Schuschan haBira – eine Reise in die antike Metropole

Datum: | Autor: Rav Chaim Grünfeld | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Schuschan Habira

In diesem spannenden Artikel geht der Autor auf die geschichtlichen, geographischen und archäologischen Zusammenhänge der Geschehnisse in Schuschan ein – dem Ort, in welchem die in der Megilat Esther beschriebenen Geschehnisse abspielte.

Schuschan in Elam

Der älteste Sohn von „Schem ben Noach“ hiess Elam[1]. Nach der Mabul (Sintflut) im Jahr 1656 (2104 v.) besetzte er mit seinen Nachkommen ein im heutigen Westiran liegendes Gebiet. Sein Sohn „Kedorlaomer“ wurde später König des Landes „Elam“[2]. Elam lag östlich des Chidekel (Tigris) und grenzte im Norden an Aschur (Assyrien) und Modai (Medien), im Osten an Poras (Persien/Iran) und im Süden berührte es den Persischen Golf. Das Land wurde nicht nur nach dem Stammvater Elam genannt, sondem weil es höher als Medien lag[3].

Blütezeit von Elam

Seine Blütezeit erreichte Elam erst viele Jahre später. Nach dem Fall von Bawel (Babylon) im Jahr 3388 (-372 v.) durch den Mederkönig Darjowesch I. (Dareios), der sich mit seinem Schwiegersohn, dem Perserkönig Koresch (Kyros), verbündet hatte, wurden alle Reiche des fruchtbaren Halbmondes zu einem riesigen Königreich vereint.

Als Achaschwerosch (Xerxes) fünf Jahre später (3393/-367 v.) den Thron bestieg, verlegte er seine Residenz nach Schuschan, der Hauptstadt von Elam, und machte diese somit zum politischen, diplomatischen und administrativen Mittelpunkt des gesamten Königreiches, das 127 Länder/Provinzen umfasste. Schuschan wurde in hellenistischer Zeit „Susa“ genannt und ihre Reste liegen nahe der irakischen Grenze in der Provinz Khuzestan am Rande der heutigen Stadt „Schusch“. Schuschan/Susa ist somit eine der ältesten durchgehend besiedelten Städte der Welt.

Nah und westlich des alten Schuschan fliesst die 870 km lange „Karche“ (Karkheh/Chospes), die in der Antike berühmt war für die hohe Qualität seines ungewöhnlich süssen Wassers. Die antiken Geschichtsschreiber Herodot und Plinius, berichten vom persischen Großkönig Kyros (Koiresch), dass er nur Wasser aus diesem Fluss trinke und deshalb auf Feldzügen und Reisen stets viele silberne Fässer gefüllt mit gekochtem Choaspes-Wasser mitführe[4].

Drei Fernstraßen verbanden damals Schuschan mit den anderen antiken Großstädten Persepolis, Ekbatana und Babylon. Über die erwähnten Flüsse Karche und Tigris (Chidekel) konnte man zu Schiff den Persischen Golf erreichen, eine Route, die später Alexander der Große wählte.

Schuschan war die Winterresidenz der späteren Herrscher. Die Stadt war mit starken Mauern befestigt und hatte einen mit Wasser gefüllten Wehrgraben[5].

Schuschan und Schuschan haBira

In der „Megilat Esther“ steht (4,17): „Waja’awor Mordechai – und Mordechai schritt hinüber”. In der Gemara wird die Meinung von Schmuel zitiert, dass Mordechai über einen Wassergraben schritt, um die Jehudim Schuschans zu einem Ta’anit Zibur (öffentlichen Fasttag) zu versammeln[6].

Rabbi Zwi Elimelech Schapira sZl., der Raw von Dynóv und Verfasser des Sefer ‘Bne Jisachar‘ (gest. 5601/1841) schreibt dazu: „In verschiedenen Berichten [siehe weiter unten] wird von jüdischen Reisenden berichtet, die in Schuschan waren und einen Fluss/Kanal inmitten der Stadt sahen“[7].

