Im Verdienst des Toralernens

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Toralernens

In Prag, der böhmischen Hauptstadt, lebte ein Jehudi, der seinen jüdischen Glauben verlassen hatte. Er hatte eine nichtjüdische Frau geheiratet, die ihm mehrere Kinder gebar. Von Beruf aus war er Stofffabrikant, und galt als Fachmann in seiner Branche. Sein Tagesablauf war immer derselbe: Er arbeitete den ganzen Tag, am Abend ging er nach Hause, in seine Villa, die er sich gebaut hatte, und nahm das Abendessen mit seiner Familie ein. Danach gingen sie alle bis auf ihn in die Stadt, wo sie‏י‎ sich bis Mitternacht amüsierten, er führte unterdessen seine Bücher,und las, bis sie zurück kamen.

Einst kam ein Talmid Chacham nach Prag. Als es dunkelte, befand er sich noch ausserhalb der Stadt, deren Tore bereits für die Nacht verriegelt waren.

Es war im Tewet, und starke Winde und Schneestürme senkten die winterlichen Temperaturen noch tiefer. Schneeflocken wirbelten, und die eisige Kälte bedrohte den Wanderer. Er blickte sich um und sah ausserhalb der Mauern ein Villenviertel. Er hoffte, dort vielleicht eine Unterkunft für die Nacht zu finden. Er ging auf das erste Haus zu, doch noch bevor er dieses erreicht hatte, wurde er ohnmächtig und fiel auf die Erde. Menschen, die gerade vorbei gingen und ihn fallen sahen, beeilten sich, ihn wiederzubeleben. Sie klopften an die Türe der nächsten Villa und baten den Besitzer, den erschöpften Mann doch aufzunehmen und ihn so vor dem sicheren Tod zu retten. Der Hausherr gab ihm ein Zimmer in seinem palastartigen Haus, in dem ein loderndes Feuer brannte und Wärme ausstrahlte. Danach ging der Hausherr wieder in sein eigenes Zimmer, und arbeitete noch eine Weile an seiner Buchhaltung.

Am Morgen stand der jüdische Gast auf, wusch seine Hände und öffnete sein Köfferchen.

Er entnahm ihm den Talit, zog ihn an, und begann, seine Tefilin zu legen. Genau in diesem Moment betrat der Hausherr sein Zimmer. Als er den Gast mit Talit und Tefilin bekleidet sah, rastete er aus. Plötzlich überkam ihn grenzenlose Wut, er warf sich auf den Gast und zerrte ihm den Talit Von den Schultern. Dann riss er ihm die Tefilin vom Kopf und warf sie auf den Boden, während er ununterbrochen spottete. Seine Lippen bebten vor Zorn, und er schlug wild auf ihn ein: schmählicher Jude!”

Mit jedem Schritt schob er ihn weiter hinaus. Mit großer Mühe gelang es dem Talmid Chacham, kriechend seinen Talit und seine Tefilin einzusammeln und das Gepäck in die Hand zu nehmen, aber die Schläge hörten erst auf, als sie auf der Straße angekommen waren. Da wandte sich der so schmählich Behandelte an seinen Verfolger und fragte: “Gestatte mir eine Frage?” Der Angesprochene erwiderte schroff: „Beeile dich, frag schon!”

Dieser sagte: “Weshalb hast Du mich mit solch ungezügelter Wut verfolgt, ich bin doch Dein Volksgenosse!”

Der Mann wurde rot und wutentbrannt: “was, ich soll ein Jude sein?”

Überzeugt betonte der Talmid Chacham: “Ja, daran habe ich keine Zweifel.”

“Und was bringt Dich zu diesem Schluss?”

Darauf antwortete er: “Deine Grausamkeit. Nur ein “Jehudi Mumar”, ein abtrünniger Jehudi, kann sich so grausam benehmen!”

Überrascht meinte der reiche Mann: “Grausam? Du bist undankbar. Hast Du denn bereits vergessen, dass ich Dir gestern das Leben gerettet habe?”

“Aber nur, weil Du gedacht hast, dass ich ein Nichtjude bin. Wenn du geahnt hättest, dass ich aus Deinem Volk stamme, hättest Du mich in der eisigen Kälte erfrieren lassen! Und jetzt sage mir,” was haben Dir Deine jüdischen Brüder angetan, dass Du sie so verfolgst?”

