Wer war das?
Es war Taanis – der 17. Tamus. Die Kohanim schritten vom Duchan herunter, wie es Minhag Erez Jisrael ist. Die Sonne verschwand hinter den Bäumen – es war spät geworden. Einer der Schüler bedeutete dem Baal Tefilla, auf Tachanun zu verzichten und Kaddisch zu sagen. Er ging auf den Baal Tefilla zu: „Wessen Befehl war es, die Tefilla ohne Tachanun zu beenden?“ Der junge Baal Tefilla nannte den Mitschüler. Sofort rief er dem Rosch Jeschiwa Raw Mordechai Epstein und den andern Rabbanim im Misrach zu: „Verlasst eure Plätze, wir haben neue Posskim!“ Aus dem Mischna Brura bewies er, dass die Halacha eindeutig ist, dass auch in diesem Fall auf Tachanun nicht hätte verzichtet werden dürfen.
Das war es!
Ohne Disziplin wankt jedes Erziehungsinstitut, versagt der Mensch, ist die Welt nicht fest gegründet. In der Ordnung und Selbstbeherrschung sah er die Fundamente der Selbsterziehung und – er lebte es vor. Sein Tag begann um 5 Uhr, um 23 Uhr war sein Tagwerk getan. Niemals hastig, niemals überstürzt, aber entschieden und konsequent. Er würde immer reagieren, keine moralische Schwäche unter den Teppich kehren, allerdings – der Moment der Reaktion muss stimmen.
An einem Mozae Schabbat sah er, wie ein Schüler beim Aufleuchten der ersten drei mittleren Sterne den Raum verließ, um nach der Zigarette zu greifen. „Ich bin sicher du hast Hamawdil ben Kodesch leChol gesagt,“ wandte er sich an den Bachur-Jeschiwa, „nichts spricht halachisch gegen deine Handlungsweise. Aber ist dir bekannt, weshalb Reuwen das Malchut, das Königtum verlor? Wegen seiner Eigenschaft Dinge zu überstürzen, Pachas kamajim.“ Das Gespräch zwischen ihm und dem Jungen machte die Runde. Die Abhängigkeit von der „ersten Zigarette nach Schabbat“ wurde unterdrückt.
Er erzog, formte und bildete Tausende.
Mit seiner Strenge, Stärke und Unermüdlichkeit schuf er Männer mit Rückgrat und Linienbewusstsein, die von den stärksten Orkanen des Lebens nicht gebrochen werden konnten.
Welches war sein eigener Werdegang?
Woher hatte er selbst geschöpft? In einem kleinen Städtchen bei Wilna geboren, lernte er als Junge mit Raw Chaim Oiser Grodzensky zusammen. Am eindrücklichsten beeinflussten ihn wohl Rabbi Jizchak Blaser (Reb Izele Peterburger), Rabbi Nosson Zwi Finkel, der Saba von Slabodka, damals noch in Kowna, und ausschlaggebend für sein ganzes Leben – Rabbi Simcha Sissel von Kelm. Hinter dem Namen „Talmud Tora“ in Kelm versteckte sich bekanntlich „die Universität des Mussar“, die Schmiede zur Prägung des sittlichen Niveaus. Dem Kelmer System entsprechend, ging er einer kaufmännischen Beschäftigung nach, um seine junge Familie zu ernähren. In Kelm hatte er eine Frau gefunden, die seinem Rang entsprach. Er gab eine Broschüre mit Namen Mokabziel heraus, welche ein Dach für Lomdut, Halacha, Chiduschim und Gedanken bildete.
Eines Tages machte ihn Reb Simcha Sissel darauf aufmerksam, dass sein Ärmel von Mehl bestäubt sei. Mehl war einer der Artikel seines Geschäftes. Er erschrak dermaßen, dass er noch am gleichen Tag Bilanz machte. Er konnte verbuchen, dass sich Einnahmen und Verpflichtungen die Waage hielten und – schloss das Geschäft. Sein Weg führte ihn nach Wolozin, zum Neziw und Raw Chaim Solowiejczyk. Seine Frau hatte für diesen Schritt Verständnis. Als die Jeschiwa auf Befehl des Zaren geschlossen wurde, kehrte er nach Kelm zurück.
Im Jahre 1897 berief ihn Rabbi Elieser Gordon nach Tels.
Seine Aufgabe war es, als Menahel Ruchni der Mussaridee Rabbi Jisrael Salanters den Weg zu bereiten. Sechs Jahre wirkte er in Tels. Nach maximalen Maßstäben verlangte er von den Schülern, sich selbst zu vervollständigen. Verfehlen eines Schiurs, zu spät zur Tefilla oder zum Lernen zu erscheinen – wurde mit Abzügen vom Taschengeld bestraft. Da war ein Bachur, der es sich erlaubte die „Sdorim“, die Lernzeiten ungenau einzuhalten. Andererseits – wenn diesen Bachur die Lernlust überkam, setzte er sich in die Mitte des Lernsaales und vertiefte sich intensiv in die Gemara. Er sah ihn so eifrig, ging auf ihn zu und schloss dem Bachur die Gemara, öffnete sie jedoch sogleich wieder an der richtigen Stelle. Der Junge war perplex. „Ich kann keinem verwehren, hier kowea Itim laTora zu sein“, damit sagend: „ein „ordentlicher“ Schüler bist du hier nicht“.
Ein anderes mal bat er einen Schüler um ein Glas Wasser. Dieser sprang auf. „Halt, warum wolltest du mir das Wasser reichen?“ Der junge Mann drehte und wand sich, bis er herausbrachte, welch’ grosse Mizwa es sei, einen Talmid Chacham zu bedienen. „So! Und einem alten, schwächlichen Mann Wasser zu geben, wäre nicht genug Mizwa?”
Diese hohen ethischen Anforderungen, die eiserne Disziplin reizten zum Widerspruch, der sich zu einer Revolte verdichtete.
Die Anführer meldeten sich. Rabbi Elieser Gordon, der Rosch Jeschiwa, fiel wieder und wieder in Ohnmacht. Als er dann kreidebleich das Podium bestieg, erinnerte er die Jugend, dass er beim Tod seiner geliebten Tochter, die kleine Kinder hinterließ, es mit mehr Fassung ertragen hatte, weil es ein privater Kummer war. Der Schmerz dieses Benehmens, jedoch, berühre den Klall. Zwölf Bachurim wurden von der Jeschiwa entfernt. Er verließ die Jeschiwa zeitweise, wurde aber dringend zurückgerufen. Es war die Blütezeit der Jeschiwa von Tels.
Er wollte auch mit Baale Batim arbeiten.
Boden, den er betrat, blieb nicht brach sondern loderte: Da wurde er in ein dörfisches Städtchen als Raw beordert. Für ihn war es eine ruhige Arbeitszeit, aber die Bauern verschliefen ihr geistiges Leben. Am Rosch Haschana, vor den Tkiot, rief er: „Der Himmel ist offen, die Tefilla können aufsteigen und um was bittet ihr? Haschem, gib uns Kartoffeln!”
Um die dortige Jugend mühte er sich sehr. Gründete eine Schule und vieles mehr.
Die Weltkriege fegten über Osteuropa hinweg.
Er war dauernd auf der Flucht: Minsk, Zentralrussland, Kowno, Stuzin… Er schrieb an Rabbi Nosson Zwi Finkel nach Chewron, er würde in Erez Jisrael selbst als Schammes arbeiten. Rabbi Nosson Zwi Finkel fühlte seine Kräfte schwinden und bat ihn, sich zu beeilen und möglichst bald zu kommen.
Er, der starke Mann, dessen Seele nach ständiger Vollendung strebte – änderte in Erez Jisrael seinen Stil: Nicht dass er nicht auch hier Maxime in Menschlichkeit setzte – aber eben andere. Die Rabbanit, die am Schabbat seine Draschot hinter der Tür zu lauschen pflegte, stellte ebenfalls fest: „Er spricht nun auf andere Art und Weise, der große Pädagoge“.
Dem Pogrom in Chewron entkam er nur mit Nissim. 23 Bachurim waren hingemetzelt worden, viele, viele wurden verwundet. Von einer gewissen Schiurgruppe blieb nur einer am Leben. Er ging mit diesem die Namen der Getöteten durch: „Weißt du wie verpflichtend es für dich ist, als einziger überlebt zu haben?“
Während seines ganzen Lebens vergaß dieser Bachur dieses Gespräch und den Anstoß, den es ihm gab, nicht.
Wie anfangs gesagt: Formen, Bilden, Erziehen – immer. Ein Ra“m (Rosch Mesiwta) ging mit einem Talmid gewichtig auf und ab, auf und ab – quer durch den Lernsaal. Er flüsterte dem Raw zu: „Es könnte im Schüler Stolz züchten“. Und zum Schüler gewandt: „Fühlst du nicht, dass die Jeschiwa unter deinen Schritten dröhnt?”
Die Früchte dieser ewigen Wacht? Männer, Zadikim, Führernaturen.