Rabbi Jonathan Eibeschütz sZl. erklärt den Sachverhalt etwas ausführlicher: „Der Ibn Esra kommentiert zu Recht[8], dass es einen Unterschied zwischen dem in der Megila vorkommenden „Schuschan“ und „Schuschan haBira“ gibt, denn „Bira“ (acadisch „Birtu“, aramäisch „Birta“) meint eine Burg/Festung also den Palast des Königs. Dort wohnten keine Jehudim, nur Mordechai sass beim Tor des königlichen Palastes. Deshalb steht im Passuk (2,5): „Isch Jehudi haja beSchuschan haBira, uSchmo Mordechai” – Ein Mann, ein Jedudi, war in Schuschans Palast, und sein Name war Mordechai…“ Es gab dort also nur einen jüdischen Mann – Mordechai. Jedesmal wenn in der Megila vom Palast des Königs die Rede ist, steht „Schuschan haBira“, wenn die Stadt selbst gemeint ist, steht nur „Schuschan“[9].

Auch Rabenu Bachja lobt diese Erklärung des Ibn Esra und schreibt, dass dies die richtige und beste aller Erklärungen ist![10]

Der Fluss Ulai

„Das Gebiet der königlichen Residenz und die Stadt Schuschan“, schreibt Rabbi Eibeschütz weiter, „wurde von einem Fluss namens Ulai getrennt, wie aus dem Passuk (Daniel 8,2) zu entnehmen ist: „Ich sah in meiner Vision wie ich mich in der Hauptstadt Schuschan befand, die sich in der Provinz Elam befand, und ich sah mich am Uwal Ulai“[11].

Raschi und Ibn Esra deuten das Wort „Uwal“ mit Fluss/Strom abgeleitet von (Jeschaja 44,4) „Jiwle Majim“[12]. Demnach bezieht sich Daniel auf einen zweiten Strom, ausser der Karkheh, der ganz in der Nähe von Schuschan vorbeifloss. Die Forscher sind sich aber nicht einig darüber wie es sich mit diesem zweiten Strom verhält. Manche erklären, dass damit der Fluss Dez gemeint ist, der östlich von Schuschan vorbeifließt und von den Griechen Eulaeus (Ulai) genannt wurde.

Der Kanal

Andere hingegen vermuten, dass sich das Flussbett der Karche im Lauf der Zeit geändert hatte, und sie sich früher oberhalb der Stadt Schuschan in zwei Flussarme gabelte. Die „Ulai“ war also der östliche Zweig der Karche[13]. Manche gehen sogar einen Schritt weiter und erklären, dass der erwähnte „Eulaeus“ ein großer künstlicher Kanal war mit einer Breite von ungefähr 900 Metern. Von diesem Kanal sind noch Spuren vorhanden, obwohl er jetzt trocken ist[14].

Dies stimmt mit der Erklärung des Malbim überein, der ohne diesen Ort jemals besucht zu haben, eben dies vermutet hatte: „Es scheint, dass die persischen Könige einen Kanal gegraben haben, der das Wasser vom Fluss in die Hauptstadt leitete, so wie dies die Könige in Bawel zu tun pflegten“[15].

Vielleicht spricht deshalb Daniel von „Uwal Ulai“, das demgemäß „die Flussgabelung des Ulai“ bedeutet. Somit wäre nämlich klar, wieso er folgendes sagte (8,16): „Ich hörte eine menschliche Stimme zwischen des Ulai“. Raschi interpretiert es als „aus der Mitte des Flusses. Nach obiger Erklärung hörte Daniel die Stimme so, als ob sie aus der Mitte der beiden Flussarme kam.

Nach Reb Aaron Marcus sl. hingegen bedeutet „Uwal“ einfach die Brücke, mit der man vom Palast des Königs – also von Schuschan haBira – den Ulai überquerte, um in die Stadt Schuschan zu gelangen[16].

Ausgrabungen

Überhaupt muss in der Megilat Esther jedes Wort nicht nur symbolisch, sondern als exakte Beschreibung der damaligen Begebenheiten verstanden werden. Als 1851-2 der französische Archäologe Marcel Dieulafoy die ersten Ausgrabungen des antiken Schuschan leitete, grub er die Überreste des über 2000 Jahren alten Palastes von Achaschwerosch aus und verglich es mit den Angaben in der Megilat Esther. In seinem Buch stellt er äußerst überrascht fest: „Jamais plan d’édifice ne fut décrit avec plus de clarté!“ – Noch nie wurde ein Gebäudeplan mit größerer Klarheit beschrieben![17]

Jedenfalls stimmen die oben zitierten Erklärungen der Meforschim zu den unterschiedlichen Bezeichnungen von „Schuschan“ und „Schuschan haBira“, wie auch deren Trennung durch einen künstlichen Kanal/Wassergraben, mit den geschichtlichen Tatsachen, wie sie gemäss den Ausgrabungen belegt werden konnte[18].

