe. Für sie war nur das „G-tt nahe Wesen“ des Mannes Mosche das Band ihrer Verbindung zu G-tt, und nur sein Dasein eine Bürgschaft für G-ttlichen Schutz.

Sie sahen im Verhältnis von Mosche zu G-tt bei dem Menschen Mosche die Initiative und die Kraft, G-tt zu „binden“. So glaubten sie, für die Sicherung ihrer Zukunft, eine ebensolche Initiative ergreifen zu müssen, und durch Vergötterung eines Objektes, die „Bindung“ des Allerhöchsten erreichen zu können. Das jüdische Bewusstsein der unmittelbaren, unvermittelten Beziehung des Menschen zu G-tt, für die als Bedingung nur die gehorchende Tat notwendig ist, war ihnen noch nicht in voller Klarheit aufgegangen oder durch die Angst vor der führerlosen Wanderung durch die Wüste getrübt worden.

אֲשֶׁר יֵלְכוּ לְפָנֵינוּ: sie meinten dies ist sicher nicht buchstäblich, es lag ja bisher keine Erfahrung vor, dass ein Götterbild ein Wegweiser sein könne. Vielmehr meinten sie mit diesen Worten, dass schon das Vorhandensein eines solchen Götterwerkes an ihrer Spitze, ihnen die weitere Führung durch G-tt sichern würde.

  1. Kapitel 20 20-21; siege das
  2. Schmuel 1 15,22-23

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