nacherzählt von R’ Menachem Grünwald
Eine Begebenheit aus dem Weltkrieg mit dem Bluschever Rebben, Raw Jisroel Spiro, laut einem Gespräch mit dem Rebben vom 12 Ijar 5736 (12. Mai 1976).
Der Rebbe stammte vom Verfasser des “Bnei Jissas’chor” ab. Sein Großvater gründete die Bluschewer Chassidut. Er war nach dem Krieg der einzige Überlebende der ganzen Familie, heiratete nachher noch einmal, und verschied in New York erst im Alter von über 100 Jahren.
“Ich möchte Euch die Geschichte von einem Kuss erzählen”, sagte der Bluschewer Rebbe.
“Manchmal kann ein Kuss einen Mensch mehr aufrütteln als ein Schlag ins Gesicht.”
Im Lemberger Ghetto, wo ich zu Beginn des 2. Weltkriegs lebte, konnte ich nach grossen Bemühungen einen südamerikanischen Pass erwerben. Lemberg war 1941 bis 1944 von den Nazis (ihr Name soll ausgelöscht werden!) besetzt, die den größten Teil der jüdischen Bevölkerung umbrachten. Juden mit ausländischen Pässen hatten jedoch Sonderrechte und wurden manchmal verschont. In diesem Pass war auch meine Rebbezen o“h, und ein kleines Kind, unser Enkelkind, eingetragen.
Als ich den Pass endlich in den Händen hielt, war es aber bereits zu spät. Es gab keine Rebbezen mehr, auch keine Tochter, keinen Schwiegersohn und kein Enkelkind. Sie alle waren schon von den Nazis (ihr Name soll ausgelöscht werden!) verschleppt worden. Ich erkannte, dass ich nun mit diesem Pass die Chance hatte, ein anderes Kind zu retten. Als dies in der Stadt bekannt wurde, kamen vierzig Eltern mit ihren kleinen Kindern, weinende kleine Knaben, die bettelten, gerettet zu werden. Alle versprachen, immer lieb zu sein und mir in diesen schweren Zeiten nicht zur Last zu fallen. Wie konnte ich mich anmaßen, über Leben und Tod zu entscheiden? Ich schickte alle weg und bat die Ghetto-Verwaltung, dass sie einen Knaben für mich auswählen.
Zwei Tage später kam ein Vater mit seinem 6-jährigen Sohn.
„Ich heisse Perlberger“, stellte er sich vor. „Rebbe, ich gebe Euch mein Kind. Haschem helfe Euch, meinen Sohn, mein einziges Kind, zu retten.“ Er bückte sich, küsste das Kind auf den Kopf und sagte: „Schrage, von diesem Augenblick an ist dieser Jid hier dein Vater.“
Diesen Kuss kann ich nie vergessen, er begleitet mich mein ganzes Leben. Bevor er die Türe hinter sich zuzog, warf er noch einen letzten liebenden Blick auf seinen Sohn. Dann hörte man nur noch die Schritte, wie er sich die Treppen hinunterschleppte.
Wenige Tage später brachten uns die Nazis von Lemberg nach dem KZ Bergen-Belsen, wo wir eine spezielle Baracke für Juden mit ausländischen Pässen „bewohnten“. Unterwegs gab es eine Kontrolle. Ein GESTAPO-Mann (GEheime STAats-POlizei) prüfte den Pass, und schaute sich den Jungen verwundert an. Offenbar wunderte er sich, dass ein Mann in meinem Alter (ich war damals knapp 60 Jahre alt, und sah noch älter aus) ein so junges Kind hatte. Er fragte das Kind mit einem freundlichen Lächeln: „Sag mir die Wahrheit, wer ist dieser alte Mann an deiner Seite?“ Schrage schaute mich mit grossen, liebenden Kinderaugen an, ergriff meine Hand und antwortete dem Gestapo-Mann: „Mein Vater !“
Haschem hat uns geholfen.
Wir haben beide die schreckliche Zeit überlebt. Und ich habe mit Schrage – sogar im Lager – jeden einzelnen Tag Toire gelernt. Mit G“ttes Hilfe wurden wir am Rosch Choidesch Ijar 5705 (14. April 1945) von der amerikanischen Armee befreit.
Nach dem Krieg gingen wir für kurze Zeit nach Belgien, und ich liess Schrage von dort nach Erez Jisroel weiterreisen. Er lernte zuerst in der Gerer Talmud Toire, und nachher in der Gerer Jeschiwe. Er wurde ein sehr feiner Bocher, hatte Erfolg im Lernen und war bei allen beliebt.
Auch Schrages Vater, Herr Perlberger, hatte den Krieg überlebt.
Er hatte sich zwei Jahre lang auf dem Bauerngut einer nichtjüdischen Familie in verschiedenen Höhlen und Kellern versteckt. Als er befreit wurde, war er vom ungesunden Leben und von den Leiden des Krieges ein kranker, gebrochener Mann. Er machte sich sofort auf die Suche nach seinem einzigen Sohn. Als man ihm erzählte, ich sei mit ihm in Belgien, reiste er von Polen nach Belgien. Als er dort ankam, war ich aber bereits nach Amerika weitergereist, und sein Sohn nach Erez Jisroel. Also reiste er weiter nach Erez Jisroel.