Mordechai überschritt den Wassergraben

Nach diesen Erkenntnissen wenden wir uns wieder den zu Beginn zitierten Worten Schmuels zu. Nachdem Mordechai Esther über die furchtbare Gefahr, die über der gesamten Judenheit schwebte, informiert hatte, erklärte sie sich bereit, sich unaufgefordert zum König zu begeben, obwohl dies mit dem Tod bestraft werden konnte. Sie bat ihn aber, dass die Jehudim von Schuschan zuerst einen dreitägigen Fasttag begehen sollen. Darauf berichtet die Megila (4,17): „Waja’awor Mordechai… – Mordechai überschritt, und tat alles was ihm Esther aufgetragen hatte“. Der Passuk lässt uns aber im Ungewissen, was genau Mordechai überschritten hatte. Raschi zitiert hierzu die Ansicht von Raw in der Gemara, dass Mordechai mit der Anordnung eines Ta’anit Zibbur am Pessach das Gesetz der Tora übertrat[19].

Ein Wassergraben

Schmuel erklärt, dass Mordechai – „Arquma deMaja“ – einen Wassergraben überquerte. Dies ist schwer zu verstehen: a) Welche wichtige Information will uns die Megila an dieser Stelle mitteilen? b) Weshalb streitet sich Schmuel mit Raw, dessen Erklärung stimmt doch viel besser mit dem Wortlaut des Passuks überein?

Gemäss den obigen Ausführungen überschritt Mordechai den Wassergraben/Kanal, um sich vom Palast des Königs, vor dessen Tor er normalerweise sass, in die Stadt zu begeben. Es versteht sich von selbst, dass die Megila uns damit nicht einfach eine historische Information überliefern möchte und falls ja, so könnte sie dies auch an einer anderen Stelle festhalten. Vielmehr möchte sie uns damit mitteilen, dass Esther von Mordechai verlangte (4,16): „Geh und sammle alle in Schuschan wohnenden Jehudim ein, und fastet wegen mir drei Tage und drei Nächte…“ Esther wollte sich nicht damit begnügen, dass Mordechai einen Boten beauftragte, um einen dreitägigen Fasttag zu verhängen.

Sie wollte, dass er selber die Jehudim versammelte, damit sie die Wichtigkeit der Sache begreifen sollen.

Zudem versammelte sich Mordechai mit allen anderen im Bet haMidrasch, wo sie zusammen fasten, dawenen (beten) und Torah lernen. Tatsächlich fand ihn Haman haRascha, als er vom König den Befehl erhielt, den Mordechai in königliche Gewänder zu kleidern und in der ganzen Stadt herumzuführen, nicht wie üblich am Tor des Palastes vor, sondern im Bet haMidrasch wo er mit seinen Schülern die Halachot des an diesem Tag im Bet haMikdasch dargebrachten „Korban Omer lernte“[20].

Folglich streitet sich Schmuel gar nicht mit Raw über die Bedeutung des Wortes „Waja’awor“, sondern fügt lediglich eine weitere Erklärung hinzu. Der Passuk drückt sich absichtlich vage aus ohne genau zu erklären, was Mordechai „übertrat/überschritt“, damit man dieses „Überschreiten“ im doppelten Sinne deuten kann: Mordechai übertrat das Gesetz der Tora mit dem Verhängen eines Fasttags am Jom Tov Pessach, und überschritt den Graben, um den Fasttag nicht alleine in „Schuschan haBira“ zu verbringen, sondern begab sich zum Volk, um es selbstständig zu versammeln und mit ihnen zusammen zu dawenen.

Achdut

Manche fügen hinzu, dass es bei diesem Fasttag auch um das „Achdut“, um die Vereinigung selber ging, um die Worte Hamans zu widerlegen, der gegenüber Achaschwerosch behauptete (3,8): „Es gibt ein Volk, zerstreut und verteilt unter die Völker…“, die nicht zusammen vereint mit „Achdut“ leben. Deshalb verlangte Esther von Mordechai, dass sich jetzt unbedingt alle Jehudim der Stadt zusammen vereinen und er mit ihnen.

