Es war eine kalte Winternacht.
Das Dorf lag unter einer dichten weissen Schneedecke. Während der ganzen Nacht fiel der Schnee in dichten Flocken und deckte Bäume und Häuser bis zu den Fensterscheiben zu. – Ein typischer Winter in Litauen.
In einem kleinen, alten Haus am Rand der Ortschaft sass die Familie Kahanemann um den alten Holztisch herum, sechs hungrige und frierende Kinder. Im kleinen Raum war es eiskalt und der Wind blies den Schnee durch die Spalten der kahlen Holzwände.
Leise und mit trauriger Stimme fragt die Mutter: „Nun Kinder, wer wird morgen in den Cheder gehen?“ Mit diesem schwierigen Problem befasste sich die Familie ständig.
Sie besassen nur einen einzigen Mantel und auch nur ein Paar Stiefel für alle Kinder zusammen.
Ohne Stiefel und Mantel konnte man bei dieser Kälte und in diesem Schnee nicht hinausgehen. Also konnte auch nur ein Kind der Familie den Cheder besuchen. Eines der sechs Kinder konnte die schweren Stiefel anziehen und sich in den alten Wollmantel hüllen, die anderen fünf mussten zu Hause bleiben. Aber wer sollte es sein? Wer konnte entscheiden, wessen Toralernen wichtiger war? Jehoschua sollte am nächsten Tag damit beginnen, Mischnajot zu lernen, Meir war noch mitten im Lernen des „Alef Bet“ und Jossef Schlomo lernte bereits Gemara. War das am Wichtigsten? Wen würde die Mutter ins Bet Midrasch senden?
Alle sechs Söhne lernten gerne. Jeder Einzelne von ihnen wollte morgen in den Cheder gehen und das Alef Bet, Chumasch, Mischna und Gemara lernen…. Aber nur einer konnte es sein.
Im Haus war es bereits lange still und dunkel.
Die Kinder schliefen unruhig in ihren Betten, von der Kälte geschüttelt. Sie besassen weder warme Decken noch warme Pyjamas. Überall konnte man die entsetzliche Armut der Familie spüren.
Die Mutter lag noch wach, sie fand keine Ruhe. In wenigen Stunden würde der Morgen dämmern, ohne dass sie einen Entschluss gefasst hatte.
Die Uhr im Haus schlug dreimal, drei Uhr morgens. Plötzlich, von einem Augenblick zum nächsten, wusste die Mutter, was sie tun sollte. Rasch trat sie an das Bett ihres ältesten Sohnes, tätschelte sanft seine Wange und weckte ihn. Sie half ihm, sich anzukleiden und in die schweren Stiefel zu schlüpfen. Dann ging die Mutter mit ihm zum Cheder.
Draussen war es bitterkalt. Die hohen Schneemassen wuchsen immer mehr an. Es war finster in den Gassen des Dorfes. Nur der Mond stand blass am schwarzen Himmel. Langsam kämpfte sich die Mutter durch den tiefen Schnee. Mit der einen Hand bahnte sie sich einen Pfad durch das kalte Weiss, mit der anderen hielt sie ihren Sohn fest. Sie kamen zum Cheder. Im kalten, ungeheizten Klassen-Zimmer war es still. Die Mutter nahm ihrem Josef Schlomo den Mantel und die Stiefel ab, küsste ihn auf die Wange und ging nach Hause zurück. Der Knabe blieb alleine im leeren Klassenzimmer zurück.
Mühsam schleppte sich die Mutter wieder heim.
Sie fror, ihre Finger waren steif und die Füsse schmerzten vor Kälte. Aber sie trat ans Bett von Dov, weckte ihn, half ihm, sich anzukleiden, zog ihm die schweren Stiefel an, hüllte ihn in den Mantel und ging in den Cheder zurück. Sie stapfte durch den hohen Schnee, ungeachtet des eiskalten Winds, der unbarmherzig auf ihre Backen blies.
Die Mutter hauchte in ihre Hände und versuchte, sie zu wärmen. Der kleine Dov zog im Zimmer den Mantel aus, schlüpfte aus den Stiefeln und setzte sich neben Jossef Schlomo, der ruhig auf den Tag und den Melamed wartete.
Die Mutter ging inzwischen nach Hause zurück, um ihre anderen vier Söhne in den Cheder zu holen.
Zwölfmal legte die Mutter den Weg zurück. Sechsmal zum Cheder und sechsmal zurück, Ihr Gesicht war rot. Ihr Rücken schmerzte und ihre Finger hatten schon lange das Gefühl verloren – erst dann hatte sie das Gefühl, dass sie ihre Pflicht erfüllt hatte. Auch der Jüngste befand sich jetzt im Lehrhaus.
Ihr war es gelungen, alle sechs Söhne in den Cheder zu bringen, mit nur einem Mantel und dem einzigen Paar Stiefel.
Am Ende ihrer Kräfte sank die Mutter ins Bett. Am nächsten Tag stellte der Arzt fest, dass sie an einer Lungenentzündung erkrankt war.
Diese Geschichte pflegte Raw Jossef Schlomo Kahanemann sZl., der Ponivezher Row, öfters zu erzählen. Vor allem während der kalten Winterzeit, wenn die Häuser gut geheizt waren und kleine und grosse Kinder mit Pullovern, Handschuhen und Stiefeln warm bekleidet waren.
“Nur im Verdienst dieser Geschichte konnte ich die Jeschiwa aufbauen“, pflegte er zu sagen. „Ich kam nach Erez Jisrael und war körperlich und geistig gebrochen. Ich hatte in Europa meine ganze Familie verloren: Den Vater, die Mutter, Brüder, Schwestern, Frau und Kinder. Allein und verlassen kam ich ins heilige Land.
Ich liess mich in Bne Brak nieder.
Damals war es eine kleine, staubige Stadt. Auf dem grossen Grundstück von Raw Jakow Halperin gründete ich die Jeschiwa. Mit all meinen Kräften baute ich die Jeschiwa auf, während die Nachrichten über den Tod und die Verwüstungen aus Europa mich erreichten.“
„Durch seine Zores hat Raw Kahanemann seinen Verstand verloren“, meinten alle. „Wer baut zu solch einer Zeit eine Jeschiwa? Niemand weiss, was der folgende Tag bringen wird, und der Raw von Ponivesch befasst sich mit Bauarbeiten? Schade um die Mühe und das Geld, das der Raw investiert. Diese Jeschiwa wird leerbleiben. Schade… “ So redeten die Leute und diese Stimmung herrschte damals überall in Erez Jisrael. Aber das Bild meiner Mutter stand mir vor den Augen, die immer wieder, sechsmal hintereinander, mit einem Wollmantel und unserem einzigen Paar Stiefel hin- und zurückging. Sie rief mir zu: „Jossef Schlomo, baue die Jeschiwa. Werde nicht schwach, alles ist möglich und nichts ist schwer, selbst wenn die Nazis bereits an den Toren von Erez Jisrael stehen!”
„Die Fundamente der Ponivescher Jeschiwa auf dem Hügel in Bne Brak“, pflegte Rav Jossef Schlomo Kahanemann zu sagen, „die Fundamente dieser Jeschiwa sind aus Zement und Beton.“
„Aber darunter liegt ein alter Mantel und ein einziges Paar Stiefel…”
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags „Die Jüdische Zeitung“