Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem über seine Schriften über die jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums von einem jüdischen Menschen vorzeigt, wurde von Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.
Fortsetzung
Elfter Abschnitt. Teil 2.
Schabbat: Fortsetzung
Dem Durchschnittsmenschen fällt es besonders schwer, sich mit seinem Geschäft nicht abzugeben und (am Schabbat) nicht einmal davon zu reden. Aber dies Verbot ist schon deutlich vom Propheten ausgesprochen worden: „Du sollst ihn (den Schabbat) heiligen, indem du nicht deinem Tagewerk nachgehst, nicht deine Geschäfte vornimmst und davon redest“ (Jeschaje 58,13). Die allgemeine Regel ist hier: Jede Arbeit, die am Schabbat verboten ist, um die darf man sich auch in anderer Weise nicht bemühen, von der darf man nicht reden. So haben die Alten es verboten, sich in seinem Geschäft umzusehen, wenn man dabei einen Anschlag machen will, was am folgenden Tage zu erledigen sei. Man darf nicht bis an die Schabbat-Grenze gehen, um gleich nach Nacht schneller abreisen zu können. Man darf nicht erklären: Das und das will ich morgen tun, diese Ware will ich morgen kaufen usw.
Zwischenschluss:
Bis jetzt haben wir von einem Teil der Gesetze gesprochen, mit denen es die meisten Menschen nicht so genau nehmen. Was von ihnen gesagt ist, gilt für alle anderen Verbote, denn es gibt keins, das nicht einzelne Nuancen hat von größerer und geringerer Bedeutung. Und wer lauter sein will, der muss rein und lauter in allen sein. „So fromm und unschuldig wie ein Lamm“, heisst es im Midrasch (Schir Haschirim Rabba zu 6,6), „zog Israel in den Kampf gegen Midjan. Keiner hatte die Tefillin auf den Kopf vor den Tefillin auf den Arm gelegt. Hätte es einer getan, dann hätte Moische sie nicht gerühmt, dann wären sie nicht wohlbehalten heimgekehrt.“ Und im Talmud Jeruschalmi: „Das Sprechen zwischen ישתבח und יוצר ist eine Sünde, und wer sie begangen hat, soll bei dem Aufruf vor der Schlacht heimkehren“. Das ist der beste Beweis, was es heisst: sorgsam und wirklich lauter in seinen Handlungen zu sein.
Midot – Charaktereigenschaften
Wie in den Handlungen, so muss man nun aber auch lauter in seinen Eigenschaften sein, und das Zweite ist vielleicht noch schwerer als das Erste. Denn die Natur hat größeren Einfluss auf die Charaktereigenschaften als auf die Handlungen. Die körperliche Beschaffenheit und die Anlage sind von großer Bedeutung, sei es fördernd, sei es störend. Ein Kampf aber, der gegen die Naturanlage ausgefochten werden muss, ist immer schwierig. Das wollen die Weisen mit dem Ausspruch sagen: „Wer ist ein Held? der seinen Trieb bezwingt!“ (Pirke Awot 4,1)
Es gibt nun eine Unzahl von Charaktereigenschaften. Jeder Betätigung des Menschen auf dieser Welt entspricht eine Eigenschaft, aus der sie eben fliesst. Aber ebenso wie wir bei den gebotenen und untersagten Handlungen nur die notwendigsten erwähnt, die, bei denen der Mensch am häufigsten der Sünde unterliegt, so wollen wir ausführlicher auch nur von den Haupteigenschaften reden, die uns am häufigsten begegnen.
Es sind: die Neigung zu Hochmut, Zorn, Neid und Sinnenlust.
Daß das alles schlimme Charaktereigenschaften sind, das ist so klar und offenbar, daß es keiner Beweise bedarf. Sie sind an und für sich schlimm und schlimm in ihren Folgen. Bei keiner ist ein Funken von Verstand, und jede für sich kann den Menschen in die schwersten Sünden stürzen.
