Beginn des Selichot-Sagens

Datum: | Autor: Rav Chaim Grünfeld | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Selichot

„Die Stunde hat geschlagen,
es beginnt bald zu tagen,
steht auf Jiden – zum Selichot-Sagen…“

So hörte man einst in vielen Gemeinden den Schul-Schamesch singen, während er von Haus zu Haus eilte und an jedem Fensterladen klopfte. Ob Wind oder Regen, nichts störte ihn an der Ausübung seiner heiligen Pflicht, im frühen Morgengrauen seine Brüder und Schwestern für das Sagen der Selichot aufzuwecken.

Bald danach kamen sie von überall gelaufen, still und mit ernstem Gesicht, in warme Kleider eingehüllt. Gar mancher trug eine Laterne, um seinen Weg durch die finsteren und engen Ghettogassen zu finden. Schließlich waren alle, ob jung oder alt, Männer und Frauen, in ihrer kleinen, heimeligen, schwach beleuchteten Schul versammelt.

Ganze Gruppen scharten sich um die wenigen „Selichot-Exemplare“, die anderen begnügten sich damit, dem Vorbeter andächtig zuzuhören. Schließlich hüllte sich der Chasan in den Gemeinde-Tallit, der ehrwürdige Raw gab ihm mit einem freundlichen, doch von einem inneren Zittern gekennzeichneten Gesicht das Zeichen zum Beginn.

Nun begann der Chasan mit erhobener Stimme die Selichot:

Lecha Haschem haZedakaDein, o Herr, ist die Gerechtigkeit“ – um danach mit tränenerstickter Stimme fortzufahren – „weLanu Boschet haPanimunser aber, ist die Scham des Angesichts!“

***

לְךָ ה‘ הַצְּדָקָה וְלָנוּ בֹּשֶׁת הַפָּנִים.
מַה נִּתְאוֹנֵן וּמַה נֹּאמַר, מַה נְּדַבֵּר וּמַה נִּצְטַדָּק.
נַחְפְּשָׂה דְּרָכֵינוּ וְנַחְקֹרָה וְנָשׁוּבָה אֵלֶיךָ, כִּי יְמִינְךָ פְּשׁוּטָה לְקַבֵּל שָׁבִים.
לֹא בְחֶסֶד וְלֹא בְמַעֲשִׂים בָּאנוּ לְפָנֶיךָ, כְּדַלִּים וּכְרָשִׁים דָּפַקְנוּ דְּלָתֶיךָ.
דְּלָתֶיךָ דָּפַקְנוּ רַחוּם וְחַנּוּן, נָא אַל תְּשִׁיבֵנוּ רֵיקָם מִלְּפָנֶיךָ.
מִלְּפָנֶיךָ מַלְכֵּנוּ רֵיקָם אַל־תְּשִׁיבֵנוּ, כִּי אַתָּה שׁוֹמֵעַ תְּפִלָּה:

Genauso, mit diesem Passuk, werden seit Jahrhunderten die Selichot, unsere Bitten um „Vergebung“, ob nach Nussach Aschkenas oder Nussach Sefard, eingeleitet.

Wie bittet man jemandem um Verzeihung, gegen den man sich vergangen, ja sogar schwer versündigt hat?

Lassen sich dafür überhaupt passende Worte finden? Kann man denn mit bloßen Worten Geschehenes rückgängig machen? Umsomehr, wenn es sich um einen König handelt, und noch mehr, wenn es der „König alle Könige“ ist; unser Schöpfer und Vater, Der uns jeden Tag Seine unendliche Güte schenkt, sich um uns sorgt und uns mit allem Nötigen versorgt!

„Dir Haschem gehört die Gerechtigkeit“, nur Dir alleine, denn wir haben Unrechtes begangen, dass sich kaum wieder gut machen lässt, und deshalb „ist unser die Scham des Angesichts“. Nicht genug, dass wir gesündigt haben, wir schämen uns zutiefst, Dich überhaupt um Verzeihung zu bitten, denn „was können wir klagen, sagen oder sprechen und womit uns rechtfertigen?“

Was können wir dann tun?

„Unseren Wandel untersuchen und erforschen, und zurückkehren zu Dir; denn Deine Rechte ist ausgestreckt, um die Rückkehrenden aufzunehmen“.

Das alles wäre zwar schön und gut, wenn wir tatsächlich bereits Teschuwa gemacht hätten. Denn in diesem Fall hätten wir uns nicht mehr „so sehr“ schämen müssen. Du, Haschem, hättest uns mit offenen Armen empfangen und keine großen Fragen gestellt, wo wir so lange abwesend waren, was wir in der Zeit gemacht haben etc. Mit einem wissendem “Kopfnicken”, einem gütigen Blick und einem warmen Lächeln, wäre das Vergangene „wie weggewischt und nie dagewesen“, überhaupt nicht zur Sprache gekommen.

Leider aber ist es so, dass „ohne Frömmigkeit und gute Taten wir vor Dir erscheinen“, wir haben überhaupt nichts vorzuweisen, denn „wie Arme und Dürftige klopfen wir an Deiner Pforte“.

Was bleibt uns da anderes übrig?

Wir können uns nirgends anderswohin begeben, wir besitzen weder ein anderes Zuhause noch einen anderen Vater. Aus diesem Grunde wagen wir es dennoch an Deiner Tür zu klopfen, weil „Rachum weChanun“, wir uns auf Deine Barmherzigkeit und Gnade verlassen. Erbarme Dich unser, wie ein Vater sich selbst über sein widerspenstiges Kind erbarmt, falls dieses sich wieder an ihn wendet und bei Ihm Zuflucht, Schutz und Geborgenheit sucht. „Bitte, weise uns nicht leer von Dir hinweg“.

Und falls wir die Gunst verloren haben sollten, in dem Zustand in dem wir uns momentan befinden, für rechtmässige Söhne betrachtet zu werden, so bitten wir Dich: „Vor Dir, unser König, weisse uns nicht leer hinweg“, beachte Dich zumindest als unser gerechtes Oberhaupt, das die Bitten aller Seiner Untertanen erhört, „ki ata schomea Tefila“ – „denn Du erhörst ja das Gebet“!

Haben wir nun die passenden Worte „um Vergebung zu bitten“ gefunden?

Wir wissen es nicht! Wir laufen einfach hin zum Tor des Himmels und versuchen anzuklopfen, gerade so wie wir sind. Dort angekommen beginnen wir flehentlich zu bitten und aus reuigen Herzen zu weinen. Vielleicht wird uns dennoch Einlass gewährt…

„Owinu Malkejnu, ptach Scha’arej Schamajim liTfilatenu” – „Unser Vater, unser König, öffne doch die Tore des Himmels für unser Gebete”!

Und siehe, o Wunder, das Tor ist gar nicht zugesperrt! Blind wie wir waren, habe wir gar nicht bemerkt, dass die Türe sperrangelweit offen steht – weiter offen geht es gar nicht!

Ja, und jetzt, wie geht es weiter? Treten wir, nach so vielem Bangen, Bitten und Flehen nun ein, oder bleiben wir nur beim Eingang stehen?

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