Langsam kamen sie ins Gespräch, bis der reiche Mann sich entschuldigte und den Talmid Chacham wieder in sein Haus führte.

“Ich weiss, dass die Schwierigkeiten des Galut schuld daran sind, dass du das Gute mit dem Bösen vertauscht hast,” meinte der Raw. “Du hast nicht genügend Kraft gehabt, mit Deinen Brüdern im engen Getto zu leben und ihre Armut zu ertragen. Doch könntest ‏Du nicht im türkischen Reich leben, und es Dir im Schatten des ‘Malchut schel Chesed’ des Sultans wohlergehen lassen? Dort könntest du ungestört ein religiöses Leben führen, in allem Luxus.”

Der reiche Mann erwiderte: “Du hast recht, dass ich nicht genug Willensstärke habe, die Armut der Jehudim und ihre engen Lebensverhältnisse zu ertragen, aber ich habe auch nicht die Kraft, ‎die Beschränkungen der Mizwot zu akzeptieren, die Beachtung der ‎Speisegesetze, die Schabbatruhe und die Feiertage. Deshalb nützt‏‎es gar nichts, wenn ich in die Türkei fliehe. Die Tora ist überall‏‎dieselbe”.‏

Der Chacham erwiderte: “Wenn dem so ist, habe ich einen Vorschlag. Es gibt eine Mizwa, die allen anderen Mizwot entspricht. Nimm sie auf Dich!”

“Von welcher Mizwa sprichst Du?” fragte der Mann etwas ängstlich.

“Lerne eine Stunde täglich Tora.”

“Aber ich kann nicht lernen!”

“Dem kann abgeholfen werden. Bringe jemanden hierher, der mit Dir lernen wird.”

Ungläubig fragte der Mann: “Sprichst du die Wahrheit? Dann schwöre mir, dass ich mit dieser Kleinigkeit ein echter Jehudi sein werde, und dass nichts weiteres von mir verlangt wird!”

Der Talmid Chacham gab ihm sein Versprechen.

“Also, dann höre gut zu. Jeden Abend nach dem Nachtessen gehen meine Frau und Kinder in die Stadt, um sich zu amüsieren. Ich bleibe jeweils zu Hause und arbeite an meiner Buchhaltung. Komm um zehn Uhr abends hierher, lerne mit mir bis um elf Uhr, und ich werde Dich belohnen.”

Der Chacham erwiderte: “Ich werde von Dir nichts annehmen,sondern ohne Entgelt mit dir lernen. Ich werde jeden Abend kommen bis Du soweit bist, dass du alleine lernen kannst, und mich nicht weiter benötigst.”

Am Abend kam er zurück, der reiche Mann wartete bereits auf ihn. Sie schlossen sich in ein Zimmer ein, und der Chacham nahmeinen Sidur aus seiner Tasche und lehrte den Reichen das Kriat Schma. Wort für Wort – und dessen Bedeutung. So lernten sie eineS tunde miteinander. Der reiche Mann gab ihm einen Schlüssel zum kleinen Eingang, der sich neben dem großen Tor in der Mauer befand.

So ging es ein ganzes Jahr weiter. Nach Ablauf des Jahres bat der Talmid Chacham um einen zweimonatigen Urlaub, um nach Hause zu fahren, dann werde er wieder zurückkehren und weiter mit ihm lernen.

Nach Ablauf der Zwei Monate kehrte der Raw nach Prag zurück. Sobald es Abend wurde, machte er sich auf den Weg zur Villa des Reichen. Er klopfte an, aber ein Nichtjude öffnete die Türe. Er fragte nach dem Hausherrn, worauf der Mann erwiderte: “Der frühere Hausherr sitzt im Gefängnis, seine Frau und Kinder sind weggezogen. Sie fuhren nach Berlin und vermieteten mir die Villa.”

Der Talmid Chacham erschrak sehr und fragte: “Weshalb sitzt er im Gefängnis? Und weshalb sind seine Frau und Kinder weggefahren?”

Doch der Fremde konnte ihm nicht helfen. Er war einen Monat vorher in die Gegend gezogen und wusste nichts weiteres.