Vor dem Hochmut warnt deutlich genug die Schrift: „Wenn du hochmütig wirst, dann wirst du den Ewigen, deinen Gott, vergessen.“ (Dewarim: 8,14) Von dem Zorn sagen die Weisen: „Wer zornig wird, kann dir als Götzendiener gelten.“ (Schabbat 105b) Vom Neid und der Sinnenlust steht ausdrücklich in der Mischnah: ‚.Neid, Sinnenlust und Ehrsucht bringen den Menschen von der Welt.” (Pirke Awot 4,21) Das ist alles, wie gesagt, selbstverständlich. Will man sich aber schützen, so muss man die Aufmerksamkeit nicht nur auf sie, sondern auch auf die feineren Nuancen richten. Sie alle sind in gleicher Weise „Ableger eines wilden Weinstocks.“ (Jeruschalmi 2,21) Gehen wir sie nun der Reihe nach durch!
Der Hochmut
Der Grundzug ist: Ich schlage meinen Wert bei mit selbst hoch an, ich denke bei mir: mir gebührt Preis und Ruhm. Diese hohe Selbsteinschätzung kann nun die verschiedensten Formen annehmen. Der eine dünkt sich klug, der Andere schön, der eine vornehm, der Andere bedeutend und wieder einer gelehrt. Kurz, wer da glaubt, in irgend einem von den schönen Dingen, die es hienieden gibt, etwas Besonderes zu sein, läuft sofort Gefahr, dem Hochmut zu verfallen.
Hat sich aber einmal bei Einem die Idee festgesetzt, daß er etwas Besonderes sei und ihm Ruhm gebühre, dann zeitigt diese Idee die absonderlichsten Blüten. Die eine Ursache bringt entgegengesetzte Wirkungen hervor, freilich laufen die Wirkungen letzten Endes auf dasselbe hinaus.
Bei dem Einen nimmt der Hochmut die folgende Gestalt an:
Da er – nach seiner Meinung – auf Anerkennung Anspruch machen kann und eine ganz besondere und ausgezeichnete Stellung einnimmt, so fühlt er sich auch verpflichtet, sich ein ganz besonderes, überaus vornehmes Wesen zuzulegen, in der Art, wie er sich erhebt, wie er redet, wie er seine Angelegenheiten verrichtet. Sein Gang ist gemessen, er macht die kleinsten Schritte. Er sitzt weit zurückgelehnt. Wenn er sich erhebt, geschieht das nur ganz allmählich in Schlangenwindungen. Nur die Angesehenen würdigt er einer Unterredung. Auch hier gibt er nur kurze Sätze von sich. Und in allem, was er tut, in seinen Bewegungen und Verrichtungen, wenn er isst oder trinkt, wenn er sich anzieht, benimmt er sich mit einer Schwerfälligkeit als wäre sein Fleisch aus Blei und seine Knochen aus Stein und Sand.
Ein Anderer wieder, der vom Hochmut befallen ist, glaubt, er müsse, weil er doch so viele Vorzüge besitzt und ihm Anerkennung gebührt, überall Schrecken verbreiten, daß Alle vor ihm zittern, denn es ziemt sich doch wahrhaftig nicht, daß ein gewöhnliches Menschenkind die Schranke durchbricht, um mit ihm zu reden und ihn um etwas zu bitten. Und wenn sie vermessen genug sind, bis zu ihm vorzudringen, dann schreckt er sie mit seiner Stimme, verwirrt sie mit dem Hauch seiner Lippen, mit harten Worten und finsterem Angesicht fährt er sie immer an.
Wieder ein Anderer glaubt, er sei so bedeutend und geachtet, daß die Ehre mit ihm untrennbar verknüpft und er über jede Ehrenbezeugung erhaben sei. Und um das recht augenfällig zu machen, benimmt er sich bescheiden, und in wahrer Selbstüberwindung legt er unendliche Demut und schrankenlose Bescheidenheit an den Tag, in seinem Herzen aber reckt sich der Hochmut empor, und er denkt: ich bin so gross, ich stehe so geachtet da, daß ich der Ehrenbezeugungen entraten kann, ich darf verzichten, ich habe genug davon.
