In der Mischna bezeugt Rabban Schimon ben Gamliel: „Es hat in Jisrael keine solchen ‚Jamim Towim‘ gegeben wie den 15. Aw und Jom Kippur, an dem die Töchter Jisraels sich in die Weinberge begaben und einen Reigen tanzten….“[1].
Heutzutage hat der 15. Aw jedoch kaum einen Status als Jom Tov inne, selbst bezüglich des „Tachanun-Sagens“ sind die Meinungen geteilt[2]. Manche erklären damit den negativ formulierten Wortlaut der Mischna: „Es hat keine Jamim Towim gegeben“ – statt des positiven Ausdrucks: „Es hat Jamim Towim gegeben die grösser oder fröhlicher als alle anderen waren“.
Ferner muss bemerkt werden, dass die Mischna die Vergangenheitsform verwendet und nicht die Gegenwartsform. Deshalb entnehmen einige ‚Rischonim‘ daraus , dass dieser Jom Tov nur zur Zeit des Bet haMikdasch existierte[3]. Wie weiter ausgeführt wird, war dies aber nicht der Fall. Jedenfalls wird dieser Tag nicht wie einst in grossem Rahmen gefeiert. Dennoch schreibt Rabbi Mosche Ibn Machir sZl., der Verfasser des ‚Seder haJom‘ (gedr. Venedig 5359/1599), dass man sich an diesem Tag wenigstens etwas freuen solle, da an ihm Hkb“H unseren Väter viele Chassadim (Gnadendienste) erwies[4].
Auch der Chido und Ben Isch Chai sZl. erwähnen die Besonderheit dieses Tages selbst in der heutigen Zeit, da die Schechina dem Klall Jisrael dann näher stehe[5].
Wie in der Gemara ausgeführt wird, ist die Besonderheit und Freude am ‚Jom Kippur‘ leicht verständlich, denn an diesem Tag verzeiht Hkb“H alle Sünden – „Jom Selicha weKappara“ – so wie an ihm auch die Sünde des ‘Egel haSahaw’ (Goldenes Kalb) vergeben und Jisrael die zweiten ‚Luchot haBrit‘ (Bundestafeln) gegeben wurden[6]. Für die aussergewöhnliche Freude am 15. Aw geben Chasal sechs Gründe an, die nachstehend chronologisch aufgezählt und im Einzelnen erläutert werden:
1) der Tag, an dem das Sterben in der Wüste aufhörte – יום שכלו מתי מדבר
Am 15. Aw 2487, im vierzigsten Jahr der Wüstenwanderung der Bne Jisrael, hörte das Sterben auf. Nach dem traurigen Geschehnis der ‚Meraglim‘, war bestimmt worden, dass das Volk weitere 38 Jahre in der Wüste zu weilen hatte, bis die gesamte Generation, 600’000 Männer im Alter von 20-60 Jahren, gestorben waren. An jedem Tisch’a BeAw gruben sie sich ein Grab und legten sich darin schlafen, wobei jährlich über 15’000 von ihnen am Morgen nicht mehr aufstanden. Im letzten Jahr jedoch standen alle wieder am Morgen auf und glaubten daher sich im Datum geirrt zu haben. Also steigen sie während den nächsten fünf Nächten immer wieder in ihre Gräber zurück. Am 15. Aw sahen sie den Vollmond und hatten daher die Gewissheit, dass sie dem Tod entronnen waren. So wurde der 15. Tag zu einem Freudentag[7].
In der Gemara fasst Rabbi Jochanan diesen Grund in nur wenigen Worten zusammen: „An diesem Tag hörte das Sterben in der Wüste auf“. Als Beweis zitiert er die Worte von Mosche Rabenu (Dewarim 2,16-17) „Als die Kriegsleute aus dem Volk gestorben waren – da sprach Haschem zu mir“. Hieraus folgt, dass genau an diesem Tag die ‚Schechina G’ttes‘ zu Mosche zurückkehrte, die mit ihm in den Jahren zuvor kein Gespräch geführt hatte (ausser wenn es um praktische Anweisungen ging)[8].
