Der Baal Teschuwa aus dem Burgenland

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Baal Teschuwa

Unsere Geschichte hat mit der Schabbat-Hagadol-Drascha im Vorkriegs-Ungarn zu tun. Diese war damals für alle Torah-Lernenden der Höhepunkt des ganzen Jahres. Die Vorbereitungs-Schiurim dazu begannen gleich nach Purim mit einem feierlichen Eröffnungs-Schiur. In allen Lehrhäusern der Stadt unterbrach man die laufenden Schiurim und beschäftigte sich dreissig Tage lang ausschließlich mit der Vorbereitung auf Schabbat Hagadol (letzter Schabbat vor Pessach).

Das Thema wurde zum Stadtgespräch.

Unsere Geschichte ereignete sich zur Zeit, als Raw Fischel Soifer Row von Budapest war, gegen Ende der 30er Jahre, und wird ausführlich von seinem Sohn Raw Schimon E. Soifer (1906 – 1992) in dessen Sefer erzählt.

Budapest (Hauptstadt von Ungarn) war vor dem 2. Weltkrieg weltweit eine der größten charedischen Gemeinden, mit über 7’000 Mitgliedern (= Familien), über 20 Schuls, und zusätzlich zahlreichen Bote Midroschim. An der Spitze der Gemeinde standen berühmte Rabbanim: Bis 1929 Raw Koppel Reich, nachher Raw Fischel Soifer, und 1942 bis 1944 Raw Jonatan Steiff.

Am Sonntag nach Purim bat mich mein Vater: „Begleite mich bitte zu einem Trauerbesuch an der Boulevard-Straße. Es ist zwar weit, aber ich will zu Fuss gehen, denn das tut meiner Gesundheit gut.“ Ich reichte also dem Vater Hut, Rock und den rabbinischen Stock mit einem Griff aus Elfenbein.

Wir gingen durch die engen Gassen im Quartier der Kazinczy-Schul, wo mein Vater Row war, und kamen auf die breite Boulevard-Straße.

Mein Vater war wie immer in die Tora versunken und redete fast nicht. Hie und da wurde er von Passanten, Juden und Nichtjuden, begrüßt, und grüßte zurück. Als wir an einem der Häuser vorbeikamen, öffnete sich dort die Türe, ein Mann trat auf die Straße und grüßte den Vater. Wie immer grüßte der Vater kurz zurück – aber dann blieb er plötzlich stehen: „Entschuldigung, sind Sie nicht K.P., der vor 40 Jahren mit mir auf der Pressburger Jeschiwe gelernt hatte?“ – „Der Row hat ein gutes Gedächtnis, ich heiße wirklich K.P. und hatte mit Ihnen beim Schewet Soifer (Enkel des Chasam Soifer) in Pressburg gelernt. Ich habe allerdings seither meinem Namen den Doktortitel hinzugefügt und bin nun Arzt für Hautkrankheiten. In diesem Haus hier befindet sich meine Wohnung und die Arztpraxis.“

„Es steht geschrieben“, sagte nun mein Vater, „dass wenn sich zwei Menschen unerwartet treffen, dann hat es eine Bedeutung. Nachdem Haschem uns nach so vielen Jahren wieder zusammengeführt hat, lade ich Sie zur Eröffnung des Schabbat-Hagadol Lernens, die heute abend um sieben im Saal der Chewrat Schass stattfindet, ein. In diesem Jahr wird das Thema „Merika Uschtifa“ (Reinigung und Spülung, Gesetzte des Kascherns) behandelt.“

Dr. K.P. dachte eine Weile nach, murmelte einige unverständliche Worte, und sagte schließlich:

„Eine Einladung von einem so vornehmen Mann wie dem Row höchstpersönlich kann ich nicht ausschlagen. Es wird mir zwar schwer sein, Ihren Ausführungen zu folgen, da ich in den letzten 40 Jahren keine Gemore mehr in die Hand genommen habe. Aber ich werde kommen!“

Während ihrem Gespräch betrachtete ich den Mann. Er war ca. 60 Jahre alt, und seine kleinen blitzenden Augen verrieten Klugheit und Scharfsinn. Als wir weitergegangen waren, erklärte mir mein Vater: „Der Mann kam seinerzeit als junger, siebzehn Jahre alter Schüler nach Pressburg. Innerhalb kurzer Zeit wurde er in der Jeschiwe für seinen Scharfsinn, schnelle Auffassungsgabe und originelle Lernmethode bekannt. Er kam aus dem Burgenland (auch „Schewa Kehillot“ genannt, einer Gegend in Ungarn), was man heute noch an seinem Jiddisch erkennen kann.“

„Nachdem er eineinhalb Jahre fleissig gelernt hatte, verschwand er eines Tages, und niemand wusste wohin. Erst viel später erfuhren wir, dass er aufgehört hatte, Tora zu lernen, und auf einer Universität studierte. Ich wusste nicht, dass er hier in Budapest wohnt. Aber ich sage dir: Er wird heute abend kommen!“

Als mein Vater und ich am Abend den Saal der Chewras Schass betraten, war er bereits überfüllt.