Man konnte damals, wegen der britischen Blockade, nur illegal nach Erez Jisroel einreisen. Das heißt, auf hoher See vom Schiff in ein kleines Boot umsteigen, was sogar für junge Leute sehr gefährlich war und nicht selten tödlich endete. Als er es endlich geschafft hatte, seinen Fuss auf die Erde von Erez Jisroel zu setzen, war er bereits ein schwerkranker Mann, der nur nicht mehr lange zu leben zu hatte. Er sah seinen Sohn ein einziges Mal, vergewisserte sich, dass er wirklich noch am Leben war, und dass es ihm gut ging. Kurz danach starb er. Man erzählte mir, dass er mit einem friedlichen Lächeln verschied.
All die Jahre blieb ich in Kontakt mit Schrage und interessierte mich für die Fortschritte in seiner Erziehung.
Als ich nach dem Krieg nochmals heiratete, brachte die jetzige Rebbezen zwei Kinder aus ihrer ersten Ehe mit. Schrage war sozusagen mein dritter Sohn, ich liebte ihn nicht weniger als Zwi und Jizchok. Jahre später heiratete Schrage ein sehr feines Mädchen, und ließ sich in London nieder. Ihr Heim wurde bekannt als ein Ort von Tora und Chassidut.
Vor ein paar Jahren kam Schrage auf Besuch zu mir nach New York, zusammen mit seiner Frau und drei Töchtern. Als wir uns verabschiedeten, sagte er: „Rebbe-Tate (so nannte er mich immer), ich wünschte, wir hätten einen Sohn, damit ich ihm den Namen meines Vaters geben kann.“ Ich antwortete: „Schrage, du wirst einen Sohn haben, und ich werde mit G-ttes Hilfe als Sandak zum Bris kommen.“
Ein Jahr später erhielt ich einen Telefonanruf aus London. Ich hörte Schrages Stimme: „Meine Frau hat gerade einem Jungen das Leben geschenkt.“ Dann war es einige Augenblicke lang still in der Leitung. Ich merkte, er wollte noch etwas sagen, traute sich aber nicht recht. „Ich weiss schon, Schrage, was du sagen willst. Du möchtest mich an mein Versprechen vor einem Jahr erinnern. Keine Angst, ich hab es nicht vergessen. Nächsten Sonntag werde ich so G-tt will zum Bris deines Sohnes kommen.
Aber ich möchte, dass du eines verstehst:
Ich komme nicht als Bluschewer Rebbe. Ich werde keine Kwitlech nehmen, und keinen Tisch führen. Ich komme diesmal nur wie ein glücklicher Vater und Großvater zur Simche in der eigenen Familie.“
Am Sonntag flogen wir alle nach London. Der Empfang am Flughafen durch die Londoner Jiden war überwältigend. Es war aber nur ein Vorgeschmack. Der Empfang in Schrages Haus war unbeschreiblich. Wie man uns aufgenommen hat in diesem herrlichen Heim mit den feinen, gut erzogenen Kindern, ein Haus voll Sforim, und gleichzeitig ein Haus mit allen Bequemlichkeiten des Lebens – das werde ich nie vergessen. Ich dankte Haschem, dass Er mich zum Boten erwählt hatte, den Vater dieser wunderbaren Familie zu retten.
Die ganze Nacht taten Schrage und ich kein Auge zu.
Wir konnten nicht aufhören, uns die gemeinsamen Erlebnisse der Kriegsjahre ins Gedächtnis zu rufen, und die Wunder von Haschem zur Errettung.
Am frühen Morgen kam Rabbi Aschkensay (der Stanislover Rebbe in London) und bat mich, im Namen aller Londoner Chassidim, noch ein paar Tage in London zu bleiben. Ich habe aber seine Bitte abgelehnt. Ich erklärte ihm die Bedeutung meines Besuchs in London: Ich wollte mir den Verlust meiner eigenen Familie im Krieg vor Augen führen, und die Dankbarkeit für das Überleben von mir und Schrage. Chasal sagen: Wenn jemand ein Waisenkind aufzieht, dann ist es so, wie wenn er es selber geboren hätte. Nur wer dies in seinem eigenen Leben durchgemacht hat, weiss, wieviel geistige Zufriedenheit das bedeutet. Und dieses Gefühl möchte ich mit nichts anderem vermischen, so sehr ich auch die chassidische Gemeinde in London schätze.
An jenem Morgen, als ich mit meinen drei Söhnen, in unseren Streimlechs und Schabbeskleidern, zum Bris ging, da fühlte ich diese geistige Zufriedenheit besonders stark.
Und Rabbi Aschkenasy hat es verstanden, und er drängte mich nicht weiter.
Nach dem Bris brachen wir direkt zum Flughafen auf. Am Abend dawente ich Maariw bereits in meinem Beit Hamidrasch an der 58th-Avenue von Brooklyn.
Die ganze Zeit begleitet mich das Bild des Vaters, der den kleinen Schrage küsst, auf mich zeigt und sagt: Von jetzt an ist dieser Mann dein Vater. Ich hoffe, dass der Wert dieses Kusses, der mich in der Vergangenheit beschützt hat, und mir den grossen Schatz von wundervollen Kindern und Enkelkindern gab, und der unsere Jüdischkeit weiterleben lässt, uns alle auch in Zukunft beschützen wird.“