Denn solange noch die sündige Generation lebte, war das ganze Volk in einer Art Bann (‚Cherem‘), und deshalb vermied es Hkb“H mit Mosche, dem Volksvertreter, zu sprechen[9]. Gemäss den Ba’ale haTosfot sprach Haschem nicht mit Mosche, weil in diesen Jahren das Volk in Trauer lebte und die ‚Schechina‘ nur über einen Nawi ruht, der fröhlich ist[10].
Es herrschen daher unterschiedliche Meinungen über den Grund der Freude gemäss der Ansicht von Rabbi Jochanan: Nach den einen, freute man sich auf die Auflösung der Gesera[11]. Diese Erklärung wird aber von anderen in Frage gestellt: Da bereits alle Männer gestorben waren, war die Gesera sowieso ausgelaufen. Worüber konnte man sich da freuen? Sie verstehen daher den Jom Tov aufgrund der erwähnten Rückkehr der Schechina[12]. Rabenu Tam erklärt aber, dass im letzten Jahr die Gesera völlig aufgehoben wurde. Die letzten 15’000 Männer durften am Leben bleiben und darauf basierte die Freude des gesamten Volkes[13].
Dennoch muss noch geklärt werden, weshalb überhaupt der 15. Aw als Freudentag erkoren wurde, die Gesera wurde doch bereits am Tisch’a beAw aufgehoben?
a) Manche der Ba’ale Tosfot möchten daher annehmen, dass auch im letzten Jahr einige Männer starben und die ‚Schechina‘ erst am 15. Aw zu Mosche zurückkehrte, nach Abschluss der sieben Trauertage, da sich die Schechina, wie erwähnt, nur in freudiger Stimmung offenbart.
b) Andere erklären es einfach anhand der allgemeinen Traurigkeit, die unter den Bne Jisrael herrschte, die ja noch bis zum 15. Aw unsicher waren, ob die Gesera bereits aufgehoben war oder nicht[14].
c) Rabenu Bachja verbindet beide erwähnte Gründe: „An diesem Tag freute sich ganz Jisrael: die Bne Jisrael wegen der Auflösung der Gesera und Mosche Rabenu wegen der Rückkehr der Schechina“[15].
Der Scha’agat Arje wundert sich sehr über die erwähnte Ungewissheit des Volkes vom 9. Aw bis zum 15. Aw und fragt: „Wie war es möglich, dass Mosche Rabenu und alle Gedole (Größen) Jisrael solche Zweifel hegten und sich sechs Tage lang über das richtige Datum unsicher waren?“[16]
Der Ben Isch Chai erklärt daher: „Mosche Rabenu und die damaligen Grossen der Generation kannten ganz sicher anhand ihrer Berechnungen das richtige Datum und hatten keine Zweifel, dass der 9. Aw bereits vorbei war. Die dem Tod geweihten Männer wollten ihnen aber zuerst nicht glauben, und fügten sich daher Nacht für Nacht ihrem erwarteten Schicksal, bis sie schliesslich die Wahrheit am 15. Aw mit eigenen Augen, anhand des Vollmonds, erkannten“[17].
Mir scheint jedoch, dass obwohl Mosche das genaue Datum offensichtlich kannte, hingegen in Bezug auf das Ende der ‚Gesera‘, auch bei ihm bis zum 15. Aw Unklarheit herrschte, ob diese nun tatsächlich aufgehoben oder nur aufgeschoben worden ist. Erst am 15. Aw, als die Schechina zu ihm zurückkehrte, erhielt er darüber Gewissheit. Deshalb formulierte Rabbi Jochanan seine Worte auf eine Weise, woraus zu entnehmen ist, dass die Freude Jisraels über das Ende des Sterbens in direktem Zusammenhang mit der Rückkehr der Schechina steht, denn diese Rückkehr bestätigte die Annahme des Volkes.