Und tatsächlich konnte ich unter den Anwesenden auch unsern Doktor entdecken. Ich hörte meinem Vater aufmerksam zu, schaute aber immer wieder zu Dr. K.P. hinüber. Zuerst saß er gelangweilt da. Dann aber war es, als entzündete sich in ihm eine Flamme. Nach der Art der Lomdim (Lernenden) fing er an, ganze Sätze vom Schiur mitzusagen, nickte auch immer wieder mit dem Kopf. Am Schluss nahm er ein Blatt Papier und notierte sich etwas. Nach dem eigentlichen Schiur fügte mein Vater noch einen Gedanken hinzu. So wie beim Kaschern von Geräten ist es auch beim Menschen. Es genügt nicht, wenn man sich nur äusserlich „abspült“ und verbessert, man muss sich auch innerlich reinigen.

Nach dem Schiur kamen alle, um dem Row zu danken. Als unser Doktor an der Reihe war, drückte er seine aufrichtige Freude aus, diese tiefen Ausführungen gehört zu haben. Er habe dazu noch einige Bemerkungen, und las sie von seinem Zettel. Mein Vater staunte: „Alle Achtung, mit einer Bemerkung haben sie die Frage des „Birkat Hasewach“ (bahnbrechendes Werk über Kodschim, Erstausgabe 1680) beantwortet. Das nenne ich Kraft der ‚Girse de-Jankusse‘ (Lernen der Jugend)!“ Man dawente Maariw, und wir gingen nach Hause.

Später, als wir beim Abendessen saßen, hörten wir, wie auf der Strasse eine Extra-Zeitung ausgerufen wurde.

Eine Extra-Zeitung gab es damals nur, wenn an diesem Tag etwas wirklich Dramatisches passiert war. Ich ging hinunter auf die Straße, und erfuhr folgende Schreckens-Nachricht: Heute Abend war ein Attentat gegen eine Wahlveranstaltung verübt worden; eine Bombe war explodiert und es hatte Tote und Verletzte gegeben.

Als ich am anderen Morgen meinen Vater, den Row, nach Schul begleitete, sah ich, wie Dr. K.P. nervös vor dem Eingang hin- und herlief. Sobald er den Row kommen sah, lief er auf ihn zu und ergriff völlig aufgewühlt seine beiden Hände. Mit von Tränen erstickter Stimme rief er aus: „Der Row hat mein Leben gerettet !“

Mein Vater schüttelte verwundert den Kopf, aber der Mann erzählte:

„Gewiss haben Sie vom schrecklichen Attentat gehört, das gestern abend gegen die Wahlveranstaltung verübt wurde. Es war keine speziell jüdische Versammlung, aber ich, als angesehener Arzt, hatte eine Einladung erhalten. Alle Plätze im Saal waren numeriert, mein Platz war ganz vorn am Ehrentisch. Hier, schauen Sie, meine Platzkarte. Dann aber traf ich den Row, und entschloss mich schließlich, zum Schiur zu kommen, der um die gleiche Zeit stattfand. Mein Sitz im Saal blieb deshalb leer, und jemand anders setzte sich auf den Stuhl. Die Bombe war unter der Heizung versteckt, nicht weit vom Ehrentisch. Der Mann war auf der Stelle tot!“

Wir waren sprachlos über die wunderbare G-ttliche Fügung, aber mein Vater sagte nach einigen Augenblicken: „Nicht ich habe Sie gerettet, sondern die Tora. Ich war nur der Bote Ihrer Rettung.“ Der Mann nickte und versprach: „Ich werde von jetzt an jeden Tag zum Gemore-Schiur kommen!“

Und er hielt Wort.

Er kehrte zurück zum Lerneifer seiner Jugend und gewöhnte sich wieder an die Atmosphäre im Bes Hamedresch. Und er verblüffte noch oft die Schiur-Teilnehmer mit seinen einfallsreichen Bemerkungen.

Nachwort

Viele Jahre später, nach dem Weltkrieg, besuchte ich den Doktor im Altersheim. Er hatte seine Praxis schon längst aufgegeben, und auch seine Frau war schon gestorben. Ich war gespannt, ob er mich erkennen würde. „Natürlich kenne ich dich, du bist doch der Sohn des Row, und Du kennst die unglaubliche Geschichte vom Eröffnungs-Schiur, damals vor Pessach. Und weisst du – wie dein Vater damals den schweren Rambam auf „Merika Uschtifa“ beantwortet hat, daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Was er aber nachher als Mussar sagte, dass ein Mensch auch sich selber kaschern muss, das weiss ich noch gut – und ich denke noch heute sehr oft darüber nach.“

ENDE

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