Eine andere interessante Erklärung gab Raw Schmuel Dawid Walkin sZl. (Raw der Stadt Lokacze und später in Queens) anhand den Worten von Chasal, dass ab dem Einzug Jisraels in Erez Jisrael die Newi’im (Propheten) ihre Newu’ah nur noch im heiligen Land erhalten konnte. In Chuz la’Arez hingegen erschien ihnen die g’ttliche Schechina nur bei einem reinen Ort am Wasser[21]. Aus diesem Grund begab sich der in Schuschan haBira lebende Daniel an den Fluss Ulai, um am Ufer des reinen Wassers Newuah zu erhalten. Vielleicht begab sich auch Mordechai aus diesem Grund vor dem Ta’anit Zibbur ans Ufer dieses Flusses, um dort „Ru’ach haKodesch“ zu empfangen, damit die Schechina während seiner Tefila auf ihn ruhe[22].

Schuschan Purim

Am 13. Adar durften sich die Jehudim offiziell gegen ihre Feinde wehren und sie töten. Sie brachten 500 Feinde um und hängten zehn Söhne Hamans auf, alles Anführer der Hetze gegen Juden. Als Achaschwerosch den detaillierten Rapport der Getöteten erhielt, fragte er Esther, was sie nun möchte. Sie sah die Gunst der Stunde und erbat sich noch einen Tag des Tötens (9,6-15). Warum?

Gemäss der oben ausgeführten Erklärung, dass mit „Schuschan haBira“ nur die Herrschaftsresidenz gemeint ist, erklärt der Malbim, dass wie im Passuk ersichtlich, die ersten 500 Feinde nur in „Schuschan haBira“ getötet wurden. Danach bat Esther, dass der König nun erlaube, auch einen Tag lang die Judenfeinde in „Schuschan“ selber zu töten. Zudem erbat sie sich Erlaubnis, die zehn Söhne Hamans einen Tag lang hängen zu lassen, damit ihre Feinde in Zukunft in Angst vor der Strafe leben[23].

Der Name „Schuschan“

Rabbi Schlomo haLevi Alkabez sZl. (Verfasser des ‚leCha Dodi‘) schreibt in seinem Klassiker „Manot haLevi“ zu Megilat Esther: „Ich habe in einem Sefer den Grund dafür gefunden, weshalb Achaschwerosch seine Residenz nach Schuschan verlegte, weil an diesem Ort viele Arten „Schoschanim“ (Rosen oder Lilien) wuchsen und dies ihm sehr gefiel. Andere erklären, dass eine „Schoschana“ das Wappen auf seiner Burg schmückte, und es daher „Schuschan haBira“ hieß – die ‚Burg der Schoschana‘.

Eine weitere Erklärung ist, dass mit „Schuschan“ Esther gemeint ist, die wie eine „Schoschana ben haChojchim – Rose unter den Dornen“[24] ist. Eine Zadeket, die sich zwischen den Rescha’im Achaschwerosch und Haman befand. Eine Andeutung dazu: אסתר hat denselben Zahlenwert wie שושנה“[25]. Demgemäß schreibt Rabbi Elasar Rokeach aus Mainz, dass die Burg/Stadt „Schuschan“ nach Esther benannt wurde, die [vom König oder den Leuten] als Rose bezeichnet wurde[26].

Mir scheint, dass sich alle drei Erklärungen vereinen lassen: Der Ort gefiel dem König den zahlreichen Rosen zuliebe so, dass er ihn als Sitz der Hauptstadt auserwählte. Später nach der Heirat mit Esther bezeichnete er seine Burg auch der Zadeket Esther wegen als „Burg der Rose“ und schmückte sie mit einer Schoschana.

Scha’ar Schuschan

Die Mischna berichtet, dass auf dem östlichen Tor des ‚Har haBajit‘ (Tempelberg) „Schuschan haBira“ abgebildet war und es daher „Scha’ar Schuschan” genannt wurde[27].

Die Meinungen der Rischonim sind geteilt, ob sich diese Abbildung auf der Wand des Tores selbst befunden hat[28] oder auf einem über dem Tor gelegenen Oberbau[29].

