Wert eines Ben Tora

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Sie stiegen aus der Untergrundbahn und mischten sich unter die Menge. Ganze Massen von Menschen bevölkerten die Strassen New Yorks, aber niemand achtete auf die beiden jüdisch aussehenden jungen Leute. Alle eilten ihren Zielen zu. Aus den Wolkenkratzern, den Hauptquartieren grosser Firmen, traten dauernd Menschen und ebenso viele gingen hinein. Die jungen Männer blickten nochmals auf die Adresse auf ihrem Zettel. „Hoffentlich wird es auch diesmal eine schöne Spende geben“, meinte der eine hoffnungsvoll zum anderen.

„So G“tt will werden wir keine Enttäuschung erleben“, antwortete dieser. „Jedes Jahr lässt er unserer Jeschiwa ansehnliche Geldsummen zukommen.“

Sie kamen in den westlichen Teil Manhattans. Sie gingen nun schneller, denn die Stille auf den einsamen Strassen lastete auf ihnen. Vor einer prunkvollen Villa hielten sie an. Sie war von hohen Bäumen umringt, deren Äste die Fenster des Gebäudes teilweise verdeckten. Das obere Stockwerk wurde vom Besitzer bewohnt, aber in den unteren Etagen befanden sich ausschliesslich Büros.

Reb Chaim und Reb Avraham betätigten einen Klingelknopf. Der laute Ton hallte aus dem Inneren des Gebäudes wider. Man sah durch die Fenster, wie sich hinter den dicken Vorhängen eine Gestalt erhob. Langsam öffnete sich das Tor. Es war David Silbermann höchstpersönlich, der sie hineinbat. Beeindruckt liessen sie ihre Blicke im vornehmen Büro umherschweifen.

Herr Silbermann setzte sich in seinen Ledersessel und bat die Meschulachim, ihm gegenüber Platz zu nehmen.

Wir kommen von der Jeschiwa ’Ner laOr’ in Erez Jisrael“, begann Reb Chaim. Er hielt kurz inne. „Die Jeschiwa befindet sich in einer sehr schwierigen Finanzlage.“

Herr Silbermann unterbrach Reb Chaim, noch bevor er zu Ende sprechen konnte: „Es tut mir leid, doch ist die wirtschaftliche Lage momentan auf der ganzen Welt sehr schlecht. Zahlreiche alteingesessene Firmen melden Konkurs an, sodass ich beschlossen habe, meine Beiträge für diese Zwecke in diesem Jahr drastisch zu kürzen.“

Es handelt sich aber um eine Jeschiwa, der Sie bisher jährlich grosse Summen gespendet haben“, versuchte Reb Avraham den Geschäftsmann zu erinnern.

Silbermann blieb unbewegt. „Ich gebe dieses Jahr so viel, wie ich kann“, erwiderte er kühl.

„Wie hoch würden Sie den Geldwert eines Ben Tora einschätzen?“ fragte Reb Chaim im Versuch, einen Weg zu finden, um dessen Herzen zu erreichen.

Die Methode wirkte! Herr Silbermann taute ein wenig auf und begann zu rechnen, als würde man ihm hierein Geschäft anbieten, dessen Wirtschaftlichkeit er berechnen musste. „Wieviele Bachurim lernen in eurer Jeschiwa?“ fragte er.

„Vierhundert, ken jirbu!“ antworteten die beiden überrascht.

Rasch holte Silbermann seinen Taschenrechner hervor, drückte darauf herum und murmelte: „Hundert Dollar geteilt durch 400, das macht einen Vierteldollar. – Ich bewerte einen Ben Tora mit einem Vierteldollar!“ rief er schliesslich triumphierend aus. Im Zimmer herrschte betroffenes Schweigen. Reb Chaim nahm schliesslich das Geld, das auf dem Tisch lag und erhob sich. Reb Avraham tat es ihm zögernd nach. Bedrückt gingen sie weg.

