Wochenabschnitt Re’eh – Das Geschenk der ‘Bracha’ und ‘Kelala’

Datum: | Autor: Rav Chaim Grünfeld | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Bracha

„Re’eh Anochi noten lifnechem haJom Bracha uKelala“ – „siehe, ich lege euch heute Segen und Fluch vor“ (11,26).

Die Tage des Elul werden immer mit dem Leinen der Parschat Re‘eh eingeleitet, die entweder am Schabbat „Mewarchim Chodesch Elul“ oder am Rosch Chodesch Elul geleint wird. Rabbi Awraham Jakov Friedmann sZl., der erste Rebbe von Sadagora, fand eine Andeutung hierzu im Wort Re’eh, das als Anfangsbuchstaben von „R’osch E’lul h’aJom“ – „heute ist der Beginn des Monats Elul“ – gedeutet werden kann.

In diesem Sinn kann auch der ganze Passuk gedeutet werden:

„Re’eh Anochi noten lifnechem haJom Bracha uKelala – siehe, ich lege euch heute Segen und Fluch vor“. Gemäss dem Sohar haKadosch wird mit der Bezeichnung „haJom“ – „heute“ der Tag des „Rosch haSchana“ gemeint, so wie es im Musaf-Gebet am Rosch haSchana heisst: „haJom harat Olam“ – „heute wurde die Welt erschaffen“. Demnach bezieht sich der Passuk auf Rosch haSchana, den Tag des Gerichts, weil jedem Menschen an diesem Tag die beiden Wege „Bracha uKelala” (Segen und Fluch) vorgelegt werden. Das über ihn verhängte Urteil hängt davon ab, auf welchem dieser Wege er im vergangenen Jahr wandelte, und für welchen er sich für das kommende Jahr entscheidet und sich dementsprechend vorbereitet.

Somit kann die bekannte Frage der Meforschim (Kommentatoren) beantwortet werden, weshalb denn der Passuk „Re’eh“ – „siehe“ in der Einzahlform sagt, danach aber bei „lifnechem“ – „vor euch“ die Mehrzahlform verwendet. Denn was die Wahl (‘Bechira’) zwischen den beiden Wegen und dem darauffolgenden Gericht angeht, sind alle Menschen auf der Welt gleich, jeder wird vor diese Wahl gestellt (‘lifnechem’) und muss sich entscheiden. Die Entscheidung selber aber ist jedem Einzelnen selbst überlassen – man muss sie ganz alleine treffen, danach handeln und dafür haften!

Eine weitere Frage ist, weshalb hier das Wort „noten“ – „geben“ verwendet wird, das eigentlich der Ausdruck für ein Geschenk ist und daher höchstens für das Geben der „Bracha“ passend scheint, nicht jedoch für die „Kelala“?

In den Sefarim haKedoschim wird dieser Passuk als wichtige Regel der Lebensauffassung und Anschauung aller Geschicke, die den Menschen täglich treffen, verstanden: „Re’eh“, siehe und verstehe, dass „Anochi“ – es G‘tt ist, Der „noten haJom“ – dir täglich alles gibt und macht, was dir als „Bracha“ oder „Kelala“ scheint.

Wer diese Lehre aus allen ihm geschehenen Dingen zu entnehmen versteht, der zieht auch aus der “Kelala“, aus den unangenehmen Seiten des Lebens, seinen Nutzen. Er begreift, dass ihm in seinem Leben nichts grundlos zustößt, denn es ist G’tt – Anochi – Der ihm dies gab und ihn damit beschenkte. Folglich geschieht dies zu seinem Gutem, er empfängt es daher mit Liebe und zieht daraus seine nötigen Lehren.

Im Midrasch wird zu diesem Passuk „Re’eh Anochi noten…” die Worte des Nawi Jirmijahu (Echa 3, 38) zitiert: „miPi Eljon lo Teze haRaot wehaTov“ – „von Oben kommt nichts Böses und Gutes herab“[1].

Worin besteht der Zusammenhang zwischen diesen Psukim?