Unklar ist auch, wie diese Abbildung aussah. Manche erklären, dass ein Bild der Stadt Schuschan über dem Tor oder auf dem Oberbau hing, während laut anderen dort ein Miniaturmodell der Stadt gestanden haben soll[30].

Mir scheinen diese Auslegungen etwas weit hergeholt, denn wie oben ausgeführt, bedeutet „Schuschan haBira“ nicht die Stadt Schuschan, sondern der Palast des Königs. Demnach wurde nicht ein Bild oder Miniaturmodell der Stadt ausgestellt, sondern vielleicht die Zinnen der Wand über dem Osttor anstelle der gewöhnlichen eckigen Form, mit runden Kuppen und Zwiebeltürmen oder ähnlich dem Palast des Königs Achaschwerosch nachgebildet. Nach der Ansicht, die von einem Oberbau spricht, besass nur derjenige Teil der Wandzinne diese palastartige Form, der sich über diesem Oberbau befand, und nicht die gesamte Länge der östlichen Wand.

Dazu werden in der Gemara zwei Gründe angegeben:

a) Die aus dem persischen Exil zurückkehrenden Jehudim sollten sich daran erinnern woher sie kamen. Wie Raschi erklärt, sollten sie ihre Dankbarkeit gegenüber König Darjowesch (Dareios) II. nicht vergessen, der ihnen die Erlaubnis zum Aufbau des zweiten Bet haMikdasch (Tempel) erteilt hatte.

b) Darjowesch wollte die Jehudim täglich daran erinnern, dass sie auch weiterhin unter seiner Herrschaft standen und nicht gegen ihn rebellieren sollten[31].

Diese Gründe stellen uns aber vor einer grosse Frage: Das Scha’ar war also keine von den den Jehudim aus freien Stücken erbautes Mahnmal, sondern ein vom persischen König erzwungenes. Sei es nun, um die ihn gegenüber geschuldete Dankbarkeit aufrecht zu erhalten oder den Gedanken an eine Rebellion zu verhindern. Weshalb wurde es dann nicht gleich nach dem Tod des Königs und dem Niederfall der Perser, als Jisrael unter die Herrschaft von Alexander dem Großen kamen, abgerissen? Weshalb ließ man im Bet haMikdasch eine solch unangenehme Erinnerung für weitere 380 Jahre bestehen? Und noch mehr: Das zweite Bet haMikdasch wurde ja später von Herodes abgerissen und in einem viel größeren und schöneren Bau wiedererrichtet. Wozu ließ man dann wieder diese Erinnerung an Schuschan erstellen?

Dankbarkeit für die Wunder G’ttes

Rabenu Gerschom aber erklärt den erstgenannten Grund der Gemara, „dass sich die zurückkehrenden Jehudim daran erinnern sollen woher sie kamen“, dass damit die Wunder G’ttes gemeint sind, dank derer sie das Bet haMikdasch wieder errichten konnten. Diese Dankbarkeit wollte der Klall Jisrael ganz sicher aufrecht erhalten![32]

Gemäss unseren obigen Ausführungen, dass beim Scha’ar Schuschan nicht die ganze Stadt, sondern nur eine Erinnerung an „Schuschan haBira“ – an den Königspalast – abgebildet war, dürfte diese Erinnerung von den Jehudim auch mit einem liebevollen Blick betrachtet worden sein. Sie erinnerten sich nicht (nur) an den König Darjowesch, sondern vielmehr an die „Burg Schuschan“, an die „Königin Esther“, durch deren Verdienste und Aufopferung sie Hamans Bedrohung überlebt hatten und das Bet haMikdasch wieder aufbauen konnten. Deshalb wurde diese Erinnerung mit Sorgfalt erhalten und selbst beim Neuaufbau mit einbezogen.

Somit kann vielleicht auch der Grund erklärt werden, weshalb gerade das Osttor mit dieser Erinnerung geschmückt wurde, obwohl es nicht das Haupttor war. Manche erklären, weil Persien im Osten von Jeruschalajim liegt[33].

