Du sollst bleiben a Jid – Ich werde erwachsen – meine Bar Mizwa

Datum: | Autor: Rav Itzchak Silber | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
bar mizwa

Erinnerungen von Raw Jitzchak Silber SZ”L

Mit Genehmigung seines Sohnes Raw Benzion Silber schlito
Wir setzten die Publikation der Auszüge aus dem Buch der Erinnerungen von Raw Jitzchak Silber SZ”L fort. Raw Jitzchak Silber ist eine herausragende Gestalt der letzten Generation, dem es nicht nur gelungen ist, während der Sowjetzeit nichts von seiner Einhaltung von Tora und Mitzwot aufzugeben, sondern auch wortwörtlich Tausende Talmidim aufzustellen.

Fortsetzung

Ich werde erwachsen

Was bedeutet Bar Mizwa?

So wird ein Junge genannt, wenn er 13 Jahre alt geworden ist. So nennt man auch seinen dreizehnten Geburtstag. Dieser Geburtstag ist für einen jüdischen Jungen ein besonderer Feiertag. Ab diesem Alter wird das Einhalten der Gebote für ihn zur Pflicht und er trägt die Verantwortung für sich selbst. Ab diesem Zeitpunkt schließt er sich dem Minjan wie ein Erwachsener an. (Das Wort „Minjan“ bedeutet wörtlich „Abzählung“, „Zahl“ und im Judentum bezeichnet es eine Gruppe von zehn erwachsenen Männern. Einige religiöse Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Vorlesen der Wochenabschnitte aus der Torarolle, sind nur in Anwesenheit einer solchen Gruppe erlaubt. Es heißt in den „Sprüchen der Väter“: „Wenn zehn Menschen sitzen und sich mit der Tora beschäftigen, weilt die G-ttliche Präsenz unter ihnen“, Sprüche der Väter, 3:7).

Zum Begehen meiner Bar Mizwa hatten sich vierzig Juden versammelt – für die damalige Zeit sehr viele. Ich habe eine Drascha vorbereitet – eine Rede zu einem religiösen Thema, die der Bar Mizwa bei dieser Gelegenheit vor seinen Gästen hält. Ich kann mich auch heute noch an sie erinnern.

Alles fand sehr im Stillen statt, die Menschen hatten Angst vor den Behörden (nach mir wurden in Kasan keine Bar Mizwa mehr gefeiert).

Die Behörden jedoch schliefen nicht und meine Bar Mizwa blieb nicht ungestraft.

Geboren wurde ich am dritten Aw (der Monat Aw fällt nach dem gregorianischen Kalender gewöhnlich in den August).

Der neunte Aw ist für Juden ein Fastentag, der tragischste Tag im Jahr. An diesem Tag haben die Juden, die sich damals in der Wüste befanden, gesündigt und G´tt hat sein Urteil gefällt: keiner der erwachsenen Männer (außer zweien von ihnen), die aus Ägypten herausgegangen waren, wird das Land Erez Israel betreten, der Eintritt der Juden in das versprochene Land wurde um vierzig Jahre verschoben; in künftigen Zeiten wird genau an diesem Tag die Strafe umgesetzt, sollten die Juden eine Bestrafung verdient haben.

So war es dann auch im Verlauf unserer gesamten Geschichte: angefangen von der Zerstörung des ersten Tempels durch die Babylonier, des zweiten Tempels durch die Römer fast vierhundertneunzig Jahre später, bis hin zum Beginn der Zusammendrängung der Juden in Polen in den Ghettos während des Zweiten Weltkrieges. Aus diesem Grunde begehen viele Juden keine Feierlichkeiten zwischen dem ersten und dem neunten Aw und auch wir wollten es nicht.

Also wurde meine Bar Mizwa am sechzehnten Aw, dem nächsten Schabbat nach dem Fastentag, gefeiert.