Es scheint, dass der Midrasch die obige Frage beantworten möchte, wie man in unserem Passuk „Siehe, Ich gebe dir heute Segen oder Fluch“ das Wort „noten – geben“ bezüglich der „Kelala“ verwenden kann. Er beantwortet diese Ungereimtheit mit dem Grundsatz, dass der Mensch durch seine Taten selbst das Kommen des Guten oder dessen Gegenteil über sich verhängt und diese nicht unbedingt von Oben vorbestimmt sind, denn „von Oben kommt nichts Böses und Gutes herab“. Es ist der Mensch selber der über sich alles Gute und Böse bewirkt!

Es ist nicht nur der Fall, dass das Herunterkommen der „Bracha und Kelala“ von seinen Taten abhängt, es kommt auch auf den Menschen selbst an, wie er das Gute und Böse betrachtet und welchen Nutzen und Lehre er daraus zieht. Es liegt in seiner Hand, sie richtig anzuwenden, aus dem Schlechten Gutes zu machen oder umgekehrt – selbst das Gute in Schlechtes zu verwandeln.

„Re’eh“, siehe ein, dass „Anochi noten”, Ich euch nur dies gebe, was „Lifnechem haJom“, Tag für Tag vor euch liegt, was ihr selber mit euren eigenen Taten bewirkt und über euch verhängt. Ihr beschenkt euch sozusagen selber!

Daher achtet gut darauf, was ihr mit der Bracha und Kelala anrichtet, wie ihr damit umzugehen versteht und davon profitiert!

Dies ist auch der tiefere Sinn der Bracha „Baruch Dajan haEmet“ – „Gelobt sei der wahrhafte Richter“, womit uns Chasal verpflichteten, auch die uns schlecht erscheinenden Geschehnisse zu loben, denn „Chajaw Adam leWarech al haRa’ah keSchem scheMewarech al haTova“ – „ein Mensch ist verpflichtet G‘tt über das Schlechte zu loben, so wie er Ihn über das Gute lobt“[2].

Da „von Oben nichts Schlechtes herabkommt“[3], hat jede Sache, auch alles, das wir Menschen gewöhnlich als etwas Schlechtes einstufen, etwas Gutes und Nutzvolles an sich, für dessen Erhalt wir dankbar sein müssen. Weshalb aber haben Chasal für das Lob auf schlechte Ereignisse eine andere Bracha bestimmt, „Baruch Dajan haEmet”? Warum wird darüber nicht „Baruch haTov wehaMetiv“ – „der Gutes mit mir verrichtet“ gesprochen, genauso wie man den Erhalt guter Dinge und Nachrichten lobt?

Wir lernen daraus, dass Gutes, das in Form von Unheilvollem und Schlechtem gekleidet ist, zumindest seiner Verstellung wegen, nicht als hundertprozentig Gutes deklariert werden kann.

Wenn also, chalila (G’tt behüte), etwas Schlechtes geschieht, so hat der Ba’al Emuna einerseits zu glauben, dass diese Gesera „Gam su leTowah“ (auch zum Guten) ist, andererseits kann er dafür Hkb“H nicht mit „haTov wehaMetiv“ loben. Denn erstens glaubt nicht jedermann so richtig daran und seine Bracha käme womöglich einer Lüge zugleich. Zweitens ist die Verstellung des Guten in der Gestalt und Form des Schlechten nicht unbedingt lobenswert, denn diese Erscheinung ist eine Mahnung oder Forderung an diese Person, oder gar eine Strafe oder als Sühne gedacht, je nach Umstand, und hat mit den Taten des Menschen zu tun.

Stattdessen wird G’tt dafür als „wahrhafter Richter“ gelobt, Der sicher zu Recht entschieden hat, uns diese Prüfung oder Bestrafung aufzuerlegen. Unseren Chachamim sl. ging es bei der Verordnung dieser Bracha darum, dass wir Haschem auf jeden Fall loben, auch beim Geschehen einer Tragödie, nicht unbedingt nur über das darin enthaltene Gute, sondern auch über die Erkenntnis und das Begreifen, dass „Alles“ von Ihm – den wahren Richter – geführt und getätigt wird!

  1. Midrasch Dewarim Rabba 4,3 und Midrasch Tanchuma 3
  2. Mischna Berachot 54a
  3. Midrasch Bereschit Rabba 51,3

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