Har HaSeitim

Im Osten befand sich nämlich der „Har haSejtim“ (Ölberg) auf dem die „Parah Aduma“ (rote Kuh) verbrannt wurde, und der Kohen dabei das Blut genau in Richtung des Allerheiligsten spritzte. Sein Blick war dann genau auf das Scha’ar Schuschan gerichtet, dessen Mauer etwas niedriger war, damit er über diese Mauer bis zum „Hejchal“ (Hauptgebäude) schauen konnte. Das Scha’ar Schuschan diente also nur zu diesem einen Zweck, dass sich durch diesem Tor der Kohen und die zu verbrennende Kuh, mit allen Helfern zusammen, zum Har haSejtim begeben[34].

Durch das Verbrennen der „Parah Aduma“ wurde bekanntlich die Sünde des Egels (goldenes Kalb) gesühnt, und die auf das jüdische Volk lastende ‘Midat haDin‘ (g’ttliche Eigenschaft des strengen Gerichts) in ‘Midat haRachamim‘ (g’ttliche Eigenschaft der Gnade) umgewandelt[35]. Dies passt mit der Purimgeschichte zusammen und der Eigenschaft der „Schoschana“, wie sie im Sohar haKadosch erläutert wird: Die herrliche Blume mit ihren 13 Blättern (oder Blütenteile) symbolisieren die 13 Attribute des Erbarmens (13 Midot haRachamim), die von Dornen – der ‘Midat haDin‘ umrankt sind. Wie diese Blume, ist ‘Knesset Jisrael‘ manchmal weiss und manchmal rot, je nachdem welche ‘Mida‘ auf sie lastet[36]. Daher heißt es, als die Gesera von Haman aufgelöst wurde[37]: „Schoschanat Jakov zohala weSamecha – die Rose Jakovs ist fröhlich und erfreut“.

Alte Berichte über Besuche in Schuschan

Der bekannte Reisende Reb Binjamin aus Toledo besuchte die Stadt Schuschan zwischen den Jahren 4925-33 (1165-73) und schrieb darüber in seinem Reisebericht: „Vier Reisetage vom Grab von ‘Esra haSofer‘ befindet sich Khuzestan, dies ist das Land Elam, das jedoch nicht überall bewohnt ist. Dort befinden sich die Ruinen von Schuschan haBira, mit den Palastruinen des Königs Achaschwerosch. In dieser Gegend wohnen etwa 7000 Jehudim und es hat 14 Bate Knessiot. Vor einer der Synagogen steht das Kewer von Daniel[38]“. [Letzteres ist allerdings umstritten!]

Der Schaliach (Abgesandte) Rabbi Jakov, der vom berühmten Ba’al Tosfot Rabbi Jechiel von Paris hjD. im 13. Jahrhundert nach Bawel gesandt wurde, schreibt in seinem Bericht: „In Schuschan haBira befinden sich die Paläste (Ruinen) von Achaschwerosch, Esther und Haman. Zwei Reisetage von dort liegt das Grab von Daniel[39]. Von Schuschan haBira bis nach ‘Porat und Modai‘ (Persien und Medien) muss man 15 Tage reisen, bis man zum Kewer von Mordechai und Esther gelangt“[40].

Susa

Auch aus diesen Berichten geht eindeutig hervor, dass die heute unter den Namen „Susa” bekannte Ortschaft das ehemalige Schuschan war. Denn dort befinden sich der Fluss Ulai, das umstrittene Grab von Daniel und die Palastruinen von Achaschwerosch. Die Gräber von Mordechai und Esther hingegen liegen tatsächlich nicht in Schuschan, sondem eine weite Strecke davon entfernt – in der Stadt Hamadan[41].

Der Ort des antiken Schuschan ist seit dem 13. Jahrhundert ein verlassener Ort. Heute erstreckt sich das Gebiet der Ruinen über eine Fläche von 160 Hektaren, die grösste Ausdehnung der Stadt in historischer Zeit wird auf 700-900 ha geschätzt[42].