Einige Tage später haben die Behörden vom Eigentümer des Hauses, in dem wir damals gewohnt haben, „den Überbestand an Wohnfläche“, wie man sich damals ausdrückte, beschlagnahmt. Mit Überbestand war, wie sich herausstellte, unsere Wohnung gemeint.

Und schon wieder saßen wir auf der Straße. Bald kommt der Herbst – und wir haben kein Dach über dem Kopf. Die Mutter arrangierte, dass sie bei einer russischen Witwe übernachtete, mich haben jüdische Bekannte zu sich genommen, den Vater hat auch jemand bei sich aufgenommen. Ich wusste oft überhaupt nicht, wo meine Eltern übernachteten.

Unsere ganzes Hab und Gut, darunter auch die Bücher, war im Hof der alten Wohnung geblieben, unter freiem Himmel, so, wie man es bei der Ausquartierung rausgeschmissen hatte. Und draußen regnete es. Der Vater besaß viele wertvolle Bücher, darunter auch seltene Handschriften. Ich habe eine ältere russische Frau aus einem der Nachbarhäuser (ich kannte sie gar nicht und hatte sie einfach auf der Straße gesehen) gebeten:

-Darf ich bei Ihnen für ein oder zwei Monate Bücher unterstellen?

Sie erklärte sich einverstanden.

Rosch Ha Schana, Jom Kippur und Sukkot gingen vorüber. Endlich fanden wir eine Wohnung und ich ging zu dieser Frau, um die Bücher abzuholen.

-Oj,- sagte sie.- Entschuldigung, es war kalt und ich habe sie zum Heizen genommen.

Sie hatte alle Bücher verbrannt.

Die Lage in der jüdischen Gemeinde war schrecklich: gläubige Menschen wussten nicht, wer von ihnen ein Denunziant ist. Und als Denunzianten haben sich manchmal Menschen entpuppt, von denen man es nie erwartet hätte. Eines Tages versammelte sich das Minjan zum Gebet, die Torarolle wurde herausgenommen, aber niemand von den Anwesenden entschloss sich zur Torarolle zu gehen und aus ihr vorzulesen (die Torarolle wird von einem Mitglied des Minjans vorgelesen, man nennt ihn „Baal kore“). Zwei der Anwesenden konnten aus der Torarolle vorlesen (das verlangt eine besondere Fähigkeit, denn die Tora ist ohne Vokalisierungszeichen geschrieben), sie fürchteten sich jedoch vor einer Denunzierung. Die Torarolle zu sehen und wie niemand es wagt hinzugehen und sie zu berühren, war sehr schwer. Ich war zum damaligen Zeitpunkt bereits dreizehn Jahre alt und ich bin nach vorne getreten. So habe ich zum ersten Mal im Leben für die Gemeinde aus der Tora vorgelesen.

Arbeit

Mit vierzehn Jahren habe ich zu arbeiten angefangen. Nach dem Gesetz sollten die Heranwachsenden einen verkürzten Arbeitstag von sechs Stunden und nicht von acht Stunden haben. Ich fand eine Stelle, wo man bereit war mich einzustellen, ohne dass ich am Samstag arbeiten musste. Dafür habe ich mich verpflichtet nicht von acht bis um zwei zu arbeiten, wie es eigentlich hätte sein sollen, sondern von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends, zwölf Stunden pro Tag und sechzig Stunden pro Woche statt sechsunddreißig. Ich habe mich bemüht bereits morgens um halb sieben in der Synagoge zu sein, habe gebetet, danach Gemara gelernt und ging danach zur Arbeit. Ich habe Primuskocher, Kerosinkocher, Grammophone und Fahrräder repariert. Das Handwerk hatte ich mir gründlich angeeignet und ich erledigte alle Arbeiten, die man mir auftrug: ich bin übrigens Schlosser der sechsten Qualifikationskategorie – das ist kein Scherz!

Aus dieser Zeit ist mir eine schreckliche Begebenheit in Erinnerung geblieben.

