Der Jude und seine Zeit

Datum: | Autor: Rav Schimschon Raphael Hirsch | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Zeit

Auszug aus Essay “Der Jude und seine Zeit “

„Also in das Rad der Zeit wollt ihr greifen, wollt die Speichen der Entwicklung hemmen, wollt in die alte jüdische Isoliertheit uns zurückwerfen, wollt das Prinzip des zeitgemäßen Fortschrittes verleugnen, wollt das Judentum mit seinen längst nicht mehr zeitgemäßen Formen aus seinem Grabe rufen, und nachdem 30 Jahre nach dem Muster der im übrigen freilich nicht zu beachtenden Altrabbinen daran gearbeitet wurde, das alte, starre Judentum zeitgemäß umzugestalten, vermeint ihr, das Werk der erleuchtesten, gebildetsten jüdischen Geister zerstören zu können?“

Lasst uns ruhig erwägen, welche Wahrheit in diesem Vorwurfe liegt und welche Weisheit sich in dieser Verkündung ausspricht!

Also zeitgemäß das Judentum zu gestalten, das sei die Aufgabe unserer Zeit, das sei die Aufgabe aller Zeiten gewesen, das hätten auch die großen Altmeister jeder Zeit geübt, und nur wir unerleuchtete Finsterlinge wollten starrsinnig solche Weisheit nicht fassen, nicht üben?

Zeitgemäßes Judentum — zeitgemäß — den in einer Zeit herrschenden Ansichten der Menschen, den von den Verhältnissen einer Zeit erzeugten Bedürfnissen gemäß — das wäre das Ziel; wenn wir unser Judentum nach den in unserer Zeit herrschenden Ansichten unserer nichtjüdischen Mitbrüder gestaltet, wenn wir alles beseitigt, wessen Ausübung uns der Missdeutung und Verkennung unserer nichtjüdischen Mitbrüder aussetzt, dann, nicht wahr, haben wir die moderne Weisheit gefasst und geübt. — Lasst sehen! War das Judentum je zeitgemäß? Kann das Judentum je zeitgemäß werden? Konnte es so je gewesen sein? Wird es je es werden?

War Awrahams Judentum zeitgemäß, als ihn der Fürst seines Vaterlandes in den chaldäischen Glutofen warf, weil er die Götzen seiner Zeit zerschlagen?

War das Judentum unserer Väter zeitgemäß, als sie, den Ägyptern ein Greuel, jahrhundertelang ihre Nacken im Sklavenjoch beugen und sich ihre Säuglinge in den Wellen des Nils begraben lassen mussten?

War Daniels Judentum zeitgemäß, als er mit seinen Jugendgenossen im babylonischen Königsalumnat sich auf Kräutergenuss beschränkte und lieber den Zorn seines Königs, den Tod aus Löwenrachen erwartete, als das nach altväterlicher Sitte zu verrichtende dreimalige Gebet gen Jeruschalayim zu unterlassen?

War Chananjahs, Mischaels und Asarjahs Judentum zeitgemäß, die lieber in den Glutentod gingen, als dass sie dem Fürstengebot gemäß ihre Knie vor der Fürstensäule beugten?

War der Makkabäer Judentum zeitgemäß, die mit Heldenkühnheit der Einführung zeitgemäßer Griechensitte und Griechenbildung trotzten?

War des Hilleliden und des Sakkai-Sohnes Judentum zeitgemäß, als durch der Römer Schwert Judäas Reich zertrümmert, Jeruschalayims Tempel zerstört, die Söhne Judas geschlachtet, auf Sklavenmärkte verkauft, zur fürstlichen Augenweide den wilden Tieren vorgeworfen oder in alle Welt zerstreut wurden und gewiss die damals moderne Weisheit gelehrt hatte: nun wäre es doch endlich Zeit, das alte Judentum zu lassen, nun sei es doch aus mit den alten isolierenden Sitten, die nur zum Gespötte der siegenden Zeitgenossen dienen, nun sei es doch unmöglich, mehr Juden und Jüdinnen zu bleiben —

sie aber selbst über diese Zeit der Zertrümmerung seelengroß hinüberschauten und nur noch inniger knüpften das Band des Glaubens, nur noch ernster lehrten die Heiligkeit des Gesetzes und der Sitten, nur noch eindringlicher warnten und mahnten, ordneten und regelten, dass in der Unterjochung und Zerstreuung keine Faser vom väterlichen Heiligtum verloren gehe?