Der Talmid Chacham ging in die Stadt und wollte der Sache nachgehen. Er erfuhr, dass der Reiche begonnen hatte, im Geheimen Mizwot zu beachten, doch hatten seine Frau und Kinder davon erfahren. Sie stritten sich mit ihm, und er habe sich tätlich an ihnen vergriffen. Sie hätten dies prompt der Regierung gemeldet, die ihn kurzerhand einsperren ließ. Nach einigen Tagen sei es ihm jedoch gelungen, aus dem Gefängnis u entkommen, und nach Berlin zu gelangen. Seine Frau und Kinder seien ihm dorthin gefolgt.

Der Chacham war sehr traurig, als er dies vernahm.

Nach drei Monaten erhielt er einen Brief des reichen Mannes. Er gab ihm bekannt, dass er in Konstantinopel in der Türkei lebe, und dort offen Tora und Mizwot halte. Auch habe er den grössten Teil seines Vermögens retten können. Sollte der Raw bereit sein, dorthin zu kommen, würde er ihn in grossen Ehren halten. Da der Talmid Chacham sehr arm war, nahm er die Einladung des Reichen an und machte sich auf den Weg in die Türkei. Der reiche Mann hieß ihn herzlich willkommen und behandelte ihn mit grossem Respekt.

“Ein halbes Jahr nachdem ich mit Toralernen begonnen hatte, wurde der jüdische Funke in mir wieder wach. Ich begann zu überlegen, wie ich mich von meiner Frau trennen und in die Türkei fliehen kann. In aller Stille, ohne Verdacht zu erwecken, begann ich, mein Vermögen zu Bargeld zu machen, und ließ den Erlös in den Händen eines treuen Jehudi. Auch begann ich, frühmorgens aufzustehen und in den Holzspeicher zu gehen, und betete dort im Stillen mit Talit und Tefilin. Ich hatte keine Ahnung, dass meine Frau Verdacht schöpfte, und mir nachspürte. Eines Tages fand sie mich inmitten des Gebets. Sofort begann sie zu schreien: “Wehe uns, mein Mann ist ein Jude geworden!”

Ich erwiderte ihr: “Nein, Du irrst Dich, ich bin nicht Jude geworden, ich war immer schon Jude gewesen. Ich bin Jude, und möchte meine Ehe mit dir beenden!”

Vor Wut ergriff sie einen Holzbalken und rannte auf mich zu. Ich ergriff einen Ast, der in meiner Nähe lag, und kam ihr zuvor. Ihr Geschrei ließ die andern Menschen im Haus aufschrecken. Ich sah, dass mein Geheimnis gelüftet war, und floh sofort in den nahen Wald. Dort zog ich meine Tefilin aus und ging den ganzen Tag und die ganze Nacht. So wanderte ich von Stadt zu Stadt und Haschem hat mich von meinen Verfolgern gerettet.”

“Das heisst, Du bist gar nicht gefangen gewesen?”

“Nein, überhaupt nicht, dies sind böse Verleumdungen. Haschem hat mir geholfen, bis ich hierher nach Kuschta kam. Und auch hier erlebte ich eine Haschgacha Pratit. An dem Tag, als ich ankam, starb der Fabrikationsleiter einer der größten Stoffabriken in der Stadt, in der Tausende von Menschen arbeiteten, darunter auch viele Jehudim. Die Stadt war in Aufruhr, denn grosser Schaden drohte, bis man einen anderen Experten finden würde. Ich sagte gleich, dass ich ein Fachmann bin und bereit, ihnen meine Dienste zur Verfügung zu stellen, natürlich gegen entsprechende Entlohnung. Aber ich stellte zwei Bedingungen: alle Arbeit in der Fabrik müsse am Schabbat und an den jüdischen Feiertagen ruhen, und es dürften dort keine Jehudim arbeiten, die nicht Tora und Mizwot beachteten. Man akzeptierte meine Bedingungen und begann schnell die Früchte meiner Arbeit zu sehen, da die Qualität der Stoffe stieg schnell. Dann gelang es dem Jehudi, dem ich mein Vermögen anvertraut hatte, mir die gesamte Summe zu schicken. Ich bin nun mit großem Reichtum gesegnet – und bin meinem G‘tt und meinem Volk treu, und alles im Sechut des Limud Tora – des Toralernens, nur einer einzigen Stunde Tora im Tag!”

Mit freundlicher Genehmigung des DJZ Verlags  

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