Drei Tage lang war ich nicht zur Arbeit erschienen: Rosh ha Shana war auf einen Donnerstag und Freitag gefallen und gleich danach war Samstag. Am Sonntag (wir arbeiteten auch Sonntags), als ich gerade losgehen wollte, sagte meine Mutter:

-Ich lass Dich nicht gehen.

Gewöhnlich hatte sie mich eher angetrieben, aber jetzt…

-Warum, Mama?

-Ich fühle es im Herzen, dass Du heute nicht gehen sollst.

Ich rechtfertigte mich:

-Ich bin drei Tage lang nicht dagewesen. Sie drohen auch so schon, einen rauszuschmeißen!

Aber Mama blieb dabei. Also bin ich zuhause geblieben. Und bin vor einem großen Unglück gerettet worden. Vielleicht sogar dem ums Leben kommen.

An diesem Tag war in der Werkstatt ein Feuer ausgebrochen.

Alles war abgebrannt: das Gebäude, die Geräte, die Dinge, die zur Reparatur gebracht worden waren. Ich aber hatte mehr Angst vor dem Vorarbeiter, als vor dem Feuer: ich fürchtete, dass ich meine Arbeit verliere. Hätte er mich in das Gebäude geschickt, das dann abgebrannt ist – ich hätte mich wohl nicht getraut ihm zu widersprechen…

Ich arbeitete drei Jahre lang in der Werkstatt, von 1931-34.

1934, nach dem Mord an Kirov, den Stalin selbst geplant hatte und den er dazu nutzte, um die Repressionen auszulösen, war es nicht mehr möglich, Samstags nicht zu arbeiten. Alle ringsumher entwickelten eine verzweifelte Wachsamkeit: jemand versuchte meine Eltern zu überreden, dass ich am Samstag arbeiten müsse, wollten klar machen, dass alles, was mir zuhause beigebracht wurde, nicht richtig war, dass rundherum ein neues Leben sprudelte und dass ich dem Althergebrachten nachhänge usw. Sie überredeten mich vier Wochen lang. Aber an all diesen vier Samstagen ging ich nicht zur Arbeit. Am Montag wurde mir dann gekündigt. Ich war damals siebzehn Jahre alt.

In dieser Zeit begannen in den großen Städten des Landes Kampagnen, bei denen man die Pässe kontrollierte.

Die Dokumente wurden eins nach dem anderen eingesammelt, zuerst vom Vater, dann von der Mutter. Sie nahmen sie – und dann „verloren“ sie sie. Uns wurde es, wie Sie sich vorstellen können, dadurch nicht ruhiger zumute. Als Ergebnis von der Überprüfung wurden viele aus Kasan ausgewiesen.

Diese „Nach-Kirov’sche“ Zeit war fürchterlich. In der Stadt wurde ständig hinter vorgehaltener Hand von Selbstmorden auf den Gleisen gesprochen. Aus Angst vor der Zukunft, aus Verzweiflung hatten sich die Menschen vor die Züge geworfen…

Solch schwere Zeiten wie damals, die die Juden im sowjetischen Russland durchmachen mussten, hatte es, mit Verlaub, bis dahin nie gegeben. Zur Zeit der Makkabäer hatten die Griechen „Gserot“ eingeführt (Erlasse, die die Beschneidung, das Einhalten des Schabbats, der jüdischen Feiertage und der Kaschrutgebote, das Lernen von Tora verboten – kurz gesagt, alles was im jüdischen Glauben als Gesetz vorgeschrieben wird), aber die Juden riefen nach drei Jahren zu einem Aufstand auf und siegten. In Russland hingegen dauerten die Verfolgungen mehr als siebzig Jahre lang an!

Aus anderen Ländern, in denen Juden verfolgt wurden, konnte man wenigstens noch entkommen.

Aus dem sowjetischen Russland gab es kein Entrinnen.

Übersetzung M. Vorobiev

Fortsetzung folgt ijH

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