Silbermann schaute ihnen belustigt nach und konnte seine Genugtuung nicht verkneifen. Er schenkte sich ein Getränk ein und wiederholte mit einem verschmitzten Lächeln auf dem Gesicht: „Also das war gut, ein Ben Tora ist einen Vierteldollar wert, ha, ha, ha!“

Da tönte vom Fenster her ein merkwürdiges Geräusch. Noch bevor er wusste, was geschah, standen zwei maskierte Männer im Zimmer. Sein Herz stand beinahe still vor Schrecken, denn er wusste, dass diese Männer zu allem fähig waren, um an sein Geldzu gelangen.

Einer der Maskierten drückte ihn in einen Sessel, und der zweite begann damit, das ganze Zimmer auf den Kopf zu stellen. Immer nervöser wurden die Verbrecher und mit dem bisschen Vernunft, das Herrn Silbermann noch geblieben war, stellte er fest, dass sich seine Lage mit jeder Sekunde verschlimmerte. Der Räuber warf die schwere Schublade, die er in der Hand hielt, zur Erde, wo diese krachend zerbarst. „Ich brauche deine Hilfe!“ rief er seinem Kumpanen zu, der Silbermann bewachte. „Ich kann das Zimmer nicht alleine durchsuchen“. „Was soll ich mit ihm machen“, meinte der andere und zeigte auf Silbermann.

„Wieviel glaubst du, dass dieser Kerl wert ist?“ fragte er. Der andere dachte einen Augenblick nach und antwortete: „Ein Vierteldollar, nicht mehr!“ Ein gehässiges Lachen, das einem das Blut in den Adern gefrieren liess, begleitete diesen „Witz“.

Diese Worte kamen Herrn Silbermann bekannt vor, doch jetzt wurden sie von jemandem ausgesprochen, der nach seinem Leben trachtete. „Was immer man tut, kommt schliesslich auf einen zurück“, dachte Silbermann entsetzt und begann mit dem Widui.

Die Meschulachim waren von Herrn Silbermann weggegangen und liefen schweigend durch die stille Strasse. Nur ihre Schritte hallten von den Häuserwänden wider. „Alles ist vom Himmel beschert“, brach Reb Chaim das Schweigen.

„Aber vielleicht haben wir unsere Mission noch nicht beendet und müssen noch mehr unternehmen“, beharrte sein Freund. „Wir sollten uns nicht einfach so abspeisen lassen.“

„Du hast recht“, meinte Reb Chaim nachdenklich. „Wir sollten zurückgehen und noch einmal versuchen, mit ihm zu reden. Wir tun es für unsere Jeschiwa, die sich in einer sehr schweren Lage befindet. Da können wir doch nicht so schnell aufgeben.“

„Und der Mann ist ja nicht von Natur aus schlecht. Früher hat er die Jeschiwa sehr schön unterstützt. Ganz sicher wollte er nur einen Witz machen, und freut sich jetzt über seinen glänzenden Einfall.“

Also kehrten sie um! Im Gedanken legten sie sich bereits überzeugende Argumente bereit. Zuerst einmal wollten sie sagen, dass sie ihm keine Quittung ausgestellt hätten. Dann würden sie den Hausherm in ein Gespräch verwickeln, und schliesslich zu überzeugen wissen.

An der Haustüre klopfte es laut, dann klingelte die Glocke. Die Räuber erschraken und verliessen das Haus mit ihrer Beute durch das Fenster. Mühsam erhob sich Herr Silbermann von seinem Platz und öffnete die Türe. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, und sank erschöpft in den Sessel zurück. Die jungen Männer beeilten sich, ihm ein Glas Wasser zu reichen.

Silbermann war blass und zitterte am ganzen Körper. Er sah die Meschulachim ungläubig an und rief staunend aus: „G“tt sei Dank, ich lebe!“ Die Männer blickten sich erschrocken im Zimmer um. Es sah so aus, als habe sich hier bis vor wenigen Augenblicken noch eine Schlacht abgespielt. Nur langsam erholte sich Herr Silbermann. Er setzte sich an den Schreibtisch und zog sein Checkbuch aus der Tasche. Auf einen Check schrieb er eine fünfstellige Nummer. Die Männer blickten ungläubig vom Check auf den Mann und wieder zurück, dann dankten sie dem Mann und drückten seine Hand, die immer noch zitterte.

Silbermann wies den Dank aber zurück: „Man wollte mir nur beweisen, dass Bne Tora mehr wert sind als ein Vierteldollar!“

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