  1. Bereschit 10,22
  2. Bereschit 14,1
  3. Kesset haSofer (R‘ Aharon Marcus) zu Bereschit 10,22
  4. Herodot 1 Buch Kap. 188. – Weitere Quellen hierzu aus der Antike siehe in „Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste“ Band A-G S.61, Leipzig 1843.
  5. Archäologisches Bibel-Lexikon von Awraham Negev 1986/91 und Enzylopädia Mikra’it Bd7/S.613 im Artikel vom jüd. Archäologen Roman Ghirshman, der fast 30 Jahre lang im Iran lebte und die Geschichte der Stadt Susa rekonstruierte
  6. Megila 15a. Siehe femer auch Jeruschalmi Schekalim 1,3 zu Schmot 30.13
  7. Re‘ach Duda‘im zu Megila 15a
  8. Ibn Esra zu Esther 1,2 und 3,15
  9. Ja’arot Dwasch Bd2 Drusch 9/S.150. Siehe femer Einleitung des Sefer Sifse Chachamim zur Gemara Megila Kap.3 und Kizur Alschi“ch zu Esther 2,5
  10. Kad waKemach unter ‚Purim‘
  11. Ja’arot Dwasch ibid.
  12. So auch Resa“g (in seinem echten Kommentar, nicht im abgedruckten gefälschten Kommentar) und Mezudot zu Daniel 8,2.
  13.  Easton’s Bible Dictionary von Matthew George Easton (unter ‚Ulai‘, 1897)
  14. Das Buch Daniel von Samuel Rolles Fahrer (S.112, 1900)
  15. Malbim zu Daniel 8,3
  16. Kadmonijot (S. 183-186, Krakau 1896)
  17. Le livre d’Esther et le Palais d’Assuérus in Revue des Etudes Juives, Bd. XVI/S.265 und in seinem Werk L’Art antique de la Perse
  18. R‘ Reuven Margulies sl. in seinem einzigartigen Werk ‚haMikra wehaMessoret‘ Kap.8 und zuvor in ‚Ollelot‘ Ka.21, gemäss Dr. Sigmund Jampel in ‚Das Buch Esther in geschichtlicher Beleuchtung‘ (1906-7). Siehe auch ‚Pinuach Agadot‘ von Awraham Kurman (S. 214, Tel Aviv 5751)
  19. Die Meinungen gehen diesbezüglich auseinander ob man damals am Sederabend überhaupt keine Mazza und Maror ass oder nur die von der Tora aus verlangten „Kesejsim“, und es dennoch ein Affront gegen die „Simchat jom Tov“ war. Vergleiche Targum Esther zur Stelle.
  20. Megila 16a
  21. Mechilta Anfang Parschat Bo
  22. Chut schel Chessed zu Esther 4,17 von Raw Salmen Sorotzkin sZl., der Luzker Raw
  23. Malbim 9,13
  24. Schir haSchirim 2,2
  25. Manot haLevi Esther 1,2. Der Zahlenwert wird auch vom Arisa“l erwähnt (Scha’ar Ma’amare Raschb“i) und schon lange davor im Perusch des Rokeach zu Esther 1,2
  26. Rokeach zu Esther 1,2 und zu Schir haSchirim 2,2
  27. Mischna Midot 1,3 und Kelim 17,9
  28. Rambam und ‚Tosfot Ansche Schem‘ zu Kelim 17,9, und Aruch unter ‚Schuschan‘
  29. Raschi Menachot 98a, R’asch und Bartenura zu Kelim ibid. S.a. ausführlich in „haBajit haScheni beTif‘arta“ von Elchonon Eibeschütz (S.45, Jerus. 5756)
  30. Siehe z.B. in „Mar‘ot Chajim“ Bilder zu Mischnajot Kelim von J. Steinberg, Jerus. 5753 und „Zur‘at Bet haMikdasch haScheni“ von S. D. Steinberg Jerus. 5754
  31. Menachot 98a
  32. Siehe ausführlich in „haBajit haScheni beTif‘arta“ ibid.
  33. ibid.
  34. Mischna Midot 1,3
  35. Siehe Raschi Parschat Chukat (Bamidbar 19,22) u.a.
  36. Einleitung zum Sohar haKadosch
  37. Loblied, das am Purim nach dem Lesen der Megila gesagt wird.
  38. Ozar haMassaot (-Eisenstein) S. 36
  39. Hier ist also eine andere Ansicht über das richtige Grab von Daniel angegeben!
  40. ibid. S. 71
  41. Näheres dazu folgt sGw in einem anderen ausführlichen Artikel.
  42. Arcähologisches Bibel-Lexikon von Awraham Negev S.37 (1986/91)

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