Dann gibt es noch eine Spielart.
Der Betreffende möchte durch seine Tugenden hervorstechen und als ein ganz besonderes Muster in seinem Lebenswandel erscheinen. Er gibt sich nicht damit zufrieden, daß alle Welt die Vorzüge an ihm rühme, in deren Besitz er sich dünkt, er möchte gern auch den Ruhmestitel des allerbescheidensten Menschen. So Einer ist auf seine Bescheidenheit stolz, strebt nach Anerkennung und tut dabei, als ob er sie meide. Er lässt Leuten, die weit unter ihm stehen, die zur niedersten Klasse gehören, den Vorrang. Er will damit zeigen, wie furchtbar bescheiden er ist. Er hat keine Freude an irgend einem Attribut der Größe, er lehnt jede Erhöhung ab, und dabei denkt er bei sich: es gibt doch auf der weiten Welt keinen Menschen, der so gelehrt und dabei so bescheiden ist, wie ich. Freilich solche Leute zeigen sich für gewöhnlich bescheiden, aber manchmal geben sie sich doch eine Blöße, ihnen unbewusst tritt dann der Hochmut hervor, wie eine Flamme, die blitzartig hervorbricht. Unsere Weisen haben da ein Gleichnis: Ein Haus war voll Stroh und in dem Hause waren Löcher, in die das Stroh hineindrang. Allmählich kam das Stroh aus den Löchern heraus, und alle merkten, daß in dem Hause nur Stroh war. So ist das auch hiermit. Sie können sich doch nicht auf die Dauer verstellen, und ihre unedle Gesinnung leuchtet aus ihren Handlungen hervor. Es ist eben eine unechte Bescheidenheit und eingebildete Demut, die sie zur Schau tragen.
Endlich gibt es noch eine andere Spielart.
Der Hochmut ist bei ihnen tief im Inneren vergraben, sie äussern ihn nicht durch eine Handlung, aber denken bei sich, daß sie ganz besonders klug seien, Alles am besten wissen, und daß sie Keiner an Weisheit übertreffen könne. Daher achten sie niemals auf das, was ein Anderer sagt; was ihnen schwierig ist, das kann doch nicht einem Anderen leicht fallen, und was ihnen der eigene Verstand sagt, das leuchtet ihnen so sehr ein, das ist so einfach, daß sie das, was ihre Gegner sagen, gar nicht berücksichtigen, mögen diese unbedeutend oder bedeutend sein, ihre Meinung ist eben nicht in Zweifel zu ziehen.
Das alles sind Spielarten des Hochmuts, der selbst den Klugen zurückbringt, seinen Verstand betört, und dem Weisesten die Überlegung raubt. Nun gar, den Jüngern, die noch wenig vor sich gesehen, kaum daß sie die Augen geöffnet, halten sie sich für die Weisesten aller Weisen. Auf Alle geht das Wort: „Ein Greuel dem Herrn ist jeder Hochmütige.” (Mischleij: 16,5) Von allem diesen muss sich der freihalten, dem es ernst ist mit der Lauterkeit. Er muss sich zu Gemüte führen, daß der Hochmut eine Verblendung ist. Nur merkt selbst der Verständige oft nicht, daß ihm hier ein Mangel anhaftet und er minderwertig ist. Könnte er die Wahrheit sehen und erkennen, so würde er sich von all diesen bösen und schlimmen Wegen so fern wie möglich halten. – Weiteres darüber mit G-ttes Hilfe im Kapitel von der Demut. Sie kommt ja, weil es so schwer ist, sie zu erringen, in den Worten des R. Pinchas fast zuletzt.
Fortsetzung folgt sGw.
übersetzt von Dr. J. Wohlgemuth (1906)