2) יום שהותרו השבטים לבוא זה בזה – der Tag, ab dem die gegenseitige Heirat über Stammesgrenzen hinaus erlaubt wurde
Seit Mosches Zeiten war es einer Tochter, die Land als Erbschaft zugesprochen bekam, wenn kein männlicher Erbe vorhanden war, nur erlaubt mit einem Mann aus ihrem eigenen Stamm zu heiraten, damit der Erbanteil Besitz des Stammes blieb. Nach der Besitznahme und Aufteilung von Erez Jisrael (2502), wurde dieses Verbot aufgehoben. Die ‚Skenim‘ (Ältesten) jener Generation zitierten hierzu Mosches Worte bei der Verkündung des Verbots (Bamidbar 36,6): „Se haDawar – dies ist die Sache, die G’tt den Töchtern von Zelafchad befohlen hat“. Alle mit „Se haDawar“ eingeleiteten Anordnungen sind in der Regel nur momentane Vorschriften und von zeitlich begrenzter Geltung. Folglich lehrten sie: „Diese Sache gilt nur in dieser Generation – das Geschlecht der Beteiligten an der Besitznahme des Landes – aber nicht für immer“[18].
Der Sinn dieses kurzzeitigen Verbots gibt der Ramban so zu verstehen: Damit blieb die Übersicht der Zugehörigkeit der einzelnen Landesteile bis nach erfolgter Besitznahme erhalten, damit die Landverteilung problemlos durchgeführt werden konnte[19].
Der Maharscho wundert sich daher, weshalb diese Erlaubnis als Grund zur Freude galt; es freute sich darüber ja nur derjenige Stamm, der wegen einer solchen Heirat durch den Erhalt weiterer Ländereien profitierte, während der verlusttragende Stamm wohl keineswegs froh darüber war. Er möchte daher annehmen, dass diesem Grunde zufolge, die Hauptfreude am 15. Aw nur den Töchtern Jisraels galt, die sich ab jetzt unbeschränkt mit jedem Stamm verheiraten konnten[20].
Nachdem jedoch die Mischna von einer in „ganz Jisrael“ herrschenden Freude spricht und diese nicht nur den Mädchen vorbehält, ist diese Antwort schwer zu verstehen.
Eine äusserst lehrreiche Antwort gibt Rabbi Jakov Friedman, der Husyatiner Rebbe sZl., anhand den Worten des ‚Or haChajim haKadosch‘, der den Passuk (Wajikra 19,18) „weAhawta leRe‘acha kamocha – du sollst deinen Nächsten wie dich selbst lieben“ so interpretiert: „Liebe deinen Nächsten so, bis du keinen Unterschied mehr zwischen ihn und dich verspürst – er ist nicht jemand anders, sondern ein Teil von dir selbst!“[21]
Als Jakov Awinu sich auf dem Berg Morija schlafen legte, legte er 12 Steine um sein Haupt, die im Midrasch mit den 12 Stämmen Jisraels verglichen werden[22]. Hkb“H fügte sie alle zu einem Stein zusammen und offenbarte somit Seinen Willen des „Achdut“ (Einheit) Jisraels, dass sie nur auf diese Weise ein Volk bilden. Als aber die Söhne von Menasche sich bei Mosche Rabenu darüber beklagten, dass bei der Heirat der Töchter von Zelafchad, die deren Landteil erbten, womöglich ihr Eigentum in den Besitz eines anderen Stammes übergehen würde, gab Mosche ihnen Recht und verhängte diesbezüglich ein zeitweiliges Verbot. Das Volk war damals noch nicht auf der hohen Madrega des echten „Achdut“ angelangt; folglich war es nötig, eine vorübergehende Massnahme zu ergreifen, um unnötigen Ärger, Neid und Streit zu vermeiden. Der nächsten Generation hingegen war dies einerlei: „Welchen Unterschied macht es, ob dieser Landteil meinem oder jenem Stamm gehört?“ Umgekehrt, es freute sie, dass es keine Beschränkungen und Grenzen mehr zwischen den Stämmen gab. Somit erübrigte sich das provisorische Verbot und die Erreichung eines solchen „Achdut“ war ein wahrer Grund zum Feiern![23]
Es muss jedoch noch geklärt werden, welcher Zusammenhang bestand zwischen dieser Freude und dem 15. Aw?
Manche möchten dies mit dem Sterben der Generation der Einwanderer nach Erez Jisrael erklären, die alle bis zum 15. Aw gestorben waren[24]. Dies ist allerdings eine etwas unzulängliche Erklärung, wie viele bemerken[25]. Nach anderen Meinungen, offenbarten die ‚Skenim‘ am 15. Aw (2502) diese von Mosche Rabenu überlieferte Drascha zur Aufhebung des Verbots, die bisher dem ‚Zibbur‘ (Allgemeinheit) nicht bekanntgegeben worden war[26].
Viele sind überhaupt der Ansicht, das diese Drascha nicht von Mosche überliefert worden war, sondern durch die ‚Skenim‘ selbst gelehrt wurde und zwar am 15. Aw[27].
Fortsetzung folgt
- Ta’anit 26b ↑
- Gemäss Schulchan Aruch O“Ch 131,6, Minhage Mahari“l, Sidur R“J Emden, Minhag Fürth, Frankfurt, Würzburg, Berlin, IRG Zürich, Amsterdam, Haag, Österreich, Polen u.a. wird kein Tachanun gesagt, während nach Rokeach 312 und Tanja Rabbati im Namen der Geonim Tachanun gesagt wird, wie dies auch der einstige Minhag Mainz und Worms war. – Die Gründe dieser unterschiedlichen Ansichten siehe unter §3. ↑
- Im Rokeach und Tanja Rabbati ibid. wird dies mit der Aufhebung aller in der Megilat Ta’anit aufgezählten Jamim Towim begründet, die nach der Zerstörung des Bet haMikdasch keine Gültigkeit mehr besitzen (ausser Purim und Chanuka). Andere hingegen verweisen auf die erwähnte Mischna und den Feierlichkeitsgründen, wie das Begräbnis der „Haruge Betar“ (der in der Festung Betar Getöteten), das nach dem Churban haBajit (Zerstörung des Tempels) stattfand. ↑
- Seder haJom ‚Injane Tu beAw‘ ↑
- Chid”o in Awodat haKodesch (More be’Ezba 242) und Ben Isch Chai Bd1/P. Dewarim gemäss Sohar Bd2/S.135a ↑
- Ta’anit 30b und Baba Batra 121a ↑
- Jeruschalmi Ende Ta’anit, Midrasch Echa Rabba Psicha 33 und Midrasch Schmuel Ende Kap.32 ↑
- Ta’anit und Baba Batra ibid. ↑
- Raschi Dewarum 2,16 gemäss Torat Kohanim ↑
- Tosfot Baba Batra 121a gemäss Schabbat 30b ↑
- Jeruschalmi, Midrasch Echa Rabba und Midrasch Schmuel ibid. ↑
- Rabenu Gerschom zu Ta’anit 30b und Raschbam zu Baba Batra 121a, die Ansicht Raschis in Ta’anit ist etwas unklar. Siehe hierzu auch Gewurot Ari zu Ta’anit 30b und Ja’arot Dewasch (Eibeschütz) Bd2/Drusch 4 ↑
- Rabenu Tam in Tosfot Baba Batra 121a ↑
- Tosfot ibid. ↑
- Rabenu Bachja Dewarim 2,16 ↑
- Gewurot Ari zu Ta’anit 30b ↑
- Ben Jehojoda zu Ta’anit 30b ↑
- Ta’anit und Baba Batra ibid. ↑
- Ramban zu Bamidbar 36,37 und siehe ferner Chumasch Hirsch zur Stelle. – Gemäss der Ansicht des Gaon Raw Jerucham Fischel Perlo sZl., wurde nur die Heirat mit einem anderen Stamm erlaubt, während der Erbbesitz nach wie vor nicht weggegeben werden durfte (Biur Hagri“p zum Sefer haMizwot des Raw Sa’adja Gaon Bd3/S.164a ↑
- Maharscho zu Baba Batra 121a ↑
- Or haChajim zu Schmot 39,32 ↑
- Midrasch Bereschit Rabba 68,11 ↑
- Ohole Jakov (Husyatin) Tu beAw 5698 ↑
- Raschbam zu Baba Batra 121a ↑
- Siehe ausführlich Gewurot Ari und Hagahot Rescha“sch zu Ta’anit 30b und Sfat Emet al haTora in Likutim zu ‚Tu beAw‘ ↑
- Tosfot Ri“d zu Baba Batra 121a ↑
-
Siehe in den erwähnten Quellen unter §25 ↑