War das Judentum zeitgemäß, für welches darauf Jahrhunderte herab unsere Väter in allen Ländern, allen Zeiten den schmählichsten Druck, den höhnendsten Spott und tausendfältig Tod und Verfolgung erlitten?

War je in allen diesen Jahrtausenden das Judentum zeitgemäß, entsprach es je den Ansichten der herrschenden Zeitgenossen, war es je nicht der Missdeutung und Verkennung ausgesetzt, war es je bequem und leicht, Jude und Jüdin zu sein?

Und es wäre die Aufgabe des Judentums, jederzeit zeitgemäß zu sein?!

Was wäre auch aus dem Judentum geworden, wenn unsere Väter es hätten als ihre Aufgabe betrachten dürfen, ihr Judentum jederzeit zeitgemäß, d.h. den in ihrer Umgebung zeitlich herrschenden Ansichten und Verhältnissen gemäß zu gestalten, wenn sie in Ägypten die Weisheit meroischer Priester, unter Babyloniern die Mysterien der Mylitta, unter Persern die Magie des Zoroaster, unter Griechen die eleusinischen Geheimnisse oder die Volkslehre des Olymps oder die jeweilig beliebtesten Systeme der Philosophen, in Alexandrien, in Rom den Extrakt aller möglichen Glauben und Ansichten, unter den Galliern die Druidenweisheit, im Mittelalter Klöster und Mönche zum reformierenden Maßstäbe ihres Judentums genommen hätten, wenn sie noch heute, dem Gebote dieser modernen Lehre gemäß, in allen Zonen, allen Lindern, um sich den jeweiligen Ansichten und Sitten ihrer Landesgenossen anzuschmiegen, ihr Judentum überall demgemäß reformierten — um G-ttes willen, welch ein Ungeheuer wäre dann, was dann als Judentum passierte!

Wechseln doch die Ansichten, die Sitten, die Bedürfnisse von Land zu Land, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, und wo ist noch eine Religion, die also bestimmt war, durch alle Lander, alle Zeiten zu wandern, wie das Judentum — und wir sollten es überall zeitgemäß gestalten?

Aber vor allem, was wäre das für ein Judentum, wenn wir es zeitgemäß gestalten dürften!

Dürfte der Jude sich jeweilig sein Judentum zeitgemäß gestalten, wahrhaftig, dann brauchte er es überall nicht mehr, dann verlohnte es sich überall nicht mehr der Mühe, vom Judentum zu reden, dann nehme man das Judentum und werfe es zu den alten Ausgeburten des Wahnes und des Aberwitzes und schweige von Judentum, von jüdischer Religion!

Wie? Die Tora wäre mir G-ttes Wort, und G-ttes geoffenbarter Wille wäre mir Judentum und jüdisches Gesetz, und da dürfte ich mich an den Heerweg der Zeiten und Lander stellen und jeden sterblichen Waller auf Erden nach seinen zwischen Traum und Wachen, zwischen Wahn und Wahrheit geborenen Ansichten und Meinungen fragen, seinem Placet das Wort des lebendigen G-ttes unterziehen, nach seinem Achselzucken das Wort des lebendigen G-ttes modeln und dann sprechen: Sehet da das zeitgemäß geläuterte Judentum, sehet das von Menschen approbierte, von Menschen gereinigte, geläuterte Wort des lebendigen G-ttes!

Wie?

Die Tora wäre mir G-ttes Wort, und G-ttes geoffenbarter Wille wäre mir Judentum und jüdisches Gesetz, und da dürfte ich meinen Magen, meine Sinnlichkeit, meine Bequemlichkeit, meinen jeweiligen zeitlichen Vorteil fragen, ob’s auch süß, ob’s auch leicht, ob’s auch billig, ob’s auch angenehm, dürfte die Religion, dürfte meine Religion, mir von G-tt zum Maßstab gegeben, kürzen, dürfte das g-ttliche Maß erst nach meinem jeweiligen Bedürfnis fälschen und dürfte dann mich rühmen und sprechen:

Sehet da das zeitgemäß geläuterte Judentum, sehet da das meiner Schwache gemäß verkürzte Wort des allmächtigen G-ttes und sehet da, wie bin ich ihm und wie ist ihm meine Zeit so gemäß!

Täuschen wir uns nicht! Die ganze Frage ist einfach nur die: Ist das „Und G-tt sprach zu Mosche wie folgt“, womit alle Gesetze der jüdischen Bibel beginnen, ist es eine Wahrheit, glauben wir wahrhaftig und wahr, dass G-tt, dass der allmächtige, allheilige G-tt also zu Mosche gesprochen, ist es eine Wahrheit, wenn wir im Kreise der Brüder auf dieses geschriebene Torawort die Hand legen und sprechen, dass G-tt uns diese Lehre gegeben, dass es Seine Lehre, die Lehre der Wahrheit und damit das ewige Leben in unsere Mitte gepflanzt sei, ist das alles kein Lippenwort, keine Redefloskel und Täuschung –

– wohlan denn, so müssen wir es halten, müssen es erfüllen, unverkürzt, ungemäkelt, unter allen Umständen es halten, zu allen Zeiten muss uns dieses G-tteswort das ewige, über alles Urteil des Menschen ewig erhabene Maß sein, demgemäß wir uns und all unser Tun jederzeit gestalten müssen, und statt zu klagen, es sei nicht mehr zeitgemäß, dürfen wir nur die eine Klage kennen, dass die Zeit nicht mehr ihm gemäß sein wolle.

Und wenn wir bei der Erfüllung dieses G-tteswortes uns von den überkommenen Lehren und Anweisungen der Rabbinen leiten lassen,

so dürfen wir dies wiederum nur und müssen es dann auch, wenn uns und weil uns von denselben Geschlechtern, aus deren Händen wir das schriftliche Wort G-ttes verbürgt erhalten, diese Lehren und Anweisungen als Tradition, als von G-tt, von demselben allmächtigen, allheiligen G-tt an Mosche und von Mosche von Geschlecht zu Geschlecht mündlich überlieferte, die praktische Erfüllung des G-tteswortes zu regeln bestimmte Tradition geworden und diese Tradition uns wiederum eben nichts weiter als Tradition, mündlich überliefertes G-tteswort ist, wie es das historisch bestehende rabbinische Judentum von Jahrhundert zu Jahrhundert gelehrt.

Ist uns aber diese Tradition „Nichttradition“, ist sie uns nur Maske, unter welcher frommer Priesterbetrug seine Ansichten dem Volke für G-ttes überliefertes Wort gegeben, haben die Väter somit ihre Söhne und Enkel getäuscht, haben sie für Täuschung und Wahn sie leben und leiden, dulden und sterben lassen und dürfen auch wir uns somit jeder sein eigenes Orakel sein und uns das Bibelgesetz nach unseren Ansichten und Meinungen modeln, oh, dann ist es, kann es, darf es nicht mehr G-ttes Wort sein, dann hat „G-tt nicht zu Mosche gesprochen“, dann haben wir nicht G-tteslehre in Händen, dann sind wir, dann ist die ganze Menschheit mit uns, deren Heileshoffnungen in diesem Worte wurzeln, dann sind wir alle betrogene Betrüger, und dann ist es Zeit, diesen ganzen Jammer offen und frei abzuschütteln.

Das ist die Alternative, keine andere gibt’s. Ist das Judentum G-ttesstiftung, so ist es bestimmt, die Zeiten zu erziehen, nicht aber sich von den Zeiten erziehen zu lassen.

Dann, dann — wenn die Zeiten G-ttgemäß geworden, wird auch das Judentum zeitgemäß sein. Erst wenn G-tt die Träne von jedem Angesicht getrocknet, wird auch die Verkennung seines Volkes auf Erden enden, hat G-ttes Mund